Ich wähle ausnahmsweise den Stil der Polemik. Wer das nicht mag und meinen ruhig/sachlichen Stil bevorzugt, den bitte ich, das nicht zu lesen und mich dafür nicht zu beschimpfen.
Es ist eine kollektive Antwort auf viele und lange Debatten, die ich nicht mehr überall führen kann. Es ist zudem für jede einzelne Debatte maßlos übertrieben, wie ich hier reagiere. Ich möchte mich daher bei jedem einzelnen bereits jetzt entschuldigen, der darin – zurecht – eine Überreaktion und – zurecht – den falschen Ton sieht.
Diesen Beipackzettel vorab geschickt: Es geht um die Frage, wie es denn nun weiter gehen soll. Hier meine Antwort:
Es geht in den nächsten zwei bis möglicherweise auch vier Wochen darum, ob hier in Deutschland die Gesundheitsversorgung mehr oder weniger breit zusammenbricht oder ob sie es nicht tut. Momentan sind alle anderen Überlegungen maximal sekundär!
Man kann ableiten, dass es recht glatt verläuft und ich freue mich sehr, wenn mir dieser verbale Ausbruch in ein paar Wochen um die Ohren fliegt – das wäre mir allemal lieber als fürchterliche Bilder aus den Krankenhäusern zu sehen.
Es geht in der Sache zunächst um die Frage, ob die „dicke Hose“, mit der hier so viele Mediziner herumgelaufen sind und die von so vielen biodeutschen Kreisen gerne aufgenommen wurde, nun dem Realitätstest stand hält. Das fängt mal nicht so gut an, denn die ersten Krankenhäuser haben sich schon von der Front abgemeldet und die schnelle Grätsche gemacht – dort ist Codid-19 bereits jetzt zu einem internen Problem geworden, neue Patienten mögen ihr Heil woanders suchen. Die eine oder andere „dicke Hose“ ist also schon zu. Hoffen wir, dass es die Ausnahme und nicht die Regel ist. Denn so fing es nun mal bei „den Italienern“ auch an – und dann „den Madrilenen“ und dann „den Elsässern“ und nun auch noch „den New Yorkern“.
Aber die sind natürlich alle nicht im deutschen Gesundheitssystem beheimatet, alles klar. Wer das „bei uns“ für unmöglich gehalten hatte, sei auf den Nachrichtenstrom verwiesen und den kann ich nur bitten, die eigene schlaue Nase aus dem Gemopper über statistische Vorschulüberlegungen heraus zu nehmen und jetzt mal in den Wind vor UNSERER Tür zu halten. Der ist nämlich da und wir werden mal sehen, ob es ein Sturm wird.
Zugleich werden wir sehen, wie viele weitere sensible Bereiche es trifft. Das sind nicht nur die Krankenhäuser, sondern auch Heime, Pflegeeinrichtungen, größere Praxen – ich sehe die Berichte noch vor mir, die mit hübschen Bildchen verkünden, wie viele harmlose Fälle von Covid-19 doch bereits in den Praxen abgefangen werden, seid ruhig Volk da draußen, wir machen das schon. Ich kann nur hoffen, dass alle diese Einrichtungen nicht auch reihenweise dicht machen müssen – mit der Folge, viel mehr Patienten auf die ebenfalls dicht gemachten Kliniken zu verweisen. Ja, ich hoffe, dass ich hier aus Italien, Spanien, Frankreich, den USA und nicht „von uns“ berichte. Denn „bei uns“ ist es ja ganz anders als sonst wo auf der Welt, schon klar.
Ich fasse es nicht, wie viele Ignoranten aus dem Feld, den Medien und den sozialen Netzen eine rasend schnell exponentiell aufgebaute Welle unklarer Größe auf sich zurollen sehen und das mit den Erfahrungswerten bisheriger Krankheitsverläufe im Winter mal ganz locker abwarten. Ich bitte die vielen Tausend im Gesundheitssystem fieberhaft arbeitenden, sich auf die Welle vorbereitenden, mich nicht falsch zu verstehen: Es gibt euch und ihr seid es, die ich hier und woanders verteidige: Gegen diejenigen, die sagen, sie wollten endlich wieder vor die Tür und die euch im Gesundheitssystem gerne das Problem überlassen wollen. Gegen diejenigen unter euch, die seit Wochen „dicke Hose“ machen und sagen „bei uns“ passiert das alles nicht. Und ja, auch bereits gegen diejenigen, die die allerersten sein werden, die über euch herfallen, wenn es leider nicht so gelassen ablaufen sollte, wie man das „bei uns“ doch erwarten durfte. Schließlich bezahlen „wir“ „euch“ ja dafür, dass „ihr“ „uns“ das Problem von der Hacke haltet.
Ich weiß, dass bei uns die Gesundheitsversorgung, die Zahl der Betten etc. viel besser als in den meisten anderen betroffenen Regionen ist. Ich weiß als Mathematiker aber auch, dass Exponentialkurven sich sehr schnell über lineare Quoten lustig machen. Selbst eine doppelt so gute Gesundheitsversorgung (aka „dicke Hose“) kann bei solchen Prozessen schnell zu einer Nachkommastelle werden.
Ferner geht es auch „bei uns“ um den Unterschied zwischen Vo und Bergamo oder Madrid oder Mulhouse oder Heinsberg oder Berlin. „Die Italiener“ hatten halt das Pech, dass es nicht nur deren „Heinsberg“ traf, sondern größere Orte wie Bergamo. „Die Spanier“ hatten das tragische Pech, dass der größte Ausbruch ausgerechnet in Madrid war. Bei „den Amis“ war es New York. Irgendwie dumm gelaufen, kann „bei uns“ natürlich nicht passieren, dicke Hose und so. Is ja nur Heinsberg. Alles klar.
Heinsberg ist ein Katastrophengebiet, hat das noch keiner gesehen? Wäre Heinsberg Berlin, so hätten wir schon jetzt Bilder wie aus Italien. Kapiert das niemand oder bin ich der Doofe hier? Das teuflische an so einer Exponentialkurve ist leider: Wenn irgendwo ein „Multispreader“-Ereignis vor zwei, drei oder sogar vier Wochen stattgefunden hat (Karneval, Starkbierfest), wird das zu einer Welle, die bereits läuft. Die ist da, man sieht sie nur nicht. Da geht es nicht um die Angemessenheit von Maßnahmen, um deren verfassungsrechtliche Begründung oder gar um deren Lockerung, es geht alleine um die Frage, ob der Deich hält.
Ans Aufräumen und Weitermachen DÜRFEN wir erst denken, wenn wir den Schaden kennen!
Schon klar, in Heinsberg reicht eine Karnevalssitzung, während eine Corona-Party Berlin nicht umwirft, vermutlich auch ein paar Dutzend nicht, aber Hunderte? In Clubs, in Bars, in Discos, in Privatpartys? Wie viele der Heimkehrer aus den Urlaubsregionen waren dabei, wie viele von denen haben in zu vielen Veranstaltungen vor ein paar Wochen gesessen? Ist das einigermaßen verteilt über die Republik oder gibt es einen Großraum, in dem das eine kritische Verteilung überschritten hat. Das wissen wir nicht, deshalb sind diese Regionalkarten so wichtig, deshalb macht es so einen gewaltigen Unterschied, ob das Heinsberg oder Berlin betrifft! Und ja, das hat verdammt viel auch einfach mit Glück zu tun!!
Die Entwicklung bleibt unter der Wahrnehmung, so lange die Heimkehrer das Virus unter ihrer Kohorte verbreitet haben, aber es wird gewaltig schnell sichtbar, wenn es breiter in die Bevölkerung eindringt – und das dauert halt ein paar Wochen, das ist nicht mit einer Inkubationszeit erledigt, wie der geniale Donald Trump es in seinem Kalender ausgerechnet hat! Das ist auch einer der Gründe, weshalb es exponentiell länger dauert, eine nur kurze Welle des „lass uns mal machen“ hinten raus wieder einzufangen. Das ist der Grund, weshalb es (auch) ökonomisch falsch ist, zu spät zu reagieren oder zu früh wieder los zu lassen. Das ist der Grund, weshalb die Ruhe vor dem Sturm und der beginnende Wind uns eines ganz deutlich verkünden: Nichts!
Bevor wir diesen Nebel nicht lichten, geht gar nichts! Vorher können wir alle nur in Deckung gehen und hoffen, dass die meisten Entscheider bei uns rechtzeitig den Arsch in der Hose hatten, uns nach Hause zu schicken. Denen alles Mögliche zu unterstellen, macht mich unendlich wütend. Als ob ein Politiker in unserem System leichtfertig solche Maßnahmen beschließt, als ob die Berater in der Wissenschaft diese doof/dämlichen Belehrungen von Schulstatistikern bräuchten und diese hochnäsigen „das ist aber alles statistisch nicht begründet“ Belehrungen. Als ob die nicht wüssten, dass wir repräsentative Stichprobenuntersuchungen brauchen, um endlich zu wissen, ob wir vor einer Welle in Deckung sind, die wir so gerade noch bewältigen oder eben auch nicht. Ob wir eine Durchseuchung haben, die uns vor weiteren Wellen schützt oder nicht. Ob wir einen Infiziertenstand haben, der absolut noch immer so hoch ist, dass wir den weiter eindämmen müssen, bevor wir loslassen können.
Dass es dazu die notwendigen Antikörpertests erst im Labor und eben nicht in der Fläche gibt? Detailkram, soll sich „die Politik“ halt drum kümmern, ich will endlich raus, die sollen das halt mal hinkriegen, dafür werden sie bezahlt. Und wenn´s dann mehr Fälle von „Alten“ gibt, sollen die Krankenhäuser uns das Problem vom Hals halten. Irgendwie sollen „die“ das lösen und „mich“ mit unbegründeten, überzogenen Maßnahmen mal in Ruhe lassen.
Puh, ich kann allen „Jüngeren“, die nur von „den Alten“ reden, empfehlen: Passt bloß auf, dass ihr in den nächsten Wochen keinen Unfall habt. Seid 5-Mal vorsichtiger auf der Treppe oder beim Sport als sonst. Und seid 500-Mal vorsichtiger bei schweren Unfällen, die könnten euch auf Intensivstationen oder in operative Situationen bringen, wo ihr ganz sicher nicht sein wollt!
Merken „wir“ eigentlich nicht, dass „wir“ die Ursache dafür sind, dass es „im Westen“ eine Krise ist – und „in Asien“ eine Epidemie. Merken „wir“ vielleicht mal, dass eine Epidemie sich nicht wegdelegieren lässt, dass man die nicht in den üblichen Reaktionsmustern „die“ sollen mal ihren Job machen löst, sondern durch eine gemeinsame Eigen- und Fremdverantwortung?
Merken „wir“ endlich, was „wir“ da tun! Dass „wir“ von „den Italienern“ reden, von „den Politikern“ oder falls es richtig nah kommt notfalls von „den Alten“!
Das ist nichts anderes als eine für unsere Gesellschaften leider typische Verlagerung von Problemen auf andere Schultern.
Wer das immer noch anders sieht, schaue doch bitte endlich mal auf die weltweiten Verläufe dieser Pandemie und sage mir, warum es „bei uns“ so vollkommen anders ist?
Wir müssen das gesellschaftlich in den Griff bekommen, sonst helfen uns valide Stichprobenuntersuchungen, Frühwarnsysteme, Handy Apps, Oberflächenstudien in Heinsberg, Atemmasken und ein paar verbotene Veranstaltungen dasselbe, was ich oben über den Wissensstand zwischen Sturm versus laues Lüftchen gesagt habe: Nichts!