derspecht

CoroNews 10.04.2020

Das Thema Orientierung bleibt schwierig und deshalb geht es auch heute nicht nach Südkorea, zu früh, wie ich leider vermuten muss. Es wird wieder ein langer Text, weil Orientierung mehrere Perspektiven erfordert.

Die wichtigste Orientierung zuerst: Ich bedanke mich herzlich und nachdrücklich für die Unterstützung und die Qualität, die hier beigetragen wird. Ich kann längst nicht mehr überall antworten, auch nicht auf die vielen Zuschriften per PM. Ich erhalte herzliche Zustimmung und immer wieder wertvolle Quellenhinweise. Auch wenn ich nicht alles beantworten kann: Es erreicht mich und für die Zustimmung bin ich sehr dankbar. Die Quellen verwende ich so bald wie möglich, den Absender zitiere ich, so dass erkennbar ist, wer es recherchiert hat. Manches kann ich nur in Kommentaren zu älteren Beiträgen verwenden, denn ich möchte hier Orientierung schaffen. Deshalb behalte ich meinen Stil bei und mache lieber einen täglichen Überblick, statt stündlicher Beiträge über dieses oder jenes raus zu jagen. Ausnahmen sind Dinge wie gestern zu Heinsberg.

Dank eurer Mithilfe durch Quellenhinweise und Kommentare gewinnen die Beiträge hier täglich an Substanz und das freut mich sehr. Ich kann nur jedem empfehlen, auch die älteren Beiträge zu verfolgen. Es lohnt sich, ich lese hier von vielen neu gewonnenen Lesern fantastische Inhalte, die ich sonst allenfalls in wissenschaftlichen Primärquellen finde – in den Medien hingegen kaum. Das führt auch zunehmend dazu, dass ich keineswegs auf meine eigene Recherche begrenzt bin, vieles, was ich hier zusammen fasse, kommt von euch. Daher, nochmals: Danke!

Zu der „Akte Heinsberg“ muss ich nicht mehr viel sagen. Dank an Steffi Keudel, Michael Wanhoff, Gerd Weimer und Sammy Hart: Es gibt kritische Berichte der Zeit und der SZ zur Studie sowie einen Antrag der SPD im NRW-Landtag zur Finanzierung der PR-Sache, auf die gestern bereits Marion Otto hingewiesen hatte. Ich bedanke mich hier ausdrücklich nochmals, denn das hat mir heute einige Stunden Recherche erspart!

Herr Laschet bekommt also Gegenwind, was das ZDF leider zumindest bis gestern, die FAZ und viele andere bis heute noch nicht gemerkt haben. Dort darf Herr Streeck noch lächeln. Beklemmend sind die Kommentare unter diesen Berichten, denn sie bestätigen leider meine Bewertung von gestern: Das ist unverantwortliche Politik! Wer dem Beitrag von gestern in den Kommentaren folgt, findet diese Quellen und kann sich selbst ein Bild machen, was für ein unsägliches Chaos Laschet zu verantworten hat.

Ich möchte hier aber wiederholen, dass die Studie damit sinnlosen Schaden nimmt. Sie scheint in einigen Teilen mit der heißen Nadel gestrickt, es werden gerade methodische Fehler aufgedeckt. Auch das ist m.E. dem PR-Charakter geschuldet, denn der Zeitdruck der Sache hat dem Inhalt vermutlich nicht genutzt. In Kooperation mit anderen Wissenschaftlern und mit ein paar Tagen mehr Sorgfalt wäre das vielleicht nicht passiert. Trotzdem ist die Studie gewiss nicht so schlecht, wie sie jetzt gemacht wird – Druck erzeugt Gegendruck, das muss einfach mal enden!

Damit zum Schwerpunkt der heutigen Medienlage: Ich hatte vor ein paar Tagen prognostiziert, dass wir bald eine Wende in den Medien erleben werden. Die beginnt gerade, Berichte über die „Bedrohungslage“ durch Covid-19 nehmen zu, die Zahlendiskussionen und die mehr oder weniger offenen Relativierungsberichte nehmen ab. Heinsberg muss noch durch´s Dorf, dann kippt das endgültig. Die Berichte aus Italien und New York sind in der Tat beklemmend. Ich füge nur zwei unten als Kommentar an. Wir müssen das natürlich zur Kenntnis nehmen, denn hier werden auf schreckliche Weise die erst langsam verstummenden „Bedenken“ zur Sterblichkeit, Langzeitstatistik, Sterbekausalität etc. dramatisch überschrieben. Nur ein Beispiel: Ich beobachte gelegentlich die mittlere Sterblichkeit in New York. Dort hatte ich vorgestern 13% Übersterblichkeit gegenüber dem langjährigen Durchschnitt gesehen, heute sind es 35% und es ist dort noch längst nicht vorbei. Selbst die beigefügten Artikel zeigen nur eine Momentaufnahme, so schlimm sie auch ist.

Wer diesen Begriff nicht kennt: Das ist die Veränderung über ALLE krankheitsbedingten Sterbefälle gegenüber dem langjährigen Durchschnitt. Das heißt also, dass Stand gestern in New York 35% mehr Menschen an irgendeiner Krankheit verstorben sind, als früher. Da es dort kein Erdbeben gab, ist außer dem Auftreten von Covid-19 keine andere Ursache denkbar. Und in der Tat nähert Covid-19 sich in einigen Regionen der Übersterblichkeit, die man sonst nur von Erdbeben kennt!

In diesen Regionen wird übrigens eine andere Diskussion über die Frage, ob die Opfer tatsächlich „an“ oder „mit“ Covid-19 sterben, geführt: Man findet inzwischen sehr viele Menschen, die Zuhause gestorben sind. In New York sind zudem die Testkapazitäten so knapp, dass man gar nicht alle Sterbefälle prüfen kann. So hat jedes Land sein Problem mit den „Dunkelziffern“. Während bei uns Pathologen noch immer auf die Bühne dürfen, um anzuzweifeln, ob wir nicht zu viele Tote zählen, wird das in den betroffenen Regionen genau anders herum gefragt. Die hätten gerne unsere Diskussion, so viel ist wohl klar!

Was ich erschreckenderweise feststelle, ist eine unfassbare Resistenz gegen diese klaren Zahlen. Es gibt immer noch viele, die sich auf die „bei uns alles anders“ These zurückziehen und sagen, bei uns seien immer noch so wenige gestorben. Heinsberg befeuert diesen Unfug auch noch. Als ob es ein anderes Virus bei uns wäre oder wir unentdeckte Wunderheiler in den Krankenhäusern hätten. Ich habe keine Ahnung, wie man das immer noch in Frage stellen kann. Die Ursache für die in der Tat moderaten Zahlen bei uns liegen natürlich ganz alleine in dem konsequenten Lockdown und es muss unser Ziel bleiben, dass Covid-19 in Deutschland gerade keine Übersterblichkeit erzeugt.

Damit zur Lage in unseren Kliniken: Wie immer nenne ich bewusst keine absoluten Zahlen, wer das liebt, wird hier nicht bedient. Aktuell sehen wir einen kleinen Rückgang der beatmeten Patienten auf 75%. Das ist ein Indiz für einen höheren Anteil neuer Fälle. Deren Zahl hat sich in den letzten drei Tagen ungefähr verdoppelt. Die Auslastung der Betten schwankt während des Tages trotzdem stabil zwischen 60% und 70% – und zwar durch eine laufend erhöhte Zahl der verfügbaren Betten. Dahinter steckt eine exzellente (!) logistische Vorbereitung. Einerseits werden offensichtlich bereits frühzeitig Patienten sehr gut über die Kapazitäten verteilt und andererseits kommt die Lieferung von neuen Geräten in Gang, so dass die steigende Zahl der Fälle bisher nicht zu einer steigenden Auslastung führt, weder lokal, noch in der Summe. Wir sollten sehr stolz darauf sein: Es rettet täglich Leben, denn der regional sehr dynamische Anstieg der Fälle hätte zumindest lokal bereits jetzt dazu geführt, dass Patienten nicht mehr an die Versorgung gekommen wären.

Ob wir weiter damit rechnen können, die Kapazitäten und die Neuaufnahmen in Balance zu halten, lässt sich nicht sagen. Dafür spricht, dass wir aus den anfänglichen Verdopplungszahlen mit jedem Tag rauslaufen, dagegen spricht die aus dem Feld gemeldete Tatsache, dass die Behandlungsdauer unter Beatmung sehr lang sein kann. Wir müssen das abwarten. Triage ist auch in Deutschland nicht vom Tisch! Aber eines ist auch klar: Bilder wie in Italien wird es nicht geben, weder relativ, noch absolut. Ich habe derzeit die Hoffnung, dass unsere Zahlen vor der 10.000 abknicken wird und dass wir bei Opfern pro Einwohner ganz weit unten in der Statistik bleiben werden. Für die erste Welle jedenfalls und wenn wir uns von Heinsberg nicht vernebeln lassen, gilt das auch für das ganze Jahr. Länder mit vergleichbarer Bevölkerung sind längst über dieser Marke oder erkennbar auf dem Weg dahin.

An der Stelle kurz doch mal zu aktuellen Zahlen und zur Lesart der logarithmischen Skalen, die ich hier immer anfüge: Schweden meldet derzeit 690 Tote und ich lese immer noch dieselben Vergleiche, wie viele Schweden jährlich in der Badewanne ertrinken (sorry, mal wieder Sarkasmus), das gab es bei uns auch mal, als wir bei 89 Toten lagen. In der logarithmischen Skala von Covid-19 ist die erste Schwelle 100, die zweite 1.000 und die dritte 10.000. Deutschland ist bei ungefähr einem Drittel des letzten Segments und hat damit die Chance, dass die Kurve unter der 10.000 abknickt, weil wir vor einigen Wochen den Lockdown hatten. Das viel kleinere Schweden läuft zudem mit einer steileren Kurve aus dem ersten Sektor gerade heraus, es wird diesen Anstieg frühestens in zwei bis drei Wochen ab jetzt abbremsen können – das wird leider sehr weit in den dritten Sektor führen und ggf. darüber. So kann man diese Daten, die ich hier täglich poste, gerne auch selbst nutzen und vor allem erkennen, dass 900 halt nah an 10.000 ist, wenn man jetzt erst was tut!

Damit zu einer komplizierten letzten Sache: Erstmals hat mein Bigdata-Modell eine Abweichung der Verläufe signalisiert. Ich nutze die beigefügten Daten nicht direkt, ich verarbeite sie selbst, kann das aber leider nicht grafisch aufbereiten. Ich werde das auch nicht tun, weil meine Daten keinerlei wissenschaftliche Grundlage haben. Ich nutze sie für meine Einschätzung und Bewertung der beigefügten Oxford-Daten – damit fahre ich seit Beginn der Sache sehr gut. Mehr werde ich auch nicht tun, sonst erwecke ich den Eindruck, die bessere „Glaskugel“ zu haben. Das dürfen andere gerne machen. Was mein Modell aber leider signalisiert, ist eine längere Latenz zwischen den Infektions- und den Sterbeverläufen. Damit entferne ich mich zunehmend von Markus Breuer, den ich deshalb hier wieder empfehle. Er mag besser liegen als ich – ich wünsche es mir sehr!

Wenn meine Signale stimmen, dauert die Eindämmung der ersten Welle länger als wir es in Asien und in den ersten Phasen bisher beobachten konnten. Das hätte zwei Folgen: Erstens werden die Kurven etwas höher, was ich aber nicht wesentlich erwarte, aber sie werden leider langsamer abknicken, als vor einer Woche erwartet. In einfachen Worten: Es wird nicht wesentlich schlimmer, aber es wird länger dauern. Möglicherweise!

Das sind sehr vorsichtige Andeutungen, dafür sind die Signale in meinen Daten noch zu schwach. Ich sehe aber zugleich, dass die Ministerpräsidenten aus Bayern und Baden Württemberg sich komplett anders positionieren, als Herr Laschet. Ebenso höre ich aus Berlin i.W. Stimmen, die sagen, dass es nachweislich besser wird, dass wir keine große Katastrophe zu befürchten haben, dass wir aber auch noch nicht wissen, wann der richtige Zeitpunkt für eine Lockerung ist. Dazu passt auch, dass Italien trotz der Abschwächung der Kurven die Maßnahmen nochmals verlängert hat, so auch Spanien.

Vielleicht haben die alle ähnliche Signale aus deren Analysen bekommen, was mich am Sinn des Laschet-Vorstoßes, alleine und vorne weg mit so einer dünnen Studie gleich mal auf die große Bühne zu treten, noch mehr zweifeln lässt. Könnte sein, dass in NRW nicht nur der Bauer fällt.

Abschließend der Hinweis als Ökonom: Ich weiß um die Existenzängste, wer hat die nicht. Ich weiß um die Lage der Wirtschaft. Ich bin Aufsichtsrat in einer Gesellschaft, die u.A. mit Bigdata-Analysen ein weltweites Monitoring von Lieferketten betreibt. Was ich hier teilweise an Antworten erhalte, macht mich sprachlos. Die Welt steht still und ich kann das recht gut sehen, ich schaue auf unsere Systeme, ich brauche keine Nachhilfe. Ich weiß aber auch, wie schwer es ist, so ein komplexes System wieder hochzufahren, vor allem aber weiß ich, was passiert, wenn es während dessen wieder runter muss!

Zugleich sehe ich die Mathematik dieser Pandemie glasklar. Wir haben vermutlich im Laufe des Februars bei uns den Aufbau der ersten Welle mit vielleicht 100 Infizierten erlebt. Diese 100 Fälle gelten in der Epidemiologie als kritischer Wert. Ob es Ende Januar, Februar oder Anfang März war – keine Ahnung, müßige Diskussion. Nun sehen wir, wie teuer es ist, die daraus entstehende Welle wieder einzudämmen. Wir sehen in Italien, Spanien, Frankreich, UK, USA, wie viel teurer es ist und wie viel länger es dauert, wenn so eine Welle noch größer wird. Wir werden es auch in Schweden sehen. Wir sehen, wie vergleichsweise günstig es läuft, wenn man es rechtzeitig und hartnäckig macht – Südkorea beispielsweise.

Wir sollten aber die richtigen Schlüsse daraus ziehen! Diese erste Welle müssen wir wirklich „austrocknen“. Wenn wir jetzt auf einer Basis von 1.000, 10.000 oder gar 100.000 Infizierten Fehler machen, können wir die oben genannten Überlegungen zur tollen Jahresstatistik in Deutschland vergessen. Die zweite Welle wäre dann verheerend, die hat ein viel größeres Potenzial als die erste.

Wir sollten ferner die richtige Mathematik für die Ökonomie ableiten, wir sehen es doch schon jetzt. Das viel zähere Abknicken der Kurven im Vergleich zu Asien, zeigt auch ökonomisch die größeren Folgen. Epidemiebekämpfung und Ökonomie stehen nicht im Widerspruch. Die richtige Gleichung sehen wir überall auf dem Planeten: Wer zu spät handelt, zahlt den höchsten Preis. Für eine Lockerung gilt die Logik umgekehrt: Wer zu früh oder zu viel öffnet, zahlt den weit höheren Preis.

Es nutzt nichts, in der Sache eine Nullpreisstrategie zu fahren. Die Hinweise, man müsse den Schaden doch sehen und die Wirtschaft endlich wieder „öffnen“, sind ökonomischer Wahnsinn. Übersetzt heißt das nichts anderes als: Ich will keinen Schaden, also verdreifache ich ihn.

Es wird Lockerungen geben, es gibt einen Weg nach Südkorea, dafür muss weder gestorben, noch der Schaden maximiert werden. Aber der Weg ist eng und heikel, ich folge dabei lieber Berlin als Düsseldorf.

Ich wünsche einen schönen Restnachmittag mit viel Orientierung.

 

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