Heute ist Orientierung kaum möglich, ich versuche mich eher mit etwas Balance.
Wer den verschiedenen Netzwerken folgt, die sich hier verknüpft haben – das meiste ist öffentlich – erkennt, welche Breite die Debatte erreicht hat. Das gefällt mir unverändert sehr gut, weil es den gestern erwähnten gesellschaftlichen Konsens anders nicht geben kann. Ich kann nur erneut ermuntern, das zu lesen und zugleich wahrzunehmen, wie Medienberichte, Quellen und Meinungen bei vielen Menschen ankommen. Es ging mir hier niemals darum, eine weitere Echokammer in Facebook aufzumachen – daran wäre ich in der Tat gescheitert
Also ganz egal, welcher Meinung man ist, der Kontrast zu anderen ist wertvoll. Leseempfehlung, ich mache das täglich.
Statt einer längeren Zusammenfassung finden sich wegen dieser Breite heute einige Kommentare mehr unter meinem Beitrag. Das dominierende Thema ist leider immer noch das der Daten, Statistiken, Sterblichkeiten etc. Ich muss dabei heute mal Pause machen, Selbstschutz – geht nicht jeden Tag. Vor allem Markus Breuer hat dazu wieder einiges gemacht, ich verweise auf ihn. Ferner die für mich dramatischste Entwicklung in den USA mit aktuellen Daten.
Zur Frage, welche Rolle das Gesundheitssystem spielt oder in der weiteren Strategie spielen kann, gibt es neben einigen Kommentaren zu den Beiträgen von gestern einen sehr gelungenen von Jürgen Gundlach, den ich mit dessen Erlaubnis unten zitiere. Nur kurz: Erstens sind die Sterbefälle „nur“ die Spitze des Eisbergs und zweitens generiert Covid-19 so schnell so viele Fälle, dass die Kapazität des Gesundheitssystems kein relevanter Parameter bei der Pandemie-Strategie sein kann. Dazu auch eine Studie aus London mit einem weltweiten Vergleich der Strategien, auch hier ist das Gesundheitssystem nur ein Parameter von vielen. In diesem Zusammenhang ein Beitrag aus der SZ über eine Intensivmedizinerin, die bestätigt, dass auch „bei uns“ immer noch die Hälfte der beatmeten Patienten verstirbt.
Zum Thema Grundrechte, staatliche Eingriffe etc. ging es heute ebenfalls weiter rund. Ich hatte vor einigen Tagen über das weltweit bestehende Risiko von Staatskrisen berichtet, in diesem Zusammenhang auch auf die Bots und Hacker, die sich sogar bis zu mir bemerkbar machen. Leider lesen das offensichtlich die wenigsten, denn das wurde mir woanders nun als Verschwörungstheorie ausgelegt – dabei hatte ich mich genau von diesem Begriff distanziert, sehr wohl aber einige Inhalte genannt, die mich erreichten: Namentlich Aufrufe rechtsextremer Kreise aus den USA, Trump solle Covid-19 zum Staatsstreich nutzen. Dazu hänge ich ohne weitere Wertung einen Beitrag zur aktuellen Diskussion über die Kompetenzen des US-Präsidenten an. Auch diese Dimension ist leider eine, die wir bei Covid-19 sehen müssen.
Schließlich werden die uns beratenden „Experten“ weiter skeptisch diskutiert, das finde ich natürlich bestens, erkenne aber leider oft, dass man sich halt den sucht, der die eigene Meinung, Hoffnung oder Wünsche am besten abbildet. Dazu habe ich unten auch ein paar Leseempfehlungen.
Damit zum Thema Balance – nicht weniger schwierig. Ich hatte zu Beginn der Epidemie bei uns eher die Wahrnehmung von Angst und Panik. Entsprechend habe ich hier auch de-eskalierend geschrieben. Zu meiner Überraschung scheint mir bis heute das Thema aber eher unterschätzt zu werden, entsprechend habe ich meine Argumentationen etwas geändert – nicht jedoch meine Meinung, meinen persönlichen Umgang mit Covid-19 ohnehin nicht. Jetzt werde ich überall gefragt, wo ich einzuordnen sei, wie ich das persönlich sehe.
Ich halte das für reichlich unwichtig, aber wenn es denn so interessiert: Ich hatte selbst eine sehr schwere Influenza mit 27 Jahren, mir ist sogar ein Zahn ausgefallen und es kam zu einer leichten Herzmuskelentzündung. Im Krankenhaus war ich nicht, es dauerte acht Wochen, bis ich halbwegs arbeiten konnte und ein Jahr, bis ich wieder komplett fit war. Nur zur Warnung an Jüngere: Mein Krankheitsverlauf wurde medizinisch als „mittelschwer ohne wesentliche Komplikationen“ eingestuft. Später hatte ich vier schwere WS-Operationen mit Sterberisiken, die nicht unerheblich waren, auf „Empfehlung“ meiner Kinder Windpocken und Pfeiffer´sches Drüsenfieber (für Erwachsene nur halb komisch und gar nicht lustig) sowie später dann die Schweinegrippe. Ich werde wegen Covid-19 mein Leben nicht einstellen, um es zu bewahren. Sollte mein Lieblingsitaliener wieder öffnen, bin ich sofort dabei. Falls ich Covid-19 bekommen sollte, habe ich die finstere Absicht, es zu überleben – ich will Facebook ja noch vollschreiben.
Was für mich aber keinesfalls in Frage kommt: Jemanden anzustecken oder zur Verbreitung beizutragen! Wenn Covid-19 mich erwischt, muss bei mir Schluss sein. Bereits seit dem 3. März besuche ich keine „Risikogruppen“ mehr in meinem Umfeld, das tut sehr weh. Aber dafür brauche ich keine staatlichen Hinweise. Bei den letzten Präsenzveranstaltungen an der Uni habe ich bereits Abstand gehalten, der Mundschutz liegt bereit, den werde ich überall tragen, wo ich anderen in geschlossenen Räumen begegne. Sollte ich irgendwelche Symptome verspüren oder von einem Risikokontakt erfahren, gehe ich konsequent in Quarantäne, dazu brauche ich keinen Anruf vom Gesundheitsamt.
Ich nehme mir also die Freiheit, über mein eigenes Risiko mit Covid-19 selbst zu bestimmen und ich werde alles tun, jedem anderen diese Freiheit auch zu lassen. So ist das mit der Freiheit nach meinem Verständnis gedacht. Wenn wir das alle so machen, kann jeder mit seiner eigenen Angst frei umgehen – und solange wir nicht in Ländern wie den USA leben, besteht zur Panik ohnehin kein Anlass.
Damit zu den Zahlen: Meine Meinung, dass „R<1“ die einzig valide Strategie ist, hat sich nicht geändert. Wie man die am besten erreicht, welche Lebensbereiche wir dazu einschränken müssen und welche Hilfsmittel (Tracking, Reporting, Testing) uns fehlen, um von den – ohne jeden Zweifel übertriebenen – Maximalmaßnahmen herunter zu kommen, ist aus meiner Sicht leider unbeantwortet. Insofern sehe ich es sehr skeptisch, dass bereits jetzt einige Dinge wieder zugelassen werden, denn wir haben immer noch „R>1“.
Heute anbei daher die Infiziertenverläufe, also der Frühindikator für die kommenden Wochen. Die sind in Folge der Einschränkungen in Europa und auch in den USA rückläufig, aber weder lange genug, noch flach genug, um Auflockerungen zu begründen, sofern es keine validen Erkenntnisse gibt, dass man nur Dinge zulässt, die geringe Übertragungswahrscheinlichkeiten haben – oder dass man sich auf Regionen begrenzt, in denen die Ausbreitung gering ist. Die steilsten Kurven haben UK und die USA. Hier müsste man eher über eine Verschärfung nachdenken oder zusätzliche, weit effektivere Maßnahmen finden.
Wie oft erwähnt: Wenn dieses Lockerungstheater uns nun eine Verschlechterung bringt, dauert es nur länger und wird richtig zäh. Eine große zweite Welle sehe ich noch nicht, dafür stehen wir überall noch genug auf der Bremse, aber es könnte trotzdem ein Fehler sein, der den Schritt zu mehr Normalität nur weiter nach hinten legt. Hoffentlich bereuen wir im Sommer nicht, was wir im Frühling getan haben.
Daher für die Freunde von Bierdeckeln ein Vorschlag: Stell dir vor, es ist Exit und keiner geht raus. Wir müssen uns doch nicht alles vom Staat vorschreiben lassen – habe ich hier so oft gehört?!