Heute mal eine schöne Geschichte, es geht nach Neuseeland. Mir ist nach launigem Plaudern.
Wer dickes Brett, Ernsthaftigkeit und wieder gute Debatte, nebst wertvollen Quellen sucht: Kommentare unter „dies und das“ von gestern lesen, ich verlinke es unten wieder. Man wird es ahnen: Dies und das ist fortzusetzen, aber nicht heute. Lasst uns auch mal entspannt plaudern und Geschichten erzählen.
Das Hintergrundbild für mein Profil ist eine Quelle aus Neuseeland, genauer aus der Golden Bay. Dort wird Trinkwasser von absoluter Reinheit aus dem Boden gepresst, was ein Spiel der Farben, Muster und des Lichts erzeugt, dem man stundenlang einfach nur zuschauen kann – Seele baumeln lassen. Mehr als zuschauen muss nicht sein, geht auch nicht, streng geschützt, wie sehr vieles dort.
Mein Profilbildchen ist ein Straßenschild, das man oft sieht: Macht mal langsam, Pinguine könnten den Weg kreuzen, steht darauf – und das tun sie auch oft, die Pinguine. Oder Robben, das kann auch sein. Manchmal sind es auch 10.000 durchgeknallte Schafe, wenn so eine Herde typischer Größe dem Hirten panisch ausgebüxt ist. Man darf dann seinen Tagesplan leicht korrigieren, denn einmal in so etwas geraten, dauert es ein paar Stündchen, bis man wieder weiter kommt. Langweilig ist das nicht, sehr lehrreich, wie ein Hirte mit zwei Helfern und vier Hunden so eine Menge wieder einfängt – für den ist es anstrengender, klappt aber erstaunlicherweise.
Sie kennen sich aus mit Herden, die Neuseeländer. Ich war und bin immer noch ernsthaft versucht, dort nicht nur ein paar Monate sondern wesentliche Teile des Lebens zu verbringen. Die Sprachbarriere ist leider hoch, denn Englisch ist Amtssprache – und manche verstehen das sogar. Beim Sprechen klingt es aber erstens anders und zweitens noch mal anders, will heißen: Unterschiedlich! Wenn man mit dem einen eine gute Unterhaltung hinbekommen hat, heißt das für den nächsten genau gar nichts. Ich bin über die Barrieren ohne Hemmungen schnell hinweg gekommen, weil sie mein besch…eidenes Englisch für das eines Australiers halten – macht Mut, denn Australier verhungern dort in der Regel nicht, für´s richtige Essen im Restaurant wird es schon reichen.
Als Experte für statistische Verteilungen kann man an der Sprache ebenfalls verzweifeln: Sie nennen sich sehr stolz selbst gerne „Kiwis“, aber die eine Hälfte spricht das exakt so aus, wie wir, die andere sagt so ungefähr „Keiwei“. Das merkwürdige ist, dass man als Gast immer eine der Varianten wählt, die gerade auf einen trifft, der es anders ausspricht. Statistisch eigentlich unmöglich. Ebenso unmöglich ist, dass man korrigiert wird – macht ein Kiwi nicht, liegt ihnen nicht, jeder darf, wie er will, deutlich liberaler eingestellt, als Europäer – und trotzdem sind sie ein viel besseres Kollektiv.
Was dort bei der Einreise bereits auffällt, ist die Liebe zur Natur. Man muss einen Zettel ausfüllen, wie bei den meisten Ländern mit einer Einreisekontrolle. Sind aber aber merkwürdige Fragen, beispielsweise nach Wanderschuhen. Bei der Einreise wurde tatsächlich bei allen das Gepäck sorgfältig durchsucht. Anders als beispielsweise bei den serviceorientiertes US-Customers kann man mit den Kiwis an der Stelle ein wenig plaudern und man erfährt: Sie wollen nicht, dass durch Erdreste an Wanderschuhen, Zelten, Rucksäcken etc. Schädlinge ins Land kommen, die es dort bisher nicht gibt. So wurden auch meine Schuhe entsprechend geprüft. Auf die Frage, was man mit verschmutzten macht, wurde die Tür zu einer Anlage geöffnet: Wir waschen sie natürlich, so die kurze Antwort. Meine auch, ich war zu nachlässig. Ein US-Customer machte mich bei zu spät abgeholtem Gepäck auf die dort übliche Vorgehensweise aufmerksam: Wir schreddern es. Zu den Launen dieses Landes ein kleines Video anbei.
Nach der Einreise beginnt für den Gast die Durchreise und man merkt sehr schnell: Es ist verdammt schwer, nicht ständig unelegant mit weit geöffnetem Mund durch die Gegend zu fahren oder weit besser: Zu wandern. Die Natur dort ist Weltklasse, einmalige, exklusive, unerreichte, überragende Weltklasse. Ich weiß, dass ich immer zu viel labere, dasselbe schreibe und mich dauernd wiederhole, aber man glaube mir: Es wirklich sehr schön da, schöner als überall woanders, Weltklasse halt. Schon mal bei 30 Grad durch einen Regenwald gewandert, in dem Warnschilder vor Lawinen stehen? Dass die Sinn machen, sieht man am Ende des – einmaligen, schönen … – Wanderwegs, der an einem gigantischen Gletschergebiet endet. Je nach Wind, Regenbildung etc. kann da auch mal kurz eine Lawine abgehen. Es ist wirklich einmalig, schön, unerreicht – schon gut, schon gut, ich mach mal weiter.
Der zweite Grund, Neuseeland zu lieben, sind die Menschen dort. Die sind überwiegend einfach nur Weltklasse, einmalige, exklusive … naja, schon klar. Ich führe es auf deren Naturverständnis zurück und wenn man dort in dieser Natur – hatte ich mich dazu schon geäußert? – lebt, sie liebt, sie akzeptiert, das kann wohl prägend sein.
Es gibt dort im Zentrum der Nordinsel einen kleinen Fluss, dessen Quelle über aktives Vulkangestein gepresst wird. Das Wasser kommt mit 100 Grad Celsius aus dem Boden und fließt über ca. 10km in einen größeren Fluss. An der Mündung hat es immer noch 40 Grad. Man nähert sich dieser Quelle über eine Ebene, sieht am Horizont grüne Wiesen mit weidenden Schafen und dazwischen einen langen Strang von aufsteigendem Wasserdampf. In Naturbecken wird dieses Wasser auf 35 Grad herunter gekühlt, dort kann man baden. Es besteht aus allen möglichen Mineralien und Metallen – ein leicht braunes, aber nicht schlecht riechendes Wasser. Bevorzugt wird es von Menschen besucht, die sich vor Schmerzen kaum bewegen können. Mir ging es beim zweiten Besuch auch nicht viel besser. In diesem Wasser aber tut nichts mehr weh, man ist sofort schmerzfrei. So entspannte Gesichter, glückliche Menschen und tolle Gespräche wie dort – hatte ich selten. Hatte ich schon etwas zur Natur in Neuseeland und den Menschen gesagt? Weltklasse, ich wollte es nur mal erwähnen.
Dass Natur auch grausam sein kann, wissen die Kiwis. Christchurch habe ich zwei Jahre nach dem Erdbeben besucht. Der pure Horror, diese Zerstörung und den Kampf der Menschen zu sehen. Viele lebten und leben auf einem Campingplatz vor der Stadt, in kärglichen Wohnwagen, können sich so gerade ernähren. „Downtown“ gehen sie nicht, die Zerstörung tut zu weh, lieber an den nahe gelegenen Pazifik-Strand zum Surfen oder 30km weiter zum Skifahren – geht beides, fast jeden Tag. Hatte ich zur Natur dort schon was gesagt? Vor dem Rückflug hatte ich einer Frau, die in so einem erbärmlichen Ding lebte, meine Lebensmittelreste angeboten. Sie fragte zuerst, ob ich die auch sicher entbehren könne. Als ich das bejahte sagte sie, eine Baracke weitere lebe eine Familie, die brauche es dringender. Hatte ich zu den Menschen schon etwas gesagt?
Was für eine romantische Geschichte in Zeiten von Covid-19. Schön, oder?
Hat natürlich einen Zusammenhang, man ahnt es vermutlich. Aber vorher noch ein wenig zur Organisation des Staates: Man könnte es als Organisation der Selbstverantwortung bezeichnen. Es gibt kein sehr umfassendes Sozialsystem. Keinen Kündigungsschutz, keine Krankenversicherung als Pflicht, keine Arbeitslosenversicherung etc. etc. Entsprechend gering sind die Steuern und so etwas wie Sozialabgaben gibt es kaum. Der Staat springt aber beispielsweise bei Gesundheitskosten ein, sofern man die selbst nicht mehr tragen kann. Auch bei Unfällen wird alles bezahlt – aus Steuermitteln. Spannend – oder? Es gibt dort in diesem naturnah lebenden Volk keine „lean back“-Mentalität, sie wird jedenfalls nicht gefördert und sie ist bei den Kiwis auch nicht beliebt. Interessant ist auch, wie sie es mit Natur und Wirtschaft so halten: Die wichtigste Einkommensquelle des Landes ist der Tourismus. Die mächtigste Behörde des Landes ist aber das Naturschutzministerium. Dieses hat so ca. zwölf Abteilungen, eine davon ist die nationale Tourismusbehörde. Klare Ansage!
So auch an Covid-19. Man sollte noch wissen, dass Neuseeland als ehemalige UK-Kolonie sehr geprägt ist durch englische Strukturen. Das Wahlrecht und das daraus doch sehr klar hervorgehende System zweier Parteien ist ähnlich. Daher wird dort politisch enorm gestritten und gekesselt, es gibt immer wieder den Wechsel von der einen in die andere Richtung und in der Öffentlichkeit ist Polarisierung vollkommen normal. Man unterstellt dem jeweils anderen stets, am Untergang des Landes zu arbeiten – geht dann halt ein Bier trinken. Das ist übrigens auch Weltklasse, liegt unter anderem an dem Wasser dort, das bei der Natur … ich weiß, komm mal zur Sache hier. (Der Weinbau ist übrigens auch …)
In deutschen Medien ist Neuseeland heute so prominent vertreten, weil das Land gerade den „Sieg über Covid-19“ verkündet hat und wie so oft, wird mehr Unfug als alles andere berichtet. So steht zu lesen, das Land sei eine Insel, spät betroffen, habe es einfacher gehabt und wegen seiner wirtschaftlichen Strukturen sei es besser aufgestellt. What???
Das Land hat pro Jahr Gäste aus aller Welt in Höhe der halben Bevölkerung. In Deutschland müssten dazu 40 Millionen Touristen unterwegs sein. Die größte Besuchergruppe kommt aus China. Der größte Erwerbszweig ist der Tourismus, der zweite der Export landwirtschaftlicher Produkte, die größte Belastung der Import aller möglichen industriellen Produkte, weil sie dort nicht hergestellt werden. Das Wirtschaftssystem, die vergleichsweise geringen Einkommens- und Vermögenswerte sowohl des Staates als auch der Bürger, das fehlende Sozialsystem, die akzeptierte Eigenverantwortung, die Selbstversorgung des einzelnen – kaum ein Land in den westlichen Kulturen ist so schlecht aufgestellt. Sogar die USA sind besser dran, denn dort gibt es zwar eine brutale Ungleichheit, aber es gibt auch einen gewaltigen Reichtum.
Was aber bei der Erkenntnis, dass Covid-19 als Pandemie auch Neuseeland erreichen werde, passierte, ist für mich eine Weltklasseleistung in Sachen Menschen mit Herz, Menschen mit Verstand und Menschen mit Verantwortung. Die Regierungschefin Ardern hielt eine Regierungserklärung, die zusammengefasst ungefähr lautet: Ein bisschen Epidemie gibt es nicht. Man tritt sie aus oder man leidet lange. Ihr Plan sei Austreten, für etwas anderes stehe sie nicht zur Verfügung. Man könne sie über das Parlament oder auf dem Rechtsweg stoppen und rauswerfen, aber nicht von ihrem Plan abbringen. Der Plan werde teuer, aber er sei der billigste. Punkt.
Ist das demokratisch, rechtskonform, kann man das so machen? Ich halte das für demokratische Führungsstärke – es ist keine Aushebelung von Verfassungsorganen. Das Parlamente billigte den Plan, der wird seitdem exekutiert und es wird im Land noch lauter gestritten als bei uns – aber die Kiwis halten sich an den Plan, auch die, die dagegen sind. Auch die, die leiden. Es gibt dort jetzt 21% Arbeitslosigkeit, der Tourismus steht, es wird gestritten, wie man den wieder hochfahren kann, Erntehelfer für die Landwirtschaft fehlen, Absatzmärkte sind down. Die Kiwis sind wirtschaftlich fürchterlich getroffen, sie haben viel weniger Vermögen und Substanz als wir – aber sie werden das schaffen, da bin ich sicher. Sie werden streiten, sie werden schimpfen – aber sie werden gemeinsam handeln.
Nur, um das gegenüber unserem erbärmlichen Theater einzuordnen: Es gibt dort einen mehrstufigen Epidemieplan. Ardern hatte Stufe vier ausgerufen und die war deutlich härter als das, was in Spanien lief – Militärfahrzeuge brauchte es dafür nicht, die gibt es in Neuseeland übrigens fast nicht. Auf den meisten Webseiten des Landes steht oben, was Stufe vier bedeutet und es gibt einen einheitlichen Bericht über den Stand der Epidemie. Es gibt dort keine Zahlendiskussion, es gibt aber heftigen Streit, ob das harte Vorgehen erforderlich ist. Verstöße gibt es selten, Streit jeden Tag.
Während der Epidemie infizierten sich in Neuseeland 1.122 Menschen, 19 starben, Einwohner ca. 7,5 Millionen, Auckland größtes Ballungszentrum mit fast 3 Millionen im weiteren Umkreis. Alles da für Covid-19, keine falsche Vorstellung. Da die Testkapazität recht gut ist und man so schnell reagierte, ist die Dunkelziffer vermutlich sehr gering. Nun hat Ardern verkündet, die Epidemie sei gebrochen, man könne auf Stufe 3 heruntergehen und sie hoffe, dass es nicht wieder zu vier komme, denn es habe leider gestern immer noch eine Neuinfektion im Land gegeben. EINE!
Stufe 3 entspricht übrigens recht genau dem, was wir hier Lockdown nennen – wobei die Schulen dort jetzt wieder geöffnet werden. Covid-19 tritt man aus oder man leidet lang. Neuseeland hat sich für einen brutalen Kampf entschieden, zahlt dafür einen traurigen Preis und ist natürlich keineswegs sicher, denn auch dort wollen nun gewisse Kreise den Tourismus wieder zulassen. Ardern nicht, sie bleibt hart und sagt, bis zur Entwicklung eines Impfstoffs bleibe Neuseeland eine Insel.
Bin gespannt, wie es dort weiter geht. Hatte ich schon erkennen lassen, wie beeindruckt ich bin – wie ein deutlich ärmeres und wirtschaftlich schlechter aufgestelltes Volk das geregelt hat, wie es Streit von kollektivem Handeln trennt, wie es Demokratie lebt, ohne Leben zu gefährden, wie große Teile der Gesellschaft ihre Interessen äußern, aber nicht danach handeln. Wollte es nur noch mal erwähnen.
Zu den Zahlen: Wir sehen weltweit überwiegend zwar Lockerungsdiskussionen, aber gegenteilige Maßnahmen. Überwiegend wird sogar bereits bis in den Herbst hinein verlängert. Ich sage das auch mit Hinweis auf meine gestrigen Erläuterungen zur Bedeutung der Weltmärkte für unsere Wirtschaft. Wir sollten uns überlegen, was wir mit unserer „Exit-Debatte“ gewinnen und verlieren können. Wir sehen ferner weltweit ein weiteres zähes Abebben der ersten Welle. Ich fürchte, dass sich überall die Opferzahlen alleine aus den bisher Infizierten noch mal verdoppeln (Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland) bis zu vervierfachen (USA) werden. Was an immer noch neuen Infizierten hinzukommt, erhöht diese Zahlen weiter. In allen Ländern mit Gegenmaßnahmen geht das Wachstum der Neuinfektionen zurück, aber es geht eben nicht auf Null, so dass Covid-19 sich weiter durch die Gesellschaft frisst. Es wird also bis zum Herbst nicht mehr in diesen stark steigenden Kurven zu Opfern kommen, aber es werden weiter pro Quartal je nach Größe der Bevölkerung von 10.000 bis zu 100.000 sein. Sofern Exit-Orgien hinzu kommen: Alles offen.
Epidemiebekämpfung als Wellenreiten ist eine teure Dauerqual, aber es sieht so aus, dass die meisten westlichen Gesellschaften einfach zu dumm sind, es besser zu machen. Auch wir.