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Brief an einen Freund

Lieber Freund,

ich kann bestens nachvollziehen, dass du in dem öffentlichen Geläut und Gejammer ohne eigenes Studium von Primärquellen keine Orientierung mehr findest. Mir ging es genau so und aus verschiedenen Gründen bin ich in die Untiefen eingestiegen. Gerne meine Zusammenfassung des Hobby-Studiums der letzten zwei Monate.

Covid-19 ist keine Lungenkrankheit, sondern eher eine Gefäßerkrankung, die viele Organe befällt und schädigt. Zur Einschätzung der Gefährlichkeit der Erkrankung ist für viele die Letalität maßgeblich, leider auch unter Medizinern eine sehr weit verbreitete Sicht. Das ist ein nett ausgedrückt verkürztes, ehrlicher ausgedrückt strunzdämliches Denken. Tatsächlich ist das Virus nicht sehr tödlich, die Letalität liegt wohl in unseren Gesellschaften (Alter, Vorbelastung) bei allgemein ca. 0,5%.

Welche Rolle dabei das Gesundheitssystem spielt, ist noch weitgehend unklar. Auch hier herrscht insbesondere in Deutschland eine Art „dicke Hose“-Denke, die ich ebenfalls verkürzt nennen möchte, denn es gibt durchaus nachvollziehbare Überlegungen, dass das Gesundheitssystem den Krankheitsverlauf allenfalls mildernd begleiten kann. Selbst die so wichtig erachtete Beatmung muss man relativieren, weil sie nur zwischen 40% und 60% der Patienten überleben. Welchen therapeutischen, gar heilenden Einfluss die derzeit möglichen Behandlungen überhaupt haben, muss sich noch herausstellen. Ich halte den Effekt für weitgehend überschätzt und jede Strategie, die darauf abzielt, die Krankheitsfälle anhand der Kapazität des Gesundheitssystems auszurichten, ist schlicht unbegründet und verfehlt.

Das ist keine Kritik am Gesundheitssystem, denn dort wird an der Front aufopferungsvoll um jeden Menschen gekämpft, aber mit stumpfen Waffen und teilweise hilflos. Es widert mich an, wenn in Talkrunden, Politikersprech oder professoral distanzierten Papieren auf die Kapazitäten hingewiesen wird. Was ich von der Front höre – und da höre ich viel – ist einheitlich der Wunsch, diese Krankheit vor den Krankenhäusern zu stoppen und nicht darin. Dafür nimmt sie in den Krankenhäusern einfach viel zu oft ihren Lauf, ohne dass man es weiter beeinflussen kann. Kein Mediziner oder Betreuer, der diese sich häufenden schweren Verläufe mehr oder weniger hilflos begleiten musste, wünscht sich auch nur einen weiteren davon.

Hinzu kommt, dass das Gesundheitssystem selbst durch Covid-19 an der Kante steht – nicht nur wegen der hohen Fallzahlen und der Erkrankten selbst, wegen dieses elenden Sterbens, dem man hilflos zusehen muss. Das Virus ist innerhalb von Krankenhäusern, aber auch nahezu allen anderen stationären wie ambulanten Einrichtungen des Gesundheitssystems nicht zu bändigen. Hygienemaßnahmen, Schutzkleidung, spezielle Masken – es ist ein fürchterlicher Kampf an allen Fronten, der notwendig ist, aber nirgendwo hinreichend, denn Infektionsraten beim Personal sind überdurchschnittlich hoch. Das fängt gerade erst an, denn in Deutschland ist noch nicht viel passiert.

Das wird erst richtig erkennbar, wenn die derzeit ausgesetzten Behandlungen mit hohem physischen Kontakt in vollem Umfang wieder aufgenommen werden. Das muss natürlich passieren, es kann ja nicht das ganze System stehen bleiben, die Kollateralschäden bei allen Erkrankten wären furchtbar. Aber die Öffnung von Leistungen des Gesundheitssystems sollten wir mal hübsch von Biergärten, Gaststätten und Konsumtempeln trennen. Das Gesundheitssystem kann nicht der Besen für das gesellschaftliche Versagen sein, die Krankheit einzudämmen. Es hat ganz im Gegenteil jeden Anspruch, dass diese Konsum- und Partygesellschaft Covid-19 aus dem Gesundheitssystem so weit wie möglich raus hält.

Mir wird daher kotzübel, wenn ich Ärzte welcher Art auch immer daherreden höre, die einen schweren Covid-19-Fall noch nie gesehen haben. Nicht selten sind das exakt dieselben, die sagen, man müsse so eine Krankheit erst mal länger beobachten und bewerten, bevor man dazu etwas sagen könne. Ja, dann sollen sie doch bitte nichts dazu sagen, aber sie tun das Gegenteil: Die These lautet immer, dass die Gefährlichkeit erst nachzuweisen sei, vorher gilt die Krankheit wohl bei vielen akademisch/medizinischen Leerköpfen als per se mal harmlos – und wenn man dann als praktischer Arzt vor Ort ein paar harmlose Verläufe erlebt hat, nährt man gerne Verschwörungsthesen von nebenan. Dabei gibt es genug Daten und Erfahrungen aus aller Welt, wenn man schon reklamiert, man müsse sich das genauer anschauen, dann bitte schön, leite man es doch nicht aus seinem eigenen Vorgarten ab.

Damit zum nächsten Irrglauben: Bei uns ist alles anders. So ein Quatsch. Wir waren bei uns auf ca. 70% der zudem vorher massiv hochgefahrenen Beatmungskapazitäten. Bei einer Erkrankung, die sich anfangs – auch bei uns! – alle zwei bis drei Tage verdoppelte, war das eine Punktlandung. Nur ein bis zwei Wochen später den Lockdown und wir wären >140% rausgekommen – Triage wäre auch bei uns notwendig gewesen. Das ist aber nicht mal entscheidend, denn ich glaube tatsächlich, dass man in Italien, Spanien, Frankreich, UK, New York recht gut einschätzen konnte, welche Patienten man ohne Behandlung sterben lässt. Viele wären davon wohl nicht zu retten gewesen. Die Schweden machen das ganz geschickt, die lassen einfach ungezählt in Seniorenheimen und auch in Krankenhäusern bei anderen Diagnosen (Krebs, Herz/Kreislauf) eingelieferten ohne Covid-19 Test sterben. So kann man schon mal einen Teil etwas diskreter „abräumen“.

Die deutlich höheren Opferzahlen in vielen Ländern sind nur teilweise durch den Kollaps des Gesundheitssystem verursacht worden. Der maßgebliche und alles überragende Faktor ist die Breite der Infektionsbasis, die dort innerhalb von ca. zwei Monaten auf regional vermutlich bis zu 30% der Bevölkerung hochgeschossen ist. Weitere Faktoren sind das unkontrollierte Eindringen in sensible Bereiche (Seniorenheime, hygienisch schlecht organisierte Krankenhäuser) sowie insbesondere in New York soziale Strukturen in Ortsteilen wie Harlem mit Obdachlosenheimen, unerträglichen Wohnsiedlungen, wirtschaftlich/sozial kaum möglicher Distanzierung etc. Hinzu kommen vermutlich unterschiedliche Vorbelastungen bei der Bevölkerung – Adipositas hat in den USA eine andere Bedeutung als bei uns. Das ist alles richtig, das und viele weitere Umstände (Tourismus, Fußball, Konzerte) führte in diesen Ländern dazu, dass die Ausbreitung noch schneller lief und das Virus die gefährdeten Menschen schneller sowie von der Zahl her mehr finden konnte.

Wir werden vermutlich nach dieser Pandemie recht gut feststellen können, dass die Letalität mehr schwankt, als ich es eingangs nannte. Die mag sogar bis zu Faktor zwei oder gar drei höher sein, wenn das Gesundheitssystem komplett kollabiert, also kaum noch Behandlungen möglich sind, wenn sensible Bereiche gar nicht mehr schützbar sind und wenn die gesundheitliche Situation sowie die Altersstruktur der Gesellschaft besonders ungünstig sind. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs – alle reden nur über Leichen und der Optimierung dieser Zahl. Eine ebenso strunzdämliche Diskussion.

Die weltweiten Daten zeigen einigermaßen stabil, dass ca. 70% der Krankheitsverläufe asymptomatisch bis mild verlaufen. Diese Menschen fallen also nicht mal krank aus, sie spüren teilweise nichts, ggf. kleinere Einschränkungen. Das wird gerne als besonderes Merkmal für die Harmlosigkeit herausgestellt, dabei ist genau das eine besondere und spezifische Gefahr von Covid-19, denn es macht die Krankheit so unsichtbar und so schnell. Zugleich weiß man, dass Infizierte bereits ab dem zweiten Tag Infektiös sind und in der Regel erst ab dem fünften bis siebten Tag überhaupt Symptome entwickeln – oft während des gesamten Verlaufs gar keine. Das ist die große Besonderheit von Covid-19 und es ist einer der Gründe für die Geschwindigkeit der Ausbreitung.

Aber das Zurücklehnen auf mehr als zwei Drittel leichter Verläufe ist ebenfalls verkürzt: Ungefähr 10% der Krankheitsfälle verlaufen letztlich mit einem durchaus spürbaren Krankheitsverlauf und anschließend langwieriger Rekonvaleszenz. Das sind Menschen, die zwei bis drei Wochen krankheitsbedingt ausfallen und auch danach erst schwer wieder zur vorherigen Leistungsfähigkeit zurück finden. Weitere 10% erkranken schwer, fallen für mehre Wochen aus, brauchen danach eine bisher unbekannte Dauer zur Rekonvaleszenz, tragen möglicherweise dauerhaft Einschränkungen davon. Die letzten 10% erkranken so schwer, dass eine Hospitalisierung zumindest nahe liegt, in mehr als der Hälfte auch zwingend wird. Diese Menschen spüren und erleben eine lebensgefährliche Erkrankung, von der sie sich danach lange, viele niemals vollständig erholen. Schätzungsweise 2% bis 3% bleiben dauerhaft mit schweren Organschäden an Lunge, Herz, Nieren, Leber – ggf. Hirn – schwer bis schwerst behindert. Und 0,5% bis 1% sterben – darüber wird primär geredet, wie traurig, wie dumm!

Das sind bereits Quoten und Zahlen, die nicht mehr ganz so „harmlos“ sind, wie beispielsweise bei einer Influenza. Es gibt in dem Bereich leider noch zu wenig Forschung zu Folgeschäden und deren Dauer. Erste Studien mahnen aber, das keineswegs zu unterschätzen. In Asien laufen dazu erste Untersuchungen in Ländern, die nicht mehr an der Front der Erkrankung stehen und Kapazitäten zu Nachuntersuchungen haben. Es ist demnach nicht auszuschließen, dass Covid-19 bei bis zu 50% aller Infizierten Folgeschäden an Organen hinterlässt – auch bei asymptomatisch verlaufenen Fällen. Deren Ausmaß und vor allem die Langzeitfolgen sind unklar. Aber auch hier sehe ich es im Sinne einer präventionsorientierten Haltung bei einer neuen Erkrankung mit dem Potenzial einer Komplettinfizierung der Bevölkerung eindeutig: So lange nicht erwiesen ist, dass diese Stichproben nicht übertragbar sind oder dass die festgestellten Schäden ausheilen können, muss man davon ausgehen, dass weniger als die Hälfte der Betroffenen die Erkrankung tatsächlich als „genesen“ übersteht.

Damit zur wesentlichen Gefährlichkeit von Covid-19: Die Geschwindigkeit! Es zeigt sich in der Tat, dass in unseren Gesellschaften eine anfängliche Verdopplung alle zwei bis vier Tage stattfindet. Das ist von Wuhan über Süd Korea, Südeuropa, die USA bis zu Mittel- und Südamerika zu beobachten – und auch hier ist Deutschland keine Ausnahme, denn diese Entwicklung war anfangs hier genauso. Mit dieser exponentiellen Entwicklung hat man in ein bis zwei Monaten mehr als drei Millionen Infizierte und in weiteren ein bis zwei mehr als zehn Millionen!

Zudem ist bisher nirgendwo eine natürliche Grenze sichtbar, was aufgrund des fehlenden Immunschutzes ohnehin nicht so schnell zu erwarten wäre, aber vielleicht wenigstens aufgrund der sozial irgendwann doch begrenzten Kontaktgruppen. Aber Covid-19 ist offensichtlich so dermaßen aggressiv in seiner Ausbreitung, dass selbst die geschätzten 30% in Bergamo keine natürliche, sondern allenfalls eine durch den Lockdown erzeugte Grenze waren. Dass manch bodenständig mit ordentlichen statistischen Grundrechenarten immer noch daher Dilettierender dieser Entwicklung weiter hinterherläuft, mag ich gar nicht mehr diskutieren. Die Trends der Daten sind weltweit vollkommen identisch, diese Verdopplungs-Mechanik ist evident. Die Unterschiede liegen in der Höhe der Kurven und die sind in der Tat gewaltig, weil die Epidemie in vielen Ländern zu spät bekämpft wurde. Gerade aufgrund dieses Tempos kommt es dabei auf jede Woche an. Wenn man die absoluten Zahlen aber mal außen vor lässt und diese mathematischen Trends, diese Wachstumsraten nebeneinander stellt, sehen wir Parallelbetrieb in jedem Land dieser Erde. Evidenter kann man es einfach nicht haben, man muss nur mal vom arithmetischen Mittel über eine laufende exponentielle Verteilung am rechten Rand der Zahlen absehen – oder genauer gesagt hinsehen, um den Mittelwert mal pfleglich wegzulassen.

Was das bedeutet, ist an der Stelle wohl klar: Die genannten Quoten an Krankheitsverläufen, Folgeschäden, Behinderungen und Sterbefällen mit 10 Millionen multipliziert geht nicht. Selbst den Jüngern allgemeiner Statistik muss dann klar sein, dass die Mortalität der Krankheit (also die Sterbequote in der Gesamtbevölkerung) Werte erreicht, die sonst nur Kriege oder Erdbeben erzeugen – was anhand der horrenden Übersterblichkeit in allen Regionen, die es zu spät in den Griff bekamen, leider bereits „erwiesen“ ist. Die Gefährlichkeit einer Krankheit besteht immer aus zwei Komponenten: Verbreitung und Wirkung. Hier ist Covid-19 bezüglich der Verbreitung historisch einmalig hoch und bezüglich der Wirkung mindestens überdurchschnittlich. Der Faktor aus beidem macht das Virus gefährlicher als Ebola, MERS, HIV und Influenza zusammen. Das meine ich genau so, denn ein zeitgleicher Ausbruch aller dieser genannten Viren wäre nicht so schwierig und folgenreich wie Covid-19! Die tödlichen Varianten stoppen sich selbst, HIV verbreitet sich sehr langsam und Influenza stoppt an natürlich Grenzen.

Ein weiteres übles und vollkommen falsches Gerücht ist die Behauptung, Covid-19 betreffe nur Ältere. Da ich mich auch mal in Versicherungsmathematik herumgetrieben habe, weiß ich, was diesen Quoten vor allem fehlt: Die Einordnung und die Folgeschäden. Was die WHO momentan an Alterssterblichkeit verteilt, ist mir ehrlich gesagt zu flach. Bis zum 60. Lebensjahr fast identische Werte, danach rasanter Anstieg bis zum 80.?? Das glaube ich keine Sekunde und ich weiß ja, wo die Daten herkommen: Aus den Anfangsmonaten von Wuhan. Aus dem Versicherungsbereich kann ich ziemlich sicher sagen, dass diese Werte so ab dem 30.-60. Lebensjahr zu flach sind, da werden wir anderes sehen. Aber selbst mit diesem Verlauf ist die Einordnung bereits falsch, denn das relative Risiko von Covid-19 ist umso höher, je jünger man ist. So ist für ein Kind das Sterberisiko mit Covid-19 40fach höher als das allgemeine. Hier kommen wir wieder zu den Co-Faktoren Verbreitung und Wirkung: Wenn die Krankheit das Potenzial hat, früher oder später jeden zu erwischen, gilt dieses Zusatzrisiko eben nicht nur für tatsächlich Erkrankte, sondern für jeden.

Zurück zur Versicherungsmathematik: Natürlich ist nicht nur die Sterblichkeit maßgeblich, sondern auch die Folgeschäden sowie die möglicherweise daraus entstehenden Langzeitschäden. Egal, wie man es rechnet, ob nun ein Verlust an Lebensjahren wegen vorzeitiger Lungenschäden oder eine Minderung der Lebensqualität durch vorzeitige Einschränkungen der Herz-, Lungen-, Nieren-, Leber-Leistung, es wird umso „teurer“, je jünger man ist. Ein 10-jähriger, den Covid-19 erwischt, hat statistisch gesehen viel größere Schäden als ein 80-jähriger. Die Leute, die anderes daher quatschen, haben einfach keinen Horizont und denken, es gebe bei der Erkrankung nur Menschen, die sterben und solche, die gesunden. Anders ausgedrückt: Die reden einfach nur Scheiße daher und haben auch nicht mehr im Kopf. Covid-19 ist ein massives, noch gar nicht abschätzbares Risiko für die langfristige Gesundheit gerade der jüngeren Bevölkerung!

Nun zeichnet es sich ab, dass diese hässlichen Statistiken einen sehr perfiden Hintergrund haben: Vermutlich hat der Verlauf nur indirekt mit dem Alter zu tun, sondern mehr mit den hübsch umschriebenen „Vorerkrankungen“. Diabetes, Asthma, Hypertonie, Adipositas sind einige davon. Genauer weiß man das noch nicht. Kommt bei einem 10-jährigen halt seltener vor als bei einem 80-jährigen, ist bei einem 30-jährigen meist nicht so ausgeprägt, wie bei einem 60-jährigen. Deshalb sterben von letzteren halt mehr, während erstere mit einem mehr oder weniger schweren Verlauf und mehr oder weniger schweren Folgeschäden davon kommen. Insgesamt sind es aber in unseren Gesellschaften vermutlich mehr als 30% der Gesamtbevölkerung, vom seltenen Vorkommen bei einem Säugling bis zur größeren Häufigkeit bei einem Greis.

Wäre auch alles noch egal, wenn da nicht die genannten Parameter wären: Ausbreitung und Wirkung. Wenn wir aber von vielleicht einem Drittel Gefährdeter aus allen Altersgruppen und einer letztlich ungebremsten Ausbreitung in der Gesamtbevölkerung ausgehen, wird die Sache zu einem hübschen „ein Drittel gegen zwei Drittel“ Gesellschaftsschach. Ich sage dir voraus, dass es auch zunehmend dazu kommen wird, weil auch jüngere Menschen oder Eltern sich immer besser informieren, weil das Narrativ „es sterben nur die Alten“ in unserer gut informierten Gesellschaft nicht lange hält. Gerade Menschen mit gewissen Erkrankungen oder solchen, die sich dessen nicht sicher sind, fangen nämlich endlich an nachzudenken. Nun weiß man es in der Tat nicht genau, das eine Drittel ist also genau so unsicher wie die anderen zwei. Aber genau das ist in Bewegung und es wird diese Sichtweise „die Alten sterben für die jungen“ früher oder später ersetzen. In Ländern mit vielen Sterbefällen passiert das schneller, weil da plötzlich auch Kinder, Jugendliche oder sportliche Erwachsene auftauchen, die so gar nicht ins Bild passen. Aber diese Berichte laufen um den Globus, die Menschen sind nicht alle dumm und verblendet, wie die Idioten, die von einer Gates-Verschwörung oder einer harmlosen Grippe als Diktaturvorwand faseln. Das einzig gerechte an Covid-19 ist vermutlich, dass unter diesen Vollidioten recht sicher auch ein Drittel zu finden ist, die Covid-19 ordentlich umhauen wird. Vielleicht fangen selbst die dann mal an, nachzudenken.

Dass die Sache also zu einer gesellschaftlichen Spannung führen muss, die wir selten hatten, ist klar und ich denke, dass trotz dieser absurden Dämlichkeit, Ignoranz, Arroganz, die in unseren Medien abgesondert wird, die wahren Interessengruppen irgendwann in jeder Gesellschaft klar werden. Wissenschaftliche Ergebnisse zu Krankheitsverläufen dürften besser werden und da die nicht-asiatischen Gesellschaften einfach nicht die Härte und den Arsch in der Hose haben, die Seuche einzudämmen, werden auch genug Opferzahlen zustande kommen. Die Sache läuft ja noch eine Weile, wir werden noch genug Säuglinge an Intubationen und 30-jährige im Rollstuhl zu sehen bekommen.

Damit zur Ökonomie: Wir sehen momentan auf dem Planeten sehr viele unterschiedliche Strategien bei der Pandemie-Bekämpfung. Das reicht von hartem Austreten in den meisten asiatischen Ländern und auch in sehr geschlossenen Gesellschaften wie in Neuseeland, Island, Norwegen sowie in sehr klar geführten wie Slowenien, Griechenland über die aus meiner Sicht recht aussichtslose Strategie des Wellenreitens – in Westeuropa, UK und USA wohl bevorzugt – bis zum Nichtstun, weil nicht wollen oder nicht können in Brasilien, Indien, Afrika, Mittelamerika. Wir sehen entsprechend sehr unterschiedliche gesundheitliche Folgen, das reicht von nahezu keinen Todesopfern oder großen Krankenständen bis zu Kühltransporten in Richtung Massengräber oder Krematorien. Wir sehen Länder, die unter starken staatlich organisierten Einschränkungen des öffentlichen Lebens leiden und solchen die dasselbe irgendwann ohne staatliche Maßnahmen erleben. Was wir aber nirgendwo sehen, ist eine auch nur näherungsweise wie vorher funktionierende Wirtschaft. Im Gegenteil sind die wirtschaftlichen Folgen fast überall gleich hoch. Wenn überhaupt scheint es den Asiaten so langsam zu gelingen, Teile ihres Wirtschaftskreislaufs wieder in Ganz zu bringen. Ich fürchte, das wird in unseren westlichen Schaukelstrategien ein On/Off-Kurs, der unserem Konsum und der Planung von Produktion sowie Lieferketten massiven Schaden zufügen wird.

Das ist natürlich keine Überraschung, denn es ist eine Pandemie mit global identischer Auswirkung auf die Wirtschaft: Lieferketten unterbrochen, Absatzmärkte unterbrochen, Konsum bricht zusammen, gewisse Wirtschaftszweige wie Reise, Touristik nahezu tot etc. etc. Dem kann sich kein Land entziehen und das hat mit lokalem Lockdown, Lockup, Jojo, Looping oder sonstigem Politiker-Tabledance rein gar nichts zu tun. Alle seriösen ökonomischen Autoren und Studien verweisen daher auf eine möglichst effektive internationale Pandemie-Eindämmung und eine ebenfalls internationale Strategie, wie die Wirtschaft durch diese Phase zu führen und anschließend wieder zu starten ist. Dazu gibt es sehr viele verschiedene Ansätze, aber keinen einzigen, der irgendwelchen nationalen Lösungen eine größere Bedeutung gibt oder der gar die klare Notwendigkeit der Pandemie-Eindämmung in Zweifel ziehen würde. Ich nehme dabei natürlich Studien der Art des deutschen Verbandes der Gastwirtschaft mal aus – es gibt selbstverständlich auch mit professoralem Siegel jede Aussage, die Segnungen einer Kneipenwirtschaft hoch zu rechnen. Schon klar.

Damit das nicht so unkonstruktiv bleibt: Es gibt für Covid-19 aus meiner Sicht nur die asiatische Strategie der Ausmerzung und der anschließend strikten Verfolgung jedes singulären Infektionsgeschehens bis zur Entwicklung eines Impfstoffes. Alles andere bedeutet für mich in der Konsequenz eine Strategie der verlangsamten Herdenimmunität bis zu einer Durchseuchung der gesamten Bevölkerung oder der Existenz eines Impfstoffes. Man kann meinetwegen darüber diskutieren, ob diese Alternative für unsere westlichen Gesellschaften geeigneter ist. Aber dann soll man das ehrlich und nicht verlogen tun.

Wer aber von Kontrollierbarkeit redet oder die Wirkungsweise der Krankheit leugnet, tut letzteres. Dieser Weg der verlogenen Herdenimmunität ist aus meiner Sicht der teuerste und gefährlichste. Denn er wird keine Linie, sondern erhebliche Störungen und Vertrauensverluste erzeugen. Die Politik zwingt sich dadurch dazu, entweder weiter zu lügen oder sich zu korrigieren. Das ist dann jeweils nur die Frage, auf welcher Seite die größere Empörung und Frustration entsteht. Für den Zusammenhalt einer Gesellschaft und für eine funktionierende Wirtschaft ist das reines Gift. Dann besser gleich der ehrliche Weg der Herdenimmunität.

Dass wir in Deutschland jetzt auf die glorreiche Idee gekommen sind, diesen kommenden Eiertanz mit einer Naturgewalt ausgerechnet föderal zu exekutieren, macht mich fassungslos. Wenn man zugleich von Demokratie spricht und unserer ganz besonders wertvollen Staatsordnung, nun aber Entscheidungsgewalt bei Landräten und Gesundheitsämtern liegt, deren handelnde Personen wir nicht mal kennen, die sich schlimmstenfalls auch der Verantwortung entziehen können, so ist das aus meiner Sicht eher vollkommene Willkür und sicher keine Vorzeigedemokratie. Wer soll schon wissen, wie viele faschistoid denkende Landräte, „da muss die Herde durch, damit sie gesund wird“-Ärzte oder durch die lokalen Gastwirte finanziell getragenen Kommunalstrukturen zur weiteren Epidemie-Steuerung beitragen? Bisher hat unser föderales System bereits beim Zusammenwursteln der Test- und Fallzahlen komplett versagt, es hat alle Pläne, das digital und zentral zu machen, aus reinen Machtüberlegungen verhindert und soll jetzt die Speerspitze gegen eine Pandemie sein, hinter der über Landesstrukturen bis zum Bund eine heillos zerstrittene Interessenbande steht? Viel Spaß, Bundesrepublik. Hoffentlich erkennen wir, wozu Föderalismus gut ist und wo er einfach nur weg muss – wenigstens hinterher, wenn das große Reinemachen ansteht. Fangen wir dann gar an, die Epidemie-Strategien auf Landratsebene zu vergleichen? Es wird gewiss ordentlich, aufrichtig und exzellent arbeitende lokale Strukturen geben. Aber heben die das auf, was andernorts komplett daneben geht, weil da einer sitzt, der in seinem Vorgarten mal eben die ganz harte Linie durchziehen möchte?

Die Ursachen für dieses Strategie- und Kommunikationsdesaster auf politischer Ebene sind sicher vielfältig. Die Gewöhnung an „alles ist gut“-Kommunikation, die Balance von – gerne verlogenen, aber irgendwann mal zu bezahlenden – Kompromissen mit „jeder kriegt alles“-Botschaften, das ist doch alles sehr handwerklich geworden. Es trifft auf eine im Egoshooting austrainierte und wohlstandsbesoffene Herde, für die auch nur der kleineste Verzicht – von Ego und Konsum – bereits mit Untergang verbunden ist. Verlogene soziale und familiäre Strukturen, Paare, deren Existenz voraussetzt, dass man sich allenfalls partiell zu sehen bekommt, Elternschaften, die ohne die selbstfindend selbstbestätigende Betätigung im BIP-Erzeugen zur Refinanzierung der Leasingrate für die Karre vor der Tür plötzlich unerträglich werden. Keine Ahnung, wie viele Lebenslügen gerade aufgedeckt werden – es sind gewiss viele. Natürlich gilt auch hier: Nicht alle, vermutlich sogar die Mehrheit der Menschen ist viel geerdeter, verstehen zwischen wichtig und wesentlich zu unterscheiden, aber es sind halt zu viele Idioten, Ignoranten, Egoisten für eine kollektive Disziplin in schweren Zeiten. Und das politische Geschäft hat sich daran gewöhnt, in genau diesen Teichen zu fischen, denn dort sind die unentschlossenen. Dort gewinnt man Wahlen, nicht bei den zwei Dritteln festgelegten – die muss man allenfalls irgendwie noch mitziehen.

Auch das ist nur eine Dimension der Sache. Denn wir haben unser Wirtschaftssystem bis zum Bersten ausgereizt. Es war noch niemals so ungeeignet für einen Stillstand wie jetzt. Schuldenfinanziertes Wachstums bedeutet Wachstum oder Tod. Dazwischen ist wenig mehr Luft als vielleicht ein Quartal. Die Finanzpolitik hat 2008 in den USA und 2010 in Europa den Untergang des Finanzsystems verhindert. Richtig so. Aber aus dem Modus sind wir nie raus gekommen. Die Welt ist voller Hypotheken auf die Zukunft, die bedient werden wollen durch wirtschaften, das erst kommen muss. Mit Kalkulationen an der Kante, ein Quartal daneben geht noch, aber ein ganzes Geschäftsjahr? Dafür ist bei zu vielen keine Substanz da. Das betrifft das komplette Finanzsystem und leider auch sehr viele Unternehmen, die sich von dem billigen Geld infizieren ließen. Aber es betrifft eben auch sehr viele Menschen, Privathaushalte, die verschuldet sind, keine Substanz für einen längeren Stillstand haben. Das geht quer durch alle sozialen Schichten, das reicht vom gut bezahlten Ingenieur, dessen halbes Nettoeinkommen für die monatliche Hypothek der eine Million Doppelhaushälfte drauf geht bis zum einfachen Arbeiter, der alleine für die Miete und die allgemeinen Lebenshaltungskosten zur Arbeit geht. Es sind so viele Existenzen bei uns am Rand, von Niedriglöhnen bis zu gut bezahlten Angestellten oder Unternehmern – es geht quer durch die Gesellschaft. Wir brauchen so dringend ein staatlich organisiertes Moratorium dieses Räderwerks, sonst wird es sich im zweiten Halbjahr durch die Existenzen fressen. Dem müssten sich alle wirtschaftlichen Aktivitäten widmen, statt dessen wird versucht, mit lokalen Alleingängen das Rad wieder ans Laufen zu bringen.

Das ist nicht nur gesundheitlich ein Desaster, es ist ökonomisch vollkommen aussichtslos und das hat auch nichts mit einem nationalen Lockdown zu tun. Der große globale Wirtschafts- und Schuldeneisberg hat schon längst tektonische Risse – es geht schon gar nicht mehr darum, was morgen passiert, welche Kneipen wir öffnen können. Es geht darum, das große ganze rasch zu stabilisieren – wäre m.E. übrigens durchaus möglich und auch finanzierbar, aber nicht mit neuen Schulden. Blödsinn an allen Fronten, altes Handwerk, Pflästerchen, Placebos ohne Ende – ich sehe keine Debatte, in der es auch nur näherungsweise um die wirklich bedeutenden Dinge und Maßnahmen geht. Leider auch in der Ökonomie nicht, denn selbst die besseren Papiere, die ich lese, greifen viel zu kurz. Man hat zwar in meiner Zunft überwiegend erkannt, dass eine fehlende Pandemie-Strategie letztlich in Chaos endet, in dem gar nichts mehr funktioniert. Aber es gibt zu wenig Wahrnehmung für die Dauer der Krise und für ein neues Denken in Richtung von Maßnahmen, deren Größe den Problemen gerecht werden könnte. Ausnahmen sind wie immer auf der Ebene von Einzelunternehmen zu finden. Wie in den letzten zwei Jahrzehnten wahrnehmbar sitzt die Intelligenz eben doch in so manchen Chefsesseln. Nicht in allen, aber in vielen. Es wird eine heftige Auslese geben. Unternehmensberichte machen mir derzeit tatsächlich die größte Freude, denn dort lese ich von Strategien und Überlegungen, die die Herausforderung erkennen. Das geht so weit, ohne Impfstoff mit einer mehrjährigen Pandemie zu planen. Setzt man sich mit solchen Szenarien auseinander, kommen Gegenreaktionen, die substanziell sind. Das reicht von Digitalisierung bis zu radikalen Veränderungen in den Geschäftsmodellen. Gut so, aber es liest sich teilweise auch sehr hart.

Ich fürchte daher, dass wir uns wohl zuerst unter heftigen Schmerzen von ziemlich viel verabschieden müssen, bevor es besser wird. Diese Herde wird den Schaden erst noch deutlich erhöhen – gesundheitlich wie wirtschaftlich – bevor sie zu einer Gemeinschaft wird. Ich fürchte für den Herbst eine Kombination aus Covid-19-Welle und einer Insolvenzwelle von Unternehmen sowie Privathaushalten. Dann lässt sich nichts mehr durch statistische Tricks verrechnen oder von Kontrollierbarkeit fabulieren. Es wird natürlich auch dann erst mal einen hübsch sinnlosen Streit über Schuld und Verantwortung geben – und die mag sogar so lange dauern, bis der Schaden auf einen natürlichen Boden gefallen ist. Danach wird´s dann besser – wenn wir etwas gelernt haben, vielleicht sogar richtig gut.

Alternative: Kommt recht bald ein Impfstoff, so können wir die Sache mit der kollektiven Lebenslüge wieder neu starten. Der darf aber nicht weit um den Jahreswechsel kommen, sonst sind die Kollateralschäden durch Insolvenzen nicht mehr aufzuhalten. Dieses Geschehen hat sinnigerweise dieselbe Mathematik wie Epidemien: Insolvenzen erzeugen Insolvenzen. Das passiert zwar nicht mit Verdopplungen alle zwei Tage, aber auch exponentiell, so ungefähr in Raten alle zwei Monate. Auch hier gilt dasselbe wie bei der Epidemie-Bekämpfung: Das Fenster, diese Welle einzudämmen ist nur anfangs offen und es schließt sich rasch.

 

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