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CoroNews 02.06.2020

Die Nachrichten der letzten Tage erinnern mich an die Gründe, weshalb ich hier das Corona-Schreiben mal begonnen hatte: Die nett formuliert jämmerliche Leistung unserer Medien.

Zu BILD & Co: Nun hat also jüngst BILD in der ihr eigenen Art den Drosten ans Kreuz genagelt. Vermeintlicher Anlass ist dessen – im wissenschaftlichen Sinne nicht vorliegende – Studie zum Infektionsgeschehen bei Kindern. Dazu sollte man wissen, dass sich der Axel (Cäsar) Springer Verlag, unter dessen Dach sich unter anderem BILD und WELT tummeln, die Sache mit der vierten Macht im Staate schon immer im wahrsten Sinne des Wortes zu eigen (M)machte. Zur Macht in diesem Sinne gehört grundsätzlich der Anspruch, dass im Staate keine wirklich großen Dinge gegen den Willen Cäsars passieren und im kleinen bedeutet das natürlich, diese Macht unbedingt gegenüber Einzelpersonen zu wahren.

So kann und konnte kein Politiker und auch kein Unternehmen sich eine Fehde mit dem Verlag leisten. Falls mal einer diese Machtprobe doch versuchte, hisste er irgendwann die weiße Fahne oder er ging unter. Bisher. Jetzt will man also einem Virologen zeigen, wer Meinung und Richtung zu bestimmen bzw. nicht zu bestimmen hat. Mag sein, dass es auch dieses Mal mit der überwiegenden öffentlichen Demütigung eines Menschen endet, dessen Würde in der Sache ohnehin kein Parameter ist. Markus Breuer hat das Vorgehen entsprechend gewertet: https://www.facebook.com/markus.breuer/posts/10159603222343942

Wenn insbesondere das kommunikative Springer-Flaggschiff mal wieder eine wesentliche Machtthematik durch die Verabreichung einer ordentlichen Menge Dreck in Gang bringt, bleibt das meist nicht unbeantwortet. So kontert der SPIEGEL mit einer Titelgeschichte, die wie immer online bereits seit Tagen etwas angefüttert wurde: https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/bild-artikel-ueber-den-virologen-drosten-ich-will-nicht-teil-einer-kampagne-sein-a-a849dfa2-9222-43c7-9321-0a8bdee3bb4a?fbclid=IwAR1YN68e7Vu5EgDARLdBKRlbofymn9TIxrYhVj29FUPHa3Q_AnLexblFXDE

Der Höhepunkt dieser ersten Welle ist am Wochenende die Vermarktung des Heft-Covers und das Auslaufen wird nächste Woche wieder online begleitet werden, das läuft gerade. Hier wird zwar etwas sauberer berichtet, eher ungewöhnlich deutlich BILD kritisiert und so dies und das erfahren wir sogar zur Sache – aber nicht wirklich viel.

Der Tagesspiegel hatte zwischenzeitlich den in der Wissenschaft seit Jahren nicht mehr, in den Medien hingegen omnipräsenten, alles oder nichts und dann wieder ganz anders sagenden Alexander Kekulé zu Wort kommen lassen. Der wurde mit der Aussage zitiert, Drosten hätte die Studie besser gelassen, wovon er ein paar Tage später dann aber nichts mehr wissen will. Denn: Die FAZ kann das auch nicht einfach so an sich und ihren Lesern vorbei laufen lassen, hier darf nun Kekulé Drosten und sich höchst selbst als Opfer darstellen: https://www.faz.net/podcasts/f-a-z-podcast-fuer-deutschland/virologen-duell-kekule-drosten-und-ich-wurden-benutzt-16792691.html

Auf dem Echtzeit-, dafür aber Schmalband-Medium Twitter schlagen sie alle parallel aufeinander ein. Julian Reichelt, Admiral zur Schmierensee bei Springer, lädt mal zur Debatte ein oder wird aus solcher ausgeschlossen. Leider twittert Drosten fleißig mit, obwohl er wirklich besseres zu tun hätte. Ob er das semisakrale Spiegel-Cover mit dem Abstand einiger Jahre noch gut findet, werden wir nie erfahren. Ich verstehe diese Art der Vermarkung und weiß um die handwerklichen Fähigkeiten dahinter, aber meine Begeisterung dafür ist irgendwie erloschen. Angesichts von Covid-19 würde ich mir auch seitens der mehr oder etwas Qualität bietenden Medien anderes wünschen.

Ich kann nur hoffen, dass BILD sich hier vielleicht erstmals mit einem wirklich unabhängigen Kreis angelegt hat, nämlich mit Wissenschaftlern, deren Reputation woanders stattfindet und deren Geschäftsmodell durch BILD nicht erreicht werden kann. Ebenso wäre zu wünschen, dass selbst die gewährte Staatshilfe für BILD&Co nicht ausreicht, um deren Geschäftsmodell zu retten. Ohne jedes Vergnügen darf ich dazu sagen: Wir brauchen das nicht mehr. Der Branchendienst Turi bringt dieses fürchterliche mediale An- und Gegengequake anschaulich zusammen:

https://www.turi2.de/aktuell/spiegel-christian-drosten-spricht-ueber-seine-rolle-als-neue-beruehmtheit-und-erklaert-sein-verhaeltnis-zur-bild/

https://www.turi2.de/aktuell/faz-podcast-kekule-relativiert-drosten-kritik-faz-lehnt-gespraechsangebot-der-bild-ab/

Zum Infektionsgeschehen bei Kindern: Was bei dem Rummel und Lärm nahezu komplett unter geht, ist die Sache, um die es geht: Die fragliche Studie zum Infektionsgeschehen bei Kindern. Ähnlich dem ebenfalls laut durchs Dorf getriebenen Heinsberg-„Protokoll“ verdient diese Studie eine gewisse Einordnung, aber auch nicht viel mehr. Sie liefert wie sehr viele andere zwei Dinge: Erstens weitere Daten und zweitens den Versuch, diese statistisch zu bewerten. Dabei macht die Studie keinerlei Hehl aus der Tatsache, dass die Daten leider nur ein Puzzlestück mehr sind und deren Auswertung keineswegs eindeutig sei. Diesbezüglich wählt man einen Ansatz und wirft ihn in die Diskussion. Letztere läuft gerade, was auch Einfluss auf die Fertigstellung der Studie hat – und das ist nicht nur normal, es ist gut so. Viel mehr ist dazu nicht zu sagen und mit weiteren Puzzlestücken zum Infektionsgeschehen bei Kindern wird es vielleicht irgendwann möglich, diese Daten genauer zu interpretieren – oder auch nicht. So funktioniert kollektive Wissenschaft. Dass man darüber auch medial gut berichten kann, zeigt beispielsweise der Chefredakteur von Spektrum, dessen Kommentar ich gerne empfehle: https://www.spektrum.de/kolumne/kein-verstaendnis-von-wissenschaft/1738472

Stand heute und ich formuliere es bewusst genau so: Es gibt keine klaren Ergebnisse, ob Kinder einen geringeren Beitrag am Infektionsgeschehen haben als Erwachsene. Die bisher dafür herangezogenen Studien aus Island und Wuhan geben dazu noch viel weniger her, als die Drosten-Studie, die insofern durchaus ihren Wert hat. Alles weitere bleibt daher ein Abwägen, ob man nun insbesondere von Schulen und Kitas ein angemessenes oder eben ein unangemessenes Risiko erwartet – für die Kinder selbst, für die Lehrer und im Sinne von Hotspots – dazu gleich mehr – für die Allgemeinheit.

Inakzeptabel ist an der Stelle nicht nur die Art der Diskussion in den Medien, sondern leider auch in der Politik: Ich finde diese Verlogenheit unerträglich. Dass nun ausgerechnet der diesbezüglich bisher eher sehr klare Ministerpräsident Kretschmann eine in seinem Land laufende Studie dazu nicht mehr abwarten möchte, enttäuscht sehr. Wenn Politik sich jetzt entscheidet, Schul- und Kitabetrieb wieder zuzulassen, sollen sie das bitte ehrlich machen: Wir sind im Zweifel dafür, weil der Schaden durch Verzicht uns zu hoch ist. Dass es aber keine Zweifel mehr gebe und die Sache kein Risiko mehr habe, ist weiterhin unklar. In Südkorea sieht man das Thema Schulen übrigens deutlich kritischer, hier wurde aufgrund eines kürzlichen Anstiegs der Infektionen sofort eine regionale Schulschließung verhängt, gehört dort zur Strategie (mehr dazu unten): https://www.independent.co.uk/news/world/asia/south-korea-shuts-schools-spike-coronavirus-cases-deaths-spike-a9538441.html?utm_medium=Social&utm_source=Facebook&fbclid=IwAR0oLgFYtaQR5v3GzzXjwzfgr7b7hgx08yqSNdnjXMCfsEeVkaCkuOckw0U#Echobox=1590761536

Meine Meinung zu den Schulen ist unverändert: Es wäre ehrlich und angemessen, einzuräumen, dass der Betrieb mit Risiken verbunden ist und die Entscheidung in die richtigen Hände zu legen: Die der Eltern. Voraussetzung wäre, das Schuljahr aufzugeben und aus der Schulpflicht ein freiwilliges Recht zu machen. Ob wir in diesem Jahr von einer „normalen“ Ausbildungsleistung ausgehen können, ist doch ohnehin fraglich. Wäre es dann auch gegenüber den Schülern nicht fairer, dieses Jahr als eine Art Aufbauleistung zu werten? Ich weiß, dass es Aussagen von dafür vermeintlich kompetenter Seite gibt, die entweder dem Land im internationalen Wettbewerb oder der jetzigen Schülergeneration im Wettbewerb um Arbeitsplätze massive Nachteile voraussagen, wenn man dieses Schuljahr nicht ordentlich durchführt. Ich erlaube mal die Gegenfrage, ob viele junge Menschen nicht vielleicht Nachteile erleben, wenn man das unter diesen Bedingungen einfach gnadenlos durchzieht?

Zur aktuellen Wissenschaft allgemein: Aus der Pathologie gibt es inzwischen neue Untersuchungen zu den Organschäden, die Covid-19 kausal verursacht. Dieser neuen Studie (s.u.) zufolge, wurden die Organschäden erstmals nicht einfach nur als solche festgestellt, sondern genauer untersucht und zweifelsfrei auf die differenzierbare Wirkungsweise von Covid-19 bzw. genauer SARS-Cov-2, also des Erregers selbst, zurückgeführt. Ob der ebenfalls gerne vor dem Mikro herumturnende „mit oder an Corona“-Püschel vielleicht doch nicht ganz richtig hingesehen hat? Niemand weiß es, vielleicht wird seine Studie bald in einem anderen Licht dastehen. Das wäre doch glatt ein Thema für BILD? Ach nein, besser nicht.

In Südkorea laufen weiter intensive Untersuchungen zu unklaren Re-Infektionen, genauer gesagt zu Menschen, die nach einem Covid-19 Verlauf abwechselnd positiv/negativ getestet werden. Das Phänomen ist jüngst auch bei Matrosen des US-Flugzeugträgers beobachtet worden. Es ist immer noch unklar, ob es sich um Fehler bei den Tests, eine Chronifizierung des Virus oder tatsächlich um Re-Infektionen handelt. Die neuste Studie dazu kommt aber zu dem sehr interessanten Ergebnis, dass diese Patienten nicht infektiös sind.

Ferner kommt die Entwicklung von Impfstoffen und Therapeutika weiter. Wöchentlich werden Kandidaten beider Bereiche für erste klinische Tests angemeldet. Ich bleibe in der Sache als Statistiker einfach Optimist: Es ist richtig, dass die Entwicklung von Impfstoffen oft Jahre gedauert hat, aber ich vermute mindestens 100fache Aufmerksamkeit bei diesem. Das wird die Sache deutlich beschleunigen.

Was die Infektionsgefahren betrifft, so wissen wir inzwischen auch mehr zu den Masken: Diese sind zwar kein vollkommener Schutz, was sie nach deutschem Ingenieursdenken natürlich gleich untauglich macht, aber sie reduzieren das Risiko und genau darum geht es bei Covid-19 nämlich: Mit einem Bündel mehrerer gezielter Maßnahmen die Übertragungswahrscheinlichkeiten reduzieren. Ob der intellektuelle Herr Augstein das akzeptiert? Er sagte jüngst, er habe dazu noch nichts Überzeugendes lesen können. Vermutlich liest Augstein aber ohnehin nur Augstein, zu den Masken könnte er es mal mit der unten verlinkten Studie versuchen.

Richtig ist allerdings, dass Aerosole offensichtlich eine größere Bedeutung beim Infektionsgeschehen haben, als anfangs vor allem beim RKI vermutet. Dagegen helfen Masken weniger, aber selbst hier zeigen sie zumindest eine reduzierte Gefahr. Vor allem aber wissen wir inzwischen, dass wegen der Aerosole vor allem geschlossene Räume für eine Ansteckung deutlich gefährlicher sind. Aktuelle Studien beziffern das Ansteckungsrisiko in Räumen mit Faktor 18-20 höher ein als im Freien.

Was mich beim Thema Aerosole wundert, ist der bisher vergleichsweise geringe Forschungsaufwand dazu. Das wäre aber allgemein für den Herbst und bereits jetzt auch für Situationen in Schulen, öffentlichen Verkehrsmitteln, Flugzeugen sowie vielen betrieblichen Räumen so wichtig. Es gibt dazu nur Allgemeinplätze zur Bedeutung des Lüftens insgesamt und vollkommen indiskutables Geschwurbel von der Industrie aus den Bereichen Verkehrssysteme sowie Klimatechnologie. Auch dort liest man vor allem die „Empfehlung“, bei der Klimatisierung von Räumen oder Fahrzeugen jeder Art „mehr Außenluft“ und „bessere Filter“ zu verwenden. Aus Asien kommen dazu mehr und auch kritischere Studien, die meinerseits den Verdacht erhärten, dass die üblicherweise eingesetzte Klima-Technik in unseren Gebäuden sowie Verkehrsmitteln vermutlich eher das Attribut „Virenschleuder“ verdient. Forscht man in dem Bereich gar deshalb nicht, weil man das Ergebnis bereits kennt?

Das wäre in der Tat mehr als bedauerlich, denn trotz des Optimismus seitens der Impfstoffentwicklung müssen wir wohl damit rechnen, dass wir auf der Nordhalbkugel einen weiteren Herbst/Winter mit dem Virus an Bord zu verbringen haben. Darüber hinaus wäre eine Klima- und Filtertechnologie, die Viren nicht verteilt, sondern vernichtet, über Covid-19 hinaus eine Errungenschaft, deren Entwicklung sich die Menschheit durchaus leisten sollte. Wäre doch großartig, wenn wir zukünftig ohne Halsschmerzen aus einem Flugzeug aussteigen könnten?

Hier nun die Quellen zu den verschiedenen Themen aus der letzten Woche: Ich empfehle generell zu Studien bezüglich des Krankheitsverlaufs, nicht nur, aber auch bei Kindern gerne immer wieder einen älteren Beitrag von Steffi Keudel, der sich inzwischen als Sammelstelle für Studien ausgeprägt hat und in den Kommentaren dauernd ergänzt wird: https://www.facebook.com/StekkiFeudell/posts/10216844624929778?comment_id=10217066162548080&reply_comment_id=10217174142167503&notif_id=1590476996486700&notif_t=mentions_comment

Organschäden: https://www.mta-dialog.de/artikel/covid-19-obduktionen-zeigen-schwere-lungenschaedigungen.html?fbclid=IwAR3Fs1glSBSyK3b1O169eXH-YWHEKanDz4qx4JpvqbN6gzsm_fcUW2zpODM

Masken: https://science.sciencemag.org/content/early/2020/05/27/science.abc6197

Aerosole: https://zeitung.faz.net/faz/deutschland-und-die-welt/2020-05-30/bef6bdd8b4f9fd21b104c32bc812a7b5/?GEPC=s2&fbclid=IwAR0215KlLPhNlXoOvhNPeWygbYuP0Iy6EdSYBHwkruVkQwJ_66fXfM7ExI4

https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-welche-rolle-spielen-aerosol-partikel-bei-der.1939.de.html?drn:news_id=1136645

https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-05/coronavirus-infektionsrisiko-gastronomie-parks-baden

https://www.br.de/nachrichten/wissen/coronavirus-anscheinend-auch-ueber-die-luft-ansteckend,RyyDfs1

Re-Infektionen: https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2766379

Impfstoffkandidat aus China: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113134/SARS-CoV-2-Impfstoff-aus-China-besteht-ersten-klinischen-Test

Serumtherapie: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113155/COVID-19-Serumtherapie-erzielt-in-Studie-begrenzte-Wirkung

Hier eine recht verständlich geschriebene Zusammenfassung der Ansteckungsgefahren: https://www.erinbromage.com/post/the-risks-know-them-avoid-them?fbclid=IwAR21PQeeu4IKjhq_t7hu-_38qBgIFTAvWYyY3tKjwsvlL4VCZG7XL8L6Png

Zur Frage einer zweiten Welle: Zur Einordnung zunächst noch mal zurück zum Anfang: Was wir überraschenderweise in fast allen Ländern und Klimazonen bei der ersten Welle von Cvoid-19 gesehen haben, war eine anfängliche Verdopplung der Infektionen alle zwei bis vier Tage. Dieses exponentielle Wachstum habe ich in einer kleinen und simplen Tabelle zusammengefasst.

Hier sieht man, wie schnell aus einem anfänglichen Infektionsstand von 100, 500 oder 1.000 Patienten aus zunächst eher unscheinbaren Zahlen binnen ein bis zwei Monaten sehr rasch Millionen werden. Die daraus hochgerechneten Zahlen an verschiedenen Krankheitsverläufen bis zu schweren Folge- ggf. Dauererkrankungen entsprechend den durchschnittlichen Quoten aus den meisten Ländern. Die Todeszahlen sind minimal aus den in Deutschland erhobenen Letalitätsraten gerechnet, die man bei einem vollständig intakten Gesundheitssystem annehmen kann. Kommt es zu Triage, die in manchen Ländern wie ausgerechnet Schweden oft sehr „still“ durchgeführt wird, kann man inzwischen grob von einer doppelt so hohen Sterberate ausgehen.

Bekanntlich hängt der tatsächliche Verlauf von vielen weiteren Parametern ab, die in so einer vereinfachten Darstellung nicht zu berücksichtigen sind. So hängt die Quote schwerer und tödlicher Verläufe auch davon ab, ob besonders gefährdete Gruppen in entsprechenden Einrichtungen (Seniorenheime, Obdachlosenheime, Krankenhäuser) betroffen sind und das Infektionsgeschehen insgesamt auch von sozialen Strukturen und Wohnverhältnissen, die insbesondere in Armenvierteln der USA oder gar in Entwicklungsländern in anderen Ausmaßen auftreten als in Europa.

Insofern zeigt diese Tabelle nicht mehr und nicht weniger als die anfängliche typische Verbreitung von Covid-19 im Fall einer unkontrollierten Epidemie. Das gilt aber offensichtlich auch für Deutschland, denn das Szenario mit 8.192 Sterbefällen aus der anfänglichen unkontrollierten Infektionsbasis dürfte recht gut den Ablauf in Deutschland bis zum Lockdown erfassen.

Das wird zwar immer noch von gewissen Kreisen bestritten, aber mit etwas Freude habe ich zur Kenntnis genommen, dass der von mir vor einigen Tagen wegen einer unterirdisch gemachten Statistik auf´s Korn genommene Prof. Homburg nun eine mehr als klare und in der Form ungewöhnliche Stellungnahme seiner Universität kassieren durfte: https://www.uni-hannover.de/de/universitaet/aktuelles/online-aktuell/details/news/gemeinsame-stellungnahme-des-senates-des-praesidiums-und-des-hochschulrates-der-gottfried-wilhelm-le/

Klar ist: Läuft die Epidemie länger unkontrolliert als bei uns oder mit einer höheren Anfangsbasis, sieht man recht bald Zahlen, die keine Gesellschaft mehr unberührt lässt – weltweit. Die in den hinteren Spalten sichtbaren Krankenstände werden sehr bald zu einem Problem von erheblicher Sicht- und Spürbarkeit, das „normale“ Leben geht daran nicht mehr vorbei. Das folgende Bild zeigt exemplarisch den Infektionsverlauf in einigen europäischen Ländern und als Kontrast den in Brasilien. Zu beachten ist wie immer, dass sich nur die Trends vergleichen lassen, da die Zahlen in den Ländern mit sehr unterschiedlichen Dunkelziffern versehen sind. Die anfänglichen Verdopplungen in den europäischen Kurven sind hier kaum noch erkennbar – gut, dass es die Lockdowns gab!

 

Dass meine oben aufgeführte rudimentäre Hochrechnung der ersten Phase durchaus repräsentativ ist, lässt sich auch an inzwischen durchgeführten Antikörperstudien wie in Heinsberg, Madrid oder jüngst Stockholm ablesen. Die dort ermittelten Durchseuchungsraten bestätigen die exponentiellen Zahlen einerseits, andererseits sollten sie nun aber auch jeden Fan der Herdenimmunität endgültig ernüchtern, denn selbst in den schlimmsten Hochburgen der Epidemie sind allenfalls Werte von 20% feststellbar gewesen. Das Leid und Sterben von Bergamo & Co müsste also selbst dort noch vier bis fünf Mal durchlaufen werden, um eine natürliche Immunität aufzubauen – im gesamten Land mehr als 20 Mal. In Stockholm, wo das Virus ebenfalls heftig wütete und in Altenheimen ohne jede Behandlung (und oft auch ohne Test) stillschweigend gestorben wurde, sind es auch „nur“ 7,3% der Bevölkerung (https://www.theguardian.com/world/2020/may/21/just-7-per-cent-of-stockholm-had-covid-19-antibodies-by-end-of-april-study-sweden-coronavirus?fbclid=IwAR1qq4U3Bug1B8g8Im_-uRNDG_keXTDQx9OQSLLdTHOS476ft2fzHwNIwys). Die Universität London hat einige Zahlen für ganze Länder hochgerechnet. Das dahinter liegende Modell ist nicht mehr aktuell, die Zahlen werden aber ohnehin mit einer erheblichen Bandbreite versehen, so dass man zumindest diese Korridore als Orientierung nehmen kann – und eben zum Schluss kommt, dass Herdenimmunität keine vertretbare oder auch nur durch eine Gesellschaft ertragbare Strategie sein kann (https://mrc-ide.github.io/covid19estimates/#/total-infected).

Eine natürliche Barriere der Epidemie ist bisher leider ebenfalls nicht ersichtlich: In Brasilien läuft die exponentielle Phase wie im Bild oben erkennbar bisher ungebrochen. In den europäischen Staaten wurde bekanntlich früher oder später durch einen Lockdown das Infektionsgeschehen begrenzt, so dass die Kurve sich deutlich abgeflacht hat. Das Beispiel UK zeigt, wie lange die Eindämmung der ersten Welle dauert, wenn man zu spät reagiert. Dort sind jetzt an Pfingsten längst nicht die Möglichkeiten gegeben, wie bei uns.

Schaut man sich nur die Zahlen in Deutschland an, hier anhand der täglichen Infektionszahlen seit Ausbruch der Epidemie, so sieht das nach einem fast vollständigen Abklingen aus. Mit so einer Kurve, die leider sehr oft dargestellt wird, kann man natürlich Entwarnung rufen.

Das ist aber trügerisch, denn es berücksichtigt die exponentielle Ausbreitung nicht. Die Tabelle oben zeigt ja, dass bereits aus 100 Fällen – wir produzieren immer noch täglich das fünffache – bei Kontrollverlust in kürzester Zeit wieder Millionen werden. Um das besser zu erkennen, muss man daher logarithmische Darstellungen wählen.

 

Hier erkennt man besser, wie schnell die Spitze der ersten Welle – gut 20 Tage – aufgebaut war und wie zäh deren Eindämmung – gut 60 Tage – auf das heutige Niveau verläuft. Man sieht aber vor allem, dass wir im exponentiellen Maßstab von Covid-19 nicht mal die Hälfte der ersten Welle eingefangen haben. Von Entwarnung kann also überhaupt keine Rede sein, im Gegenteil entstehen bei uns täglich neue Infektionen in einem Umfang, der deutlich über der anfänglich importierten Fallzahl liegt. Der Covid-19 Jet schlummert also nur, er kann sofort wieder starten. Daher fragen sich alle, wie es nun weiter gehen wird, ob bzw. wann wir eine weitere erhebliche Welle erleben werden.

Bekanntlich verlief bei der Spanischen Grippe die zweite Welle in den meisten Ländern viel grausamer als die erste. Dafür wird insbesondere Sorglosigkeit und Unkenntnis verantwortlich gemacht. Das kann uns doch nicht passieren – oder?

Mit Blick auf die Welt recherchiert die Universität Oxford regelmäßig einen Index über die jeweils verhängten Schließungsmaßnahmen der Staaten. Die aktuelle Karte ist dem folgenden Bild zu entnehmen.

Je dunkleres Blau, desto mehr ist den betreffenden Ländern gerade geschlossen. Verfolgt man diese Karte im Zeitverlauf (https://ourworldindata.org/grapher/covid-stringency-index), so erkennt man sehr unterschiedliche Strategien in den einzelnen Ländern, die sich grob in drei Kategorien einordnen lassen: In Asien und Ozeanien wurde und wird bei einem größeren Ausbruch mit sehr klaren Maßnahmen sowie dem Ziel einer vollständigen Ausmerzung der Epidemie reagiert. Immer wieder machen eher dümmliche Nachrichten in unseren Medien die Runde, dass es da und dort nun „wieder los“ gehe – oft kommentiert mit den Worten, man bekomme es halt nicht in den Griff. Dabei ist genau dieses schnelle Eindämmen jeder kleineren regionalen Welle explizit Bestandteil der Strategie und die funktioniert sehr gut. Zudem wird jeweils dort reagiert, wo das Geschehen es erfordert. Nationale Lockdowns hat es in Asien zu keinem Zeitpunkt gegeben.

In Europa und Nordamerika sind die meisten Länder zu mehr oder weniger nationalen Maßnahmen gekommen, mit eher geringerer regionaler Differenzierung und zudem ohne harte Reisebeschränkungen im Inland. Das hat auch zum Abknicken der Kurven geführt, aber in keinem Fall auf das Niveau der Asiaten, wie das unten folgende Bild zeigt. Die dritte Kategorie sind Länder, in denen die Regierungen entweder nicht reagieren wollten oder mangels Infrastruktur und Wohnverhältnissen der Bevölkerung dies nur begrenzt tun konnten.

Was man in der Tat in allen Fällen sieht, sind Reaktionen der Gesellschaft auf die Epidemie, die teilweise auch unabhängig von Maßnahmen der Regierungen erfolgen. Das kann man beispielsweise bei den von Google regelmäßig veröffentlichten Bewegungsdaten (https://www.google.com/covid19/mobility/) erkennen, die weltweit bei entsprechendem Infektionsgeschehen spürbar sinken. Für Brasilien und Indien besteht nur die Hoffnung, dass die Bevölkerung im Rahmen ihrer Möglichkeiten das exponentielle Wachstum irgendwann brechen wird. In Brasilien wehrt sich die Regierung gegen härtere Maßnahmen, in Indien sind Infrastruktur und Wohnverhältnisse zu schlecht für eine wirksamere Epidemiebekämpfung. Eine Tragödie in beiden Fällen.

Nebenbemerkung zur Wirtschaft in allen Ländern: So lange diese Stringency-Map aus Oxford nicht eine grundsätzlich andere Färbung zeigt und die Google-Daten sich nicht nachhaltig erholen, wird es mit der Wirtschaft nirgendwo wieder richtig anlaufen, in den exportorientierten Ländern Asiens und Europas erst recht nicht. Eine Studie der Swiss-Re beziffert den Rückgang des weltweiten BIP mit 0,5% pro Woche, so lange der Welthandel durch staatlich verordnete oder freiwillige gesellschaftliche Reaktionen aufgrund des Pandemie-Verlaufs überwiegend still steht: https://www.swissre.com/dam/jcr:df48d4ed-7468-466c-afdd-137da4bd2f7d/EI-8-2020-the-great-shutdown.pdf

Nun fragen sich insbesondere die Länder, in denen die erste Welle zumindest abgeflacht ist, wie es weiter gehen mag, welche Maßnahmen vielleicht genügen und was man wieder zulassen kann.

Fast schon lustig ist dabei der Ruf nach der Wissenschaft, sie möge doch endlich mal Aufklärung liefern, wie die Krankheit sich verbreitet. Diese Frage bedeutet ganz wesentlich eine Prognose des gesellschaftlichen Verhaltens und der damit verbundenen Art und Anzahl von Kontakten. Dass es diesbezüglich mit „präzisen“ Analysen oder gar Prognosen schwierig ist, sollte man der Wissenschaft vielleicht zugestehen?

Die Swiss-Re nutzt zur Prognose eine Mischung aus eignen und mehreren wissenschaftlichen Modellen (https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-05/corona-pandemie-versicherungen-risiko-management-christoph-nabholz/komplettansicht) und kommt zur Einschätzung, dass es möglicherweise mehrere und kleinere Wellen der Pandemie geben wird. Das ist gut möglich, denn es zeichnet sich bereits ab, dass wir zwar wie 1918 immer wieder dazu neigen, die Sache als erledigt zu sehen, aber zugleich sind wir hoffentlich eben doch wachsamer.

Die Universität Washington nutzt ein stets mit sehr aktuellen Trends arbeitendes Modell, das für Deutschland nun zum Ergebnis kommt, die Epidemie werde sich über den Sommer nochmals halbieren und dann auf dem Level stagnieren. Dieses Modell funktioniert aber nur so lange, wie sich das gesellschaftliche Verhalten nicht grundsätzlich verändert. Die jüngst erst begonnenen Lockerungen sind hier also unberücksichtigt, einen Trendwechsel soll das Modell gar nicht erkennen, wird aber darauf reagieren. Daher lohnt die Quelle zur gelegentlichen Nutzung: https://covid19.healthdata.org/germany

Dass es bei Lockerungen und einer weitgehend wohl unvernünftigen Bevölkerung auch exponentiell schnell wieder los gehen kann, erlebt gerade Chile. Dort herrscht derzeit aber Winter, das mag ein zusätzlicher Effekt sein, den wir aber unbedingt beachten sollten. Mehr dazu unten.

 

Nun sehen wir aktuell in Deutschland möglicherweise sogar unabhängig von den verhängten Lockerungsmaßnahmen beinahe täglich Ereignisse in verschiedensten Einrichtungen, vor denen ich bereits vor Wochen gewarnt hatte: Sei es das Restaurant in Niedersachsen, der Gottesdienst in Frankfurt, die Fälle in der Fleischindustrie, bei Logistikern (jetzt auch Amazon in Bad Hersfeld) oder die privaten Feierlichkeiten in Verbindung mit Quarantäne-Verstößen in Göttingen sowie immer wieder Fälle in Schulen. Die Nachrichten dazu verlinke ich nicht, sie dürften bekannt sein und es ermüdet geradezu, das zu lesen, denn eines ist immer vergleichbar: Die Infektion breitet sich in einer Gruppe, die in geschlossenen Räumen und meist zu lang und/oder zu nah beisammen ist, blitzschnell und meist auf mindestens die Hälfte, manchmal sogar fast alle Teilnehmer aus.

Interessant ist in dem Zusammenhang eine erstmals etwas genauer durchgeführte Studie zum Infektionsgeschehen auf einem Schiff: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113263/SARS-CoV-2-8-von-10-Passagieren-auf-Kreuzfahrtschiff-ohne-Symptome-infiziert

Hier wurde erstens die bereits bekannte Zahl von bis zu 80% asymptomatischer Verläufe (bei denen in Japan aber nebenbei bemerkt teilweise Lungenschäden festgestellt wurden) bestätigt und zweitens wird trotz schnell verhängter Quarantäne auf den Kabinen eine Infektionsrate von deutlich mehr als 50% vermutet.

Dies bestätigt meine Einschätzung, dass wir mit Covid-19 eine einmalig schnelle und aggressive Krankheit sehen, die innerhalb weniger Tage Einrichtungen jeder Art lahm legen kann. Die daraus entstehenden Folgeinfektionen in den Familien und dem persönlichen Umfeld sind bisher nur ansatzweise erforscht. Viele dieser Fälle sind möglicherweise auf geschlossene Räume, Aerosole und vielleicht auch fehlende oder unterlaufene Hygienemaßnahmen zurück zu führen. Aber selbst das ist nicht wirklich klar, denn beispielsweise aus Südkorea (Call Center) sind Fälle bekannt, wo trotz Masken und Ausdünnung der Arbeitsplätze insgesamt 50% und auf der Seite der infizierten Person sogar fast alle angesteckt wurden. Welcher Schutz in geschlossenen Räumen also überhaupt wirksam ist, vor allem bei längerem gemeinsamen Aufenthalt, ist unklar – um nicht zu sagen: Zweifelhaft.

Dass solche „Hotspot“-Ereignisse eine große Rolle bei der Ausbreitung der Epidemie spielen könnten, hat jüngst der Wissenschaftsjournalist Kai Kupferschmidt aufgegriffen. Er veröffentlichte in Science zwei Beiträge zu mehreren Studien, die sich mit der Verteilung der Reproduktionszahl R beschäftigten, in der Zeit zudem einen allgemeinverständlichen Überblick dazu:

https://www.zeit.de/amp/wissen/gesundheit/2020-05/coronavirus-ansteckung-covid-19-patienten-schutzmassnahmen-infektionsherde?fbclid=IwAR1UmbUXWabE7V5qLDszpnE22ApsizxeL4XlB5nYL8i2uDxonOfjoEaB5Gc

https://www.sciencemag.org/news/2020/05/why-do-some-covid-19-patients-infect-many-others-whereas-most-don-t-spread-virus-all

https://science.sciencemag.org/content/368/6493/808

Diese Ergebnisse hatten sogar Christian Drosten in seinem Podcast fast schon beeindruckt und ihn zur Einschätzung gebracht, man könne das zur grundsätzlichen Änderung der Teststrategie nutzen. Ich bin an der Stelle etwas überrascht, weil ich darin eher wenig Überraschendes sehe. Dazu muss man wissen, dass in der Epidemiologie die Ausbreitung einer Infektionskrankheit bekanntlich über den Reproduktionsfaktor R beschrieben wird, der bei Covid-19 anfänglich in der Nähe von drei lag. Die oben abgebildeten Verdopplungsraten sind also tatsächlich Verdreifachungen in etwas längeren Abständen. Dabei ist R jedoch nur ein Durchschnittswert und er ist sehr schwer zu erheben. Das RKI bricht sich mit den mehr als schlechten Meldezahlen in Deutschland täglich die Finger an dieser Zahl und versucht sie allenfalls rückblickend einigermaßen richtig zu berechnen.

Nun wissen wir aber bereits aus den Anfängen der Epidemie, spätestens aus Italien und Österreich, über die Existenz von „Multispreadern“ oder eben „Hotspots“ wie Ischgl & Co. Die dort teilweise ja recht präzise erhoben Daten – siehe Posts von früher – zeigen teilweise Hunderte Ansteckungen an einem Ort bzw. bei einem Event. Dort war R also teilweise deutlich höher, bei einem Barkeeper aus Ischgl wird der Wert >100 vermutet, bei dem Chorsänger in den USA liegt er bei 79 und bei genauerer Untersuchung der jüngsten Vorfälle in Deutschland war vielleicht auch nur ein einziger Infizierter dabei, der mehrere Dutzend andere ansteckte.

Der Lockdown in Deutschland erfolgte vollkommen bewusst zu einem Zeitpunkt, als Urlauber aus Italien und Österreich – unbekannt viele von denen in einem Hotspot infiziert – in ihre sozialen Strukturen zuhause zurückkehrten. Die große Unbekannte waren dabei nicht nur die Zahl der importierten Infektionen, sondern auch die weitere Ausbreitung in unseren familiären/sozialen Verhältnissen. Es darf daher auch nicht wundern, dass bis Ende April niemand sich wirklich festlegen wollte, ob unsere Kliniken das bewältigen würden oder ob es zu Triage komme müsse. Eine „Unkenntnis“, die man nun wahlweise „den Wissenschaftlern“ vorwirft oder gar daraus ableitet, dass es eine große Welle gar nie gegeben habe.

Tatsächlich scheinen aber die Studien, die Kupferschmidt zitiert, das Geschehen einigermaßen gut abzubilden: Demnach besteht das Leben der meisten von uns in eher seltenen Gruppenkontakten und ansonsten im privaten/familiären Kreis vergleichsweise wenigen engeren Kontakten. Dahinter steht die Verteilung Kappa (K), die neben dem Buchstaben R letzte Woche die Runde machte. Kappa drückt aus, wie R sich tatsächlich verteilt und damit unter anderem auch, wie brauchbar der Durchschnittswert von R überhaupt ist. Nun kommen bereits die zitierten Studien zu sehr unterschiedlichen Bewertungen von K. Der Wert liegt zwischen Null und Eins, wobei ein kleiner Wert eine sehr große Streuung von R, also eine große Unterschiedlichkeit in den tatsächlich weitergegebenen Infektionen bedeutet.

Eine der Studien kommt zu dem Ergebnis, dass 80% der Infektionen von nur 20% der Infizierten verursacht wurden. In Worten bedeutet das: Es gibt wenige Masseninfektionen in Hotspots und danach stecken die dort erkrankten in der Regel nur noch einen oder gar keinen weiteren Menschen im engeren Kreis an. Wenn nun aber von diesen Infizierten ein weiterer ebenfalls bei so einem Hotspot auftaucht und dort wieder eine Masseninfektion auftritt, eskaliert die Sache trotzdem zu einem Mittelwert von R=3, also einer Verdreifachung alle paar Tage.

Was wir daraus auch ableiten können, sollte niemand unterschätzen: Covid-19 kann offensichtlich recht lange „unterm Teppich“ bleiben, wenn beispielsweise so ein singuläres Hotspot-Ereignis sich glücklicherweise verläuft oder nur an ein weiteres, ggf. sogar erst Wochen danach anknüpft. Sofern aber mehrere dieser Ereignisse unmittelbare Infektionsketten erzeugen, hat man lokal schnell einen Faktor R>30 und dann ist Heinsberg-2 in wenigen Tagen Realität. Das ist auch jetzt und trotz Sommer bei uns keineswegs auszuschließen – regional zumindest.

Das Fazit von Drosten lautet entsprechend, man müsse sich auf solche Hotspots fokussieren und das in Test/Quarantänemaßnahmen integrieren. Sein Vorschlag: Wenn jemand positiv getestet wird und an so einem Ereignis teilgenommen hat, sollten ohne weitere Tests auf Verdacht alle weiteren Teilnehmer unter Quarantäne gesetzt werden.

Das halte ich für eine sehr sinnvolle Strategie, die aber auch nicht neu ist, denn Südkorea und Japan machen das beispielsweise genau so. Sie machen noch mehr, denn sofern ein solches Ereignis festgestellt wird (siehe Nachtclub in Seoul, früherer Post), werden weitere potenzielle Hotspots in der betroffenen Region pro-aktiv auch gleich geschlossen. Dazu können dann auch Schulen zählen!

Insofern ist es für mich keine Neuigkeit, aber mit diesen Studien nun wissenschaftlich untermauert, dass wir für die Bekämpfung der Epidemie vor allem die Hotspots aus der Kette nehmen müssen. Die große Frage, vor allem für den Herbst/Winter, ist aber: Welche sind das und wie können wir die besser, vor allem aber schneller identifizieren. Denn die oben genannten Hotspot-Ereignisse zeigen aus meiner Sicht anschaulich, dass wir genau darauf nicht vorbereitet sind: Bereits die Entdeckung war doch eher zufällig, meist erst Tage später und dann rollt die mühsame Untersuchung, wer betroffen sein könnte, wer zu testen ist und wie man das dann durchführt. So konnten und können wir von Tag zu Tag neue Meldungen lesen, wie viele weitere Ansteckungen in dem Umfeld inzwischen bekannt wurden. Das ist für die Geschwindigkeit von Covid-19 eine vollkommen absurde Organisation, die wir dem föderalen Chor zu verdanken haben, der sich ausschließlich aus Machtgründen gegen eine zentralere Kompetenz bei der Bundesregierung durchgesetzt hat. Wenn uns das nicht mal spätestens im Herbst auf die Füße fällt !?

Fazit: Meine Einschätzung für die kommenden Wochen lautet: Wir müssen noch abwarten, ob die inzwischen sehr häufigen Menschenmengen im Freien tatsächlich keine Folgen haben. Es sieht aber so aus, dass dort solche Masseninfektionen nicht statt finden. Dann dürften wir tatsächlich bis zum Herbst zunächst mal mit lokalen Ausbrüchen in Einrichtungen jeder Art recht gut leben können – wobei es aus meiner Sicht keinen Grund gibt, diese teilweise sinnlosen Veranstaltungen so durchzuführen und jeder für sich muss entscheiden, welchen Risiken in geschlossenen Räumen er sich wirklich aussetzen muss. Sofern wir alle davon Gebrauch machen, sollte es zunächst mal bei regelmäßigen Einzelfällen bleiben.

Es ist aber dringend geboten, für den Herbst bessere Mittel zur Verfügung zu haben, um unser dann deutlich mehr in geschlossenen Räumen stattfindendes Leben ohne eine größere Welle zu ermöglichen. Dazu gehören die Tracing-App, ein besseres und schnelleres Meldewesen und vermutlich auch eine effizientere Durchsetzung von pro-aktiven Quarantäne-Maßnahmen bereits im Verdachtsfall. Idealerweise würde das flankiert durch mehr Forschung und auch ehrlichere Einschätzungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Klima- bzw. Heiztechnik. Wenn Züge und Flugzeuge sowie bestimmte Gebäude Virenschleudern sind, sollten wir darauf nach Möglichkeit mal für ein Quartal verzichten, statt uns mit einer größeren Welle eine Situation einzuhandeln, in der eben doch wieder eine große Opferzahl oder ein großflächiger Lockdown erforderlich werden.

Auch hier wäre eine pro-aktive Regelung zu bevorzugen. Beispielsweise durch Wiederaufnahme von Home-Office, durch mehr eLearning in Schulen und Universitäten etc. Also durch Reduktion von Verkehr, Verzicht auf Reisen, geringere Auslastung in Zügen und vieles mehr – und das, bevor wir eine zweite Welle überhaupt züchten.

Denn diese Gesetzmäßigkeit sollten wir nicht vergessen: Je später wir darauf reagieren, desto länger und teurer wird es!

Ich befürchte insgesamt, dass wir im Herbst eine größere und längere Aufgabe vor uns haben als im März. Ich sehe zugleich leider nicht, dass in der Politik oder in der Bevölkerung die dafür erforderliche Aufmerksamkeit herrscht. Die jetzt mögliche Entspannung – die sich zudem erst noch als stabil zeigen muss – sollten wir ganz sicher auch genießen, um wieder mehr zu leben, wir sollten diese Zeit aber auch unbedingt nutzen, uns auf die hoffentlich letzte Runde mit der Seuche bestens vorzubereiten.

Sonst wären wir genau so unwissend und hilflos wie die Menschen vor 100 Jahren. Die hatten aber einen Weltkrieg zu bewältigen – und sie hatten keine so weit entwickelte Wissenschaft. Welche Ausreden sollten wir haben, wenn wir nach der insbesondere in Deutschland sehr moderat verlaufenen ersten Welle in Runde zwei versagen sollten?

 

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