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CoroNews 21.06.2020

Nun haben wir also ein paar lockere Wochen hinter uns und sehen die ersten Folgen. Covid-19 zeigt seine enorme Infektiosität und zwar in genau der Form, die wie in meinem letzten Post erwähnt zu erwarten war: Singuläre Massenausbrüche in Einrichtungen, in denen sich rasend schnell eine große Menge/Quote infiziert, jüngst bei Tönnies, davor aber auch in ganz anderen Formen, von privaten Feierlichkeiten über Kirchenveranstaltungen, Paketdienstleister, immer wieder auch Schulen bis jetzt erneut in der Fleischindustrie.

Die neuen Fachbegriffe in den Medien, die Hotspot- oder Cluster-Infektionen, machen die Runde. Dazu hatte ich beim letzten Mal die Veröffentlichungen des Wissenschaftsjournalisten Kai Kupferschmidt aus Science zitiert und dort bereits erwähnt, darin wenig überraschendes zu sehen. Zur Erinnerung: Eine der Studien kommt zu dem Ergebnis, dass 80% der Infektionen von nur 20% der Infizierten verursacht werden – und das eben genau in solchen Hotspots. Covid-19 bzw. SARS-Cov-2 ist so rasch übertragbar, dass vielleicht sogar ein einziger Infizierter genügte, um bei Tönnies mehr als 1000 Menschen zu infizieren.

Das alles ist aber ein alter Hut, denn natürlich sind solche Ereignisse die Basis für die anfänglichen raschen Verdopplungsraten bei der Ausbreitung der Epidemie. Ich wundere mich allenfalls über das Erstaunen bei der Beobachtung dieser Vorgänge. Da wir in unseren sozialen Strukturen und aufgrund der meisten Arbeitsumgebungen schon lange nicht mehr ständig in großen Gemeinschaften leben oder regelmäßig verkehren, ist es vollkommen klar, dass eben solche Gelegenheiten, in denen viele Menschen zusammen kommen, die großen Sprungbretter für das Virus sind. Dabei kommt die Besonderheit zum Tragen, dass SARS-Cov-2 bereits sehr früh – bereits zwei Tage nach eigener Infektion – und sehr oft von Symptomlosen weiter gegeben wird. Es ist somit eine Epidemie, deren Bekämpfung ganz besonders auf Fremdverantwortung angewiesen ist. Scheint nicht unsere Stärke zu sein …

Ebenso ist unser Meldewesen keine Stärke – und dass wir daran nichts unternommen haben, kann uns im Herbst wirklich teuer zu stehen kommen – in mehrfacher Hinsicht. Was ich mit „nichts unternommen“ meine, kann ich gerne deutlicher machen: Das Meldewesen ist eine Vollkatastrophe, es gehörte und gehört ersatzlos in die Tonne und auf eine neue, digitale Basis gestellt, die mit der „Anti-Corona-App“ zu verbinden ist. Wie unterirdisch das funktioniert sehen wir am gestrigen Lagebericht des RKI: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-06-20-de.pdf?__blob=publicationFile

Da heute Sonntag ist, gibt es natürlich keinen. Gestern sind aber die Ausmaße insbesondere bei Tönnies bekannt geworden – wobei nicht mal das stimmt. Tatsächlich sind dort unter Einsatz der Bundeswehr bisher knapp 6.000 Proben entnommen worden, von denen aber erst gut 3.100 ausgewertet sind – und davon waren 1.029 positiv, also ein Drittel. Wie lange das da schon läuft, kann man nur ahnen, aber ein Blick ins Krankenhaus hilft leider nicht nur in Ländern wie Brasilien für eine ehrlichere Bewertung: Im Krankenhaus Gütersloh werden derzeit fünf Tönnies-Mitarbeiter intensivmedizinisch behandelt, zwei davon werden beatmet. Das deutet darauf hin, dass die Sache bereits seit gut zwei Wochen munter unter dem Radar läuft und dass wir seitdem natürlich auch eine Ausbreitung in der Bevölkerung haben. Die jetzt bekannt gewordene Zahl von 1.000 dürfte also erst der Anfang sein.

Ob sich das noch einfangen lässt, muss sich also erst mal zeigen. Selbst der lockere Laschet hat einen regionalen Lockdown gestern nicht ausgeschlossen und alleine das will was heißen. Zugleich darf man bezweifeln, ob in der Größenordnung die jetzt endlich verhängte Quarantäne funktionieren kann. Dazu sagte Laschet, man werde die konsequent durchsetzen – mit dem Zusatz „mit allen verfügbaren Mitteln“. Na denn!

Der genannte Bericht des RKI greift neben Tönnies weitere Ereignisse auf: In Magdeburg zwischenzeitlich geschlossene Schulen, in Berlin, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern Ausbruchsgeschehen im Umfeld einer Glaubensgemeinschaft sowie Fälle in Alten- und Pflegeheimen beispielsweise in Verden. Dabei fällt folgendes auf: Für NRW listet der Bericht 1.200 Neuinfektionen über die letzten sieben Tage und 216 für den Freitag. Das bedeutet: In den Zahlen des RKI ist dieser große Cluster-Ausbruch allenfalls geringfügig, vermutlich sogar noch gar nicht enthalten. Den PKs aus Gütersloh zufolge hat man dort auch alle Hände voll zu tun und kann nicht auch noch die Faxgeräte mit Daten für das RKI befüllen. Das RKI zitiert Tönnies im eigenen Bericht also ganz offensichtlich aus der Presse, nicht aus den eigenen Daten! Dafür habe ich sogar Verständnis, gut ist daran gar nichts. Die Infrastruktur der Covid-19-Daten in Deutschland ist erbärmlich.

So ist denn auch die von allen beachtete Berechnung des „R-Wertes“ vom RKI, mit dem schönen Namen „Nowcasting“ versehen, in dem genannten Bericht einfach nur ein trauriger Treppenwitz und kein Stück mehr. Aus dem mit großen Latenzen und Qualitätsmängeln (Infektionszeitpunkt unklar!) ermittelten Datenhaufen überhaupt R zu berechnen, ist eigentlich unseriös. Damit das nicht zu erratisch oszillierenden Werten führt, bedient man sich in Berlin einiger statistischer Glättungsmethoden und weist schließlich sogar das Ergebnis selbst über einen gleitenden vier bzw. sieben Tage Durchschnitt aus. Das ist natürlich ein Widerspruch in sich, denn mit einer aktuellen Bewertung des Infektionsgeschehens hat das rein gar nichts mehr zu tun. Das ist für die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Covid-19 so etwas wie eine a posteriori Schätzung oder anders ausgedrückt: Sollte sich eine größere Welle aufgebaut haben, werden wir das gut zwei Wochen später an dem Wert ablesen können – kurz vor Beginn der Sterbewelle in den Krankenhäusern also. Erbärmlich halt.

Das RKI dafür ans Kreuz zu nageln, ist richtig und falsch zugleich: Für diesen Datenhaufen können sie nichts, aber ich hätte es richtig gefunden, wenn die angesichts der Durchsetzung dieser fatal-föderalen Lösung wissenschaftlich kar gesagt hätten: Wir sind dann aus dem Spiel, eine aktuelle Bewertung der Epidemie ist uns nicht möglich, wir können das Geschehen nur noch nachträglich bewerten. Aus Chronistenpflicht sei der Wert genannt: Dieser „Nowcast sieben Tage so schnell will das keiner wissen“-Wert liegt nun irgendwo zwischen 1,25 und 1,83, mit Schätzzentrum 1,55. Die auch nicht bessere vier Tage alte R-Schwester wird mit 1,79% ausgeschwurbelt. Wie viel Tönnies da jetzt wohl drin ist? Keine Ahnung, viel kann es nicht sein, das ist wegen dieser statistischen Methode mit einem starken Anstieg am Ende ohnehin nicht möglich – und wie gesagt können nicht viele Fälle in die Berechnung eingegangen sein.

Fatalerweise wird aus der Erkenntnis, dass solche Cluster so entscheidend für die Ausbreitung sind, sehr oft der falsche Schluss gezogen. Wie immer ist Laschet bei so etwas ganz vorne dabei: Zunächst hat er sich mit einer Bemerkung blamiert, das sei aus Rumänien eingeschleppt worden – was niemand weiß, es war vielleicht sogar ein Gottesdienst – und zugleich schwafelte er davon, das sei eine per se abgegrenzte Sache. So wie mit den Flüchtlingsheimen quasi, irgendwie außerhalb des Landes, kein Einfluss auf die Bevölkerung. Das war vorgestern, gestern fand er es schlimm, heute sickert durch, dass ein regionaler Lockdown erwogen wird – spannende Tage kommen da auf uns zu, diese Geschichte fängt gerade erst an!

In den Medien geht gerade dieser R-Wert herum, deutlich über 1 wird überall zitiert, meist mit dem Zusatz, es seien aber „lokale“ Ereignisse. Viele der schreibenden Journalisten können sich diesen RKI-Bericht kaum angesehen haben, geschweige denn, dass sie die Bedeutung dieser Berechnung einordnen können. So wird also der hohe R-Wert, der vermutlich deutlich zu klein ist, auf „lokale Ereignisse“ zurückgeführt und das breite Volk denkt mal wieder, es betreffe halt die Wanderarbeiter in der Fleischindustrie.

Tatsächlich ist dieses Cluster-basierte Geschehen extrem gefährlich, wenn man so ignorant mit der Sache umgeht, wie viele in Politik und Bevölkerung das tun. Schnell wird aus solchen Ereignissen irgendetwas singuläres gemacht, das mit der Allgemeinheit nichts zu tun habe. In einzelnen Fällen mag das stimmen, mit etwas Glück mag es auch gelingen, das Umfeld solcher Cluster mit den auf viele Zufälle und Wohlwollen angewiesenen Methoden der lokalen Behörden rechtzeitig in Quarantäne zu bringen und vielleicht gelingt es dann sogar, diese Quarantäne durchzusetzen. Vielleicht aber auch nicht. Was dann passiert, ist halt das trügerische: Lange passiert nämlich wieder nichts. Das Virus grassiert in unseren sozialen Strukturen zunächst eher in kleinen Kreisen, wird selten weiter gegeben, trocknet in vielen Verästelungen der Infektionsketten aus – bis ein Infizierter das nächste Cluster anzündet.

Man muss sich das besser vorstellen wie eine Serie von Großbränden, die mit einem gewissen Abstand auftreten. Zuerst passiert nichts, ein Lagerfeuerchen hier und da, alle lachen darüber und reden sich ein, es gibt kein Feuer mehr. Dann plötzlich ein Großbrand – aber dafür ist die Feuerwehr schließlich da, was soll´s. Der ist begrenzbar, der ist immer irgendwie „woanders“, wen interessiert das schon. Danach passiert dann tagelang nichts, der Großbrand ist unter Kontrolle, was soll das Geschrei. Und plötzlich kommt wieder so einer, dann wieder nichts, dann vielleicht drei gleichzeitig – und irgendwann ist es doch wieder ein Flächenbrand.

So können wir nicht in den Herbst gehen und so werden auch Kitas, Schulen und große Betriebsstätten keinen geregelten Betrieb nach den Ferien hinbekommen. Der Grund ist ganz einfach: Dass wir in Geschäften, Hotels, Gastronomie, Schwimmbädern, Kitas, Schulen, vielen Betrieben etc. – also den vielen Tausend Einrichtungen, in denen wir in geschlossenen Räumen Menschen zusammenbringen – derzeit nur Einzelfälle erleben, hängt halt ganz alleine von der geringen Infektionsbasis ab. Wenn aber Großbrände wie Tönnies jeweils nur ein Dutzend Infizierte in der Breite hinterlassen, also Menschen, die teilweise ohne eigenes Wissen und Empfinden am gemeinsamen Leben teilnehmen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir recht bald neben den Großbränden in Masseneinrichtungen auch in den kleineren Clustern Infektionsgefahren erleben.

Dann wird es mit der jetzigen Infrastruktur ohne Lockdown eben nicht mehr gehen. Die Epidemie durchlaufen zu lassen, funktioniert nicht. Trotz aller Bekundungen von Politikern, keinen Lockdown mehr zu verhängen oder mit den maßvollen Einschränkungen wie jetzt durchzukommen, glaube ich daran nicht. Sollten die Erfahrungen aus Schweden und UK vor unserer Tür sowie aus New York und Brasilien in der Ferne die Politik immer noch locken, selbst bei größeren Ausbrüchen erst mal locker zu bleiben, wird es nur noch schlimmer. Die Regel gilt natürlich immer noch: Wer zu spät den Lockdown macht, wird ihn umso längerer benötigen. Wer gar wartet, bis die Sterbezahlen in den Krankenhäusern unübersehbar werden, wird den Zusammenbruch des Gesundheitssystems nicht verhindern können – und dann richtig lange und richtig hart alles mögliche schließen müssen.

Wir sehen es in Asien, wo mit wesentlich effizienteren Frühwarnsystemen trotzdem immer wieder Ausbrüche zu lokalen Schließungen führen. Dabei sind die dort etablierten, besseren Erkennungssysteme letztlich dazu da, lokale Maßnahmen schneller anordnen zu können – und nicht, sie zu verhindern. Wir unterliegen also einem mehrfachen Irrtum, wenn wir glauben, unsere föderale Lösung komme mit der Sache ohne Lockdown zurecht. Weder sind wir in der Lage, Ausbrüche frühzeitig und zuverlässig zu erkennen, noch geht es darum, Schließungen dadurch zu vermeiden. Es geht vielmehr darum, diese frühzeitig, lokal begrenzt und gerade aufgrund der Rechtzeitigkeit auch so kurz wie möglich zu verhängen.

Vielleicht scheitert unsere Lösung sogar schon vor dem Herbst – vielleicht ist Tönnies unser Ischgl, wir werden es erleben. Es wäre nicht mal ein Nachteil, wenn uns die Sache zumindest lokal recht bald entgleiten würde und nicht erst großflächiger im Herbst. Statt über Öffnungen zu reden, sollten wir mehr über die Verantwortung aller sprechen, um gesundheitliche Schäden und härtere Maßnahmen für alle zu vermeiden – und uns trotzdem daran gewöhnen, dass es lokal immer wieder zu vorübergehenden Einschränkungen kommen kann. Die dauern in Asien oft nur 10 bis 14 Tage und sind teilweise auf Stadtteile begrenzt – damit kann man leben. Mit dem erratischen Durcheinander bei uns kommen wir nach meiner Befürchtung nicht weit, das ist keine Lösung, die uns über die nächsten sechs bis acht Monate bringt – und genau das müsste unser Horizont jetzt sein.

Die von mir bevorzugten Oxford-Modelle signalisieren jedenfalls schon jetzt den Beginn eines neuen Ausbruchs, dabei sind auch hier die Tönnies-Zahlen rechnerisch nur bedingt enthalten. In Asien wäre der Raum Gütersloh jetzt bereits abgeriegelt und für ein bis zwei Wochen runtergefahren. Besser wäre es – sonst lässt sich eine Ausbreitung der Situation auf weitere Kreise in den kommenden Wochen kaum verhindern. Dafür haben wir in Deutschland überregional einfach zu viel Reiseverkehr. Wenn jetzt auch noch die innerdeutschen Ferien beginnen, wird das alles wunderbar im ganzen Land verteilt und vor allem in den Hochburgen des Urlaubsverkehrs steigt das Risiko ganz erheblich, zumal dort Hotels und Gastronomie beliebte Treffpunkte für Urlauber und Einheimische sind.

 

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