Wie schwierig die Einschätzung exponentieller Prozesse ist, dachten wir wohl im Frühjahr gelernt zu haben. Nun müssen wir erkennen, dass in weiten Teilen der Bevölkerung allenfalls die Lernfähigkeit für die gewünschte Fehlinterpretation nachgewiesen ist. Ich illustriere das mal an den Daten aus Spanien.
Nimmt man die Zahl der nachgewiesenen Fälle (Chart 1), so zeigen diese sogar inzwischen ein höheres Niveau als im Frühjahr. Sieht also nach einer zweiten Welle aus, die größer ist als die erste. Nun, das kann durchaus passieren, ist aber bei weitem nicht so, denn diese Daten kann man leider in keinem Land so vergleichen. Es ist ein großes Unglück, dass diese Kurven immer noch in den Medien verbreitet werden, denn das öffnet allen gewünschten Fehlinterpretationen Tür und Tor.
Da die Testverfahren stets Latenzen und Dunkelziffern aufweisen, kann man– wie bereits im Frühjahr – aus diesen Kurven nur den aktuellen Trend ablesen. Ich hatte das seit März hier stereotyp getan, weil ich mit den Medienberichten und unglücklicherweise auch denen des RKI nicht zurecht kam. Ebenso hatte ich immer darauf hingewiesen, dass Ländervergleiche aufgrund der Unterschiede in Testkapazitäten und Teststrategien nicht möglich sind. Auch hier lassen sich nur die Trends vergleichen. Neu ist daran nichts, jetzt kommt jedoch hinzu, dass man bitte auch innerhalb der Länder nur die aktuellen Trends mit denen des Frühjahrs vergleichen kann – die Höhe der Kurven täuscht.
Was Spanien und Chart 1 betrifft, sehen wir also derzeit, dass die Pandemie wieder wächst, jedoch mit weniger als der halben Geschwindigkeit. Punkt. Das und nicht mehr ist die Aussage dieses Charts. Leider ist nirgendwo in Europa eine Testinfrastruktur entstanden, die mehr hergibt – auch bei uns nicht.
Die einzig reale Auskunft zur Lage liefern die Daten aus den Krankenhäusern – Hospitalisierungen und die Sterbefälle laut Chart 2. Leider laufen diese Daten mit hohen Latenzen hinter der tatsächlichen Entwicklung hinterher und zwar länger, als im Frühjahr vermutet. Wie inzwischen in vielen Studien nachgewiesen wurde, wird das Virus primär unter jüngeren und mobileren Menschen verbreitet, bei denen die schweren Verläufe seltener sind. Anschließend dringt es in die Gesamtbevölkerung ein und führt dann erst zu dem gesellschaftlichen Gesamtbild, das einzig relevant ist. Daher muss man leider eher sechs bis acht Wochen warten, bis man die Auswirkungen des aktuellen Geschehens in den Sterbezahlen sieht. Umso bedauerliches ist es, dass die wenigstens etwas schneller reagierenden Hospitalisierungen nicht systematisch gemeldet werden.
Natürlich bestehen Hoffnungswerte, dass wir den Schutz vulnerabler Gruppen, insbesondere von Einrichtungen, in denen diese in ganzen Kohorten leben (Seniorenheime, Krankenhäuser) besser hinkriegen. Ebenso gibt es erste Behandlungserfolge, es sterben wohl inzwischen eher um ein Drittel unter der Beatmung, es waren anfangs mehr als die Hälfte. Wie es den Überlebenden hinterher aber geht und wie viele dieser schweren bis zu symptomlosen Fälle aber länger oder gar dauerhaft chronisch leiden, wird als relevanter Faktor immer deutlicher. Insofern muss man Behandlungserfolge mit großer Vorsicht nehmen, die Sterbezahlen als Spitze des Eisbergs sehen und damit besser vorerst mal auch nur als Indikator für die tatsächliche Entwicklung arbeiten – leider mit bis zu zwei Monaten Verzug.
Wegen dieses Verzugs sind die Daten daher zur aktuellen Einschätzung ungeeignet – was viele, leider auch einige wenige Wissenschaftler, nicht davon abhält, auf die ach doch so stark gesunkenen Zahlen hinzuweisen. Die in Chart 2 gezeigte Kurve ist die häufig verwendete: Sie signalisiert denen, die es gerne so sehen wollen, komplette Entwarnung. Berichte von „alles vorbei“ bis zu den hartnäckigen Gerüchten von harmloseren Mutationen oder schon immer übertriebenen Panikmeldungen ebben nicht ab. Der Fehler dieser Interpretation liegt in dem eingangs erwähnten: Man kann die aktuellen Testdaten nur im Trend nutzen und eben nicht mit denen im Frühjahr vergleichen, es ist schlicht falsch, die Sterbezahlen daneben zu legen, weil im Frühjahr tatsächlich weit höhere Infektionszahlen vorlagen. Die genannten Hoffnungswerte, dass die Sterblichkeit nun zurück gekommen sei, sind nur Hoffnungswerte und sie sind bedeutend kleiner, als es diese falschen Vergleiche suggerieren. Für eine Neubewertung der Gefährlichkeit der Krankheit, das sagen sogar Wissenschaftlicher, die für die stärkere Beachtung dieser Zahlen plädieren, gibt es keine Grundlage.
Ein weiterer Fehler bei der Bewertung der Todesfälle ist diese lineare Darstellung. Demnach sterben in Spanien derzeit pro Tag also im Wochenschnitt ca. 60 Menschen, zum Höhepunkt waren es fast 900. Was bedeuten schon 60 Sterbefälle oder bei uns die 10 pro Tag. Es sterben so viele Menschen an allem möglichen – wir lesen es täglich in Kommentaren und Berichten, es ist weit verbreitete Meinung. Erinnern wir uns vielleicht an den März, als wir ebenfalls solche Werte hörten und leider dieselben Meinungen. Was sind schon 10 Todesopfer bei einer Bevölkerung von 86 Millionen. Nein, wir haben wohl wirklich nichts gelernt.
Erneut gilt der Hinweis der exponentiellen Entwicklung. Bei einer Verdopplung alle zwei Tage – wie im Frühjahr – wurden aus diesen zehn Fällen innerhalb eines Monats halt fast 1.000 Fälle in Spanien und das brach nur deshalb an diesem Peak ab, weil die weitere Ausbreitung – vorher!! – durch einen Lockdown unterbunden wurde, der im Unterschied zu den Schließungen bei uns sogar diesen Namen verdient. Daher muss man solche Prozesse in einer logarithmischen Skala darstellen und das ist in Chart 3 der Fall. Hier erkennt man, dass der exponentielle Prozess eben nicht bei weniger als einem Zehntel, sondern ca. bei der Hälfte des Niveaus vom Frühjahr steht. Und diese Daten sind vergleichbar, weil es die Sterbefälle sind!
Nun sehen wir im Fazit also, dass die Epidemie in Spanien mit etwas weniger als der halben (exponentiellen) Geschwindigkeit wächst, aber bereits im Bereich des halben Niveaus der ersten Welle steht. Das kann man als erste Phase einer zweiten Welle bezeichnen und deren Prognose ist momentan recht einfach: Läuft das so weiter, wird sie aufgrund der längeren Dauer über Herbst und Winter die erste Welle bereits übertreffen. Beschleunigt sich die Entwicklung gar – was nun über den Herbst und Winter zu erwarten ist – würde diese Welle die erste sogar sehr deutlich übertreffen, ggf. sogar verdoppeln. Das erkennt man recht gut in Chart 4, das nicht die gemessenen Fälle, sondern verschiedene modellierte Hochrechnungen des wahren Verlaufs der Infektionen darstellt. Diese Modelle zitiere ich hier bereits seit einigen Wochen, sie werden laufend verbessert und man sieht hier, dass sie sich dabei deutlich annähern. Hier ist das der Wahrheit am nächsten kommende Bild, das wir derzeit haben!
Man erkennt, dass die Geschwindigkeit geringer, aber das Niveau bereits jetzt zu hoch ist. Da die Gefährlichkeit der Krankheit unverändert und ihre Behandlung inklusive Folgeschäden immer noch kein relevanter Parameter ist, muss die Geschwindigkeit also bereits jetzt reduziert werden, wenn wir eine Wiederholung des Führjahrs verhindern möchten. Beschleunigt sich die Sache mit mehr Leben in geschlossenen Räumen gar, wäre auch eine Verdopplung der ersten Welle nicht auszuschließen. Je früher das mit sehr effizienten und geeigneten Maßnahmen beginnt, desto eher kann ein Lockdown verhindert werden.
In Spanien schließt sich das Fenster zur Vermeidung eines Lockdowns im Herbst/Winter bereits erkennbar. In Deutschland ist es noch anders, aber hier besteht die Befürchtung, dass eine Wiederholung des Niveaus vom Frühjahr sogar politisch akzeptiert wird. Das wäre aus meiner persönlichen Sicht bereits ein Versagen, politisch vermisse ich dazu eine ehrliche Debatte, ob die Mehrheit bereits diese Strategie trägt. Hinzu kommt, dass sie bei dem unverändert aggressiven Ausbreitungspotenzial des Virus durchaus misslingen kann. Dann droht auch Deutschland wieder eine Diskussion über einen Lockdown.
Je mehr weiter über Lockerungen diskutiert, Verharmlosungen mit Hinweis auf aktuelle Sterbezahlen Vorschub geleistet und der Verweigerungshaltung von Teilen der Bevölkerung Bestätigung geliefert wird, desto wahrscheinlicher wird dieses Worst-Case-Szenario. Das sollte in der politischen Kommunikation trotz der persönlichen Agenda vieler Ministerpräsidenten und Parteiführer endlich erkannt werden. Es ist ein Spiel mit einem Gegner, den man nicht einen Millimeter aus den Augen lassen darf, bis er final erledigt ist.