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Exponentialrechnung darf auch mal über den Daumen erfolgen

Der billigste Trick, eine ungewollte Bewertung anzugreifen, besteht darin, eine beliebige Nachkommastelle in der Argumentation zu finden und die Debatte darauf zu fokussieren.

Vielleicht hätte die Kanzlerin gestern besser von „bis zu 20.000“ Infektionen pro Tag gesprochen und von „noch dieses Jahr“. Dann noch zwei Mal „müssen wir von ausgehen“ oder ähnliches. Nun, hat sie nicht, sie sprach von 19.200 und nannte den Termin Weihnachten.

Das löst nun kaum überraschend die billigen Beißreflexe aus: Weiß sie nicht, kann man so nicht rechnen usw. Besonders witzig sind Beiträge, die sich zuerst länglich darüber auslassen, man könne das nicht rechnen, um dann in einer eigenen Berechnung zu münden, die für Weihnachten irgendeine nicht mal auf Hundert gerundete Zahl unter 5.000 oder unter 3.000 „nachweist“.

Natürlich kann man das nicht „rechnen“, muss man aber! Es ist halt eine Krise, die rasches, entschlossenes und vorsorgliches Handeln erfordert. Also muss man sich die Trends anschauen und es ist vollkommen klar, was die sagen: Wir haben vom tiefsten Punkt bei einem 7-Tage Durchschnitt von 350 nun innerhalb von 40 Tagen zwei Verdopplungszyklen gesehen. Das verlief zudem nicht gleichmäßig, sondern mit den Urlaubsrückkehrern zunächst schneller, bis diese Zwischenentwicklung – immerhin! – etwas gebremst werden konnte, bevor es dann aber leider innerhalb der Gesellschaft dann halt doch wieder zur Diffusion kam, die nun eine Beschleunigung erfährt.

Wir liegen also im Mittel über den Sommer bei einem Verdopplungszyklus von 20 Tagen, sehen aber bei den Anstiegsphasen eher 15 Tage. Im Sommer – jetzt beginnt der Herbst.

Vom aktuellen Niveau sind wir mit vier Verdopplungszyklen bei den 20.000. Das ist halt eine Exponentialkurve, viele scheinen es einfach immer noch nicht zu verstehen. Ob wir diese vier Zyklen nun in 80 Tagen oder in 60 haben? Oder vielleicht mit Beginn des Herbstes sogar schon in 40? Oder vielleicht doch wie in anderen Europäischen Ländern derzeit und wie bei uns im Frühjahr ebenfalls mit ein paar Zwischensprints von Verdopplungen alle zwei Tage dann doch bereits im Oktober?

Klar, kann man das nicht „berechnen“. Nicht über so einen langen Zeitraum. Die besseren Modelle arbeiten für zwei bis vier Wochen – ich zeige das hier seit März und das hat selten daneben gelegen. Aber man muss nun auch mal weiter nach vorne blicken – und vor allem darüber reden, genau jetzt!

Wir sehen exakt dieselbe Metrik wie im Frühjahr, in vielen Nachbarländern sogar mit ähnlicher Geschwindigkeit. Bei uns läuft es derzeit bedeutend langsamer. Das ist ein Zeitgewinn, für den wir dankbar sein können und den wir nutzen sollten – oder mit vollkommen bescheuerten Rechenspielchen, die nur eine dumme Verweigerungshaltung zum Ausdruck bringen, versäumen.

Denn die Kanzlerin hat in der Substanz lediglich die derzeitige – langsame – exponentielle Entwicklung vorausgesetzt und damit vollkommen richtig darauf hingewiesen, dass selbst die uns in Zahlen führen wird, die uns unter einen Zugzwang setzen, den wir nicht mehr haben wollen. Das ist die Essenz ihrer Aussage und die ist substantiell begründet, auch wenn sie in der Tat nicht wissen kann, ob es ein paar Hundert mehr oder weniger sind und ob es nun Heiligabend oder der 1. Weihnachtstag sein mag.

Was bitte ändert das an der Relevanz der Aussage? Nichts!!

 

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