First Atom Bomb explosion at Bikini

Der Sinn und der Unsinn von „Mutationsdebatten“

Über Mutationen wird seit Beginn der Covid-19 Pandemie debattiert. Natürlich. Auch das. Wie über alle Themen aus der Epidemiologie. Und der Virologie. In den Medien. In den sozialen Medien. Von „Experten“. Von Jedermann. Manchmal sogar von Experten.

Besonders „witzig“ finde ich als Mathematiker Aussagen oder Kommentare, die mehr oder weniger bestimmte Kausalitäten nennen: Da „wird“ sich „das Virus“ mal so oder mal so „weiter entwickeln“, das sei alles natürlich und vorbestimmt. Je nach Position machen dann Gegenmaßnahmen ohnehin keinen Sinn, die Sache mit den Impfstoffen natürlich inkludiert.

Nun sind also gleich zwei etwas relevantere Mutanten entdeckt worden, eine in Südafrika und eine in London. Letztere heizt die „siehste“-Debatten in alle Himmelsrichtungen an.

Mit besonderem „Witz“ sind Kommentare derjenigen versehen, die bisher eher von Panikmache sprachen, wenn man für so etwas wie Umsichtigkeit plädierte und die nun „Weisheiten“ von sich geben, deren Inhalt so bedeutungsschwer ist, wie die Erkenntnis, dass wir ohnehin alle sterben werden. Logisch gesehen ist der Tod das Ende des Lebens und der Umkehrschluss folglich, dass das Leben zwingend die Verhinderung des Todes bedeutet. Dass wir dessen Verhinderung ansonsten so angenehm wie möglich gestalten wollen, ist unstrittig Teil des „Geschäftsbetriebs“, aber ein guter Künstler weiß zwischen Rahmen und Leinwand zu unterscheiden, der Lebenskünstler sollte das auch tun.

Den meisten Aussagen zu dem „Masterplan“ von Mutationen gemein ist vor allem die Unkenntnis von Wahrscheinlichkeitsrechnung. Damit kenne ich mich recht gut aus und nach dem Studium nicht weniger wissenschaftlicher Quellen kann ich das recht einfach zusammenfassen. Es gibt genau drei mögliche Szenarien dieses Evolutionsprozesses:

i) Das Virus wird sich selbst ausrotten, ii) es wird für den Menschen vollkommen harmlos, iii) es wird sich zwischen >100 und >10.000 Jahren zwischen i) und ii) bewegen – bis dahin darf weiter debattiert werden.

Unter bewusstem Verzicht auf die dafür in der Virologie relevanten Fachbegriffe, die ich vermutlich allenfalls ordentlich anzubringen in der Lage wäre, mit denen ich aber Wissen simulierte, das ich gar nicht habe, beschreibe ich das allgemeinsprachlich: Es handelt sich gewiss nicht um einen „Plan“ des Virus und an der Stelle auch nicht um einen des Menschen. Zu dessen Planungs(un)fähigkeit komme ich gleich, denn das könnte in den oben genannten Szenarien der vierte Punkt sein.

Vielmehr sprechen wir hier von mehreren biologischen Kausalitäten, die sich in einem dynamischen Geschehen gegenseitig beeinflussen: Ein Erreger kann ohne Wirt nicht existieren, er kann nur in dessen Zellen leben. Die Immunabwehr des Wirts versucht, das zu verhindern. Gelingt dies, stirbt der Erreger in diesem Wirt aus. Nistet sich der Erreger hingegen ein, kann er sich vermehren und potenziell auf weitere Wirte überspringen. Je weniger er den Wirt dabei beeinträchtigt, desto wahrscheinlicher ist das. Macht der Erreger den Wirt hingegen sehr krank oder tötet ihn gar, stirbt er mit diesem Wirt ab, trotz der Überwindung des Immunsystems.

Diese Prozesse erfolgen durch viele biologisch miteinander interagierende Strukturen: Das Virus selbst, Substanzen der Immunabwehr, die Zellreaktionen des Wirts etc. Das ist kein statisches Geschehen, vielmehr verändern sich diese biologischen Strukturen. So entwickeln sich im Immunsystem Abwehrstrukturen oder das Virus selbst verändert sich, es „mutiert“. In der Fachliteratur wird leider oft von „Lernen“ oder „Trainieren“ gesprochen, das finde ich sprachlich eher unglücklich, denn auf der Ebene hat es damit m.E. wenig zu tun.

Tatsächlich kann man das Geschehen trotz gänzlich anderer Gesetzmäßigkeiten mit der Entwicklung des Wetters vergleichen. Auch hier gibt es klare Kausalitäten, wie sich beispielsweise Feuchtigkeit in der Luft bildet, wie sie wieder zerfällt oder zur Wolkenbildung führt, wie diese dann zusammenfinden oder auch nicht, wie es dann auf Wind oder Niederschlag wirkt – oder gar gewittert. Auch hier wirken kleinste „Teilchen“ nach klaren physikalischen Gesetzmäßigkeiten aufeinander ein – und trotzdem ist das „große Ganze“ kein „Plan“, sondern ein dynamisches Geschehen von vielen Milliarden einzelnen, jeweils für sich „gesetzmäßigen“ Vorgängen, deren Zusammenwirken aber letztlich nach etwas verläuft, das wir Zufall nennen.

Das mit dem „Zufall“ ist eine tatsächlich allgegenwärtige Sache, mit der die Menschen trotzdem ihre Schwierigkeiten haben. Grundsätzlich bereits, wenn wir merken, dass die Zufälle im Leben unseren Wunsch nach vollständiger Selbstbestimmung einschränken. Dabei sollten wir uns mal vorstellen, es wäre anders und wir könnten tatsächlich alles verlässlich planen? Würden uns nicht sehr bald die Pläne ausgehen, die Orientierung verloren gehen und die Langeweile auf dumme Gedanken bringen?

Generationen großer Denker haben sich mit diesen Fragen beschäftigt. Gibt es Zufälle überhaupt, kann das bei unserem zunehmenden Wissen um die vielen Gesetzmäßigkeiten sein, sind Zufälle gar nur diejenigen Gesetzmäßigkeiten, die wir nicht verstehen, gibt es eine höhere Ordnung, deren Teil wir sind und in der wir entsprechend auch nur den Teil zu erklären wissen, den wir wahrnehmen können – und „stimmt“ unsere Wahrnehmung überhaupt. Das Höhlengleichnis Platons sei an der Stelle empfohlen.

Ebenso kann ich die Mathematik anbieten, denn hier haben es uns bereits die Zeitgenossen Platons recht einfach gemacht: Tatsächlich ist der Zufall in der Mathematik schlicht zur Gesetzmäßigkeit erklärt worden und das passt nicht nur sehr gut zu Platons Gedanken, sondern auch zu sehr vielen in der Natur vorkommenden Geschehnissen.

Ein sehr schreckliches, aber anschauliches Beispiel ist die nukleare Kettenreaktion, die erst ab einer kritischen Masse stabil bleibt und sich darunter stets verläuft. Bei der Spaltung eines Kerns werden weitere Teilchen freigesetzt, die ihrerseits einen Kern spalten können – oder auch nicht. Alles Zufall. Multi Milliardenfach. Und trotzdem lässt sich mit der Mathematik exakt bestimmen, wie viele Kerne auf welchem Raum verdichtet sein müssen, um zu einer Kettenreaktion zu führen, bei der sich die Zahl der spaltenden Kerne exponentiell bis zur Erschöpfung des Materials vermehrt. Die Berechnung ist übrigens lange vor dem Bau der ersten funktionierenden Kettenreaktion gelungen.

Die Gesetzmäßigkeit des Zufalls ist insofern keine Utopie, sondern Realität und damit sind wir wieder beim Wetter: Durch die Fähigkeit, sehr viele lokale Messungen der physikalischen Effekte durchzuführen, können wir dieses komplexe und in sich deterministische Geschehen inzwischen ganz gut beobachten und auch für kurze Zeit voraussagen. Bei der biochemischen Reaktion eines menschlichen Organismus im Zusammenhang mit dem Eindringen eines Erregers geht das nicht.

Daher bleibt es bei den oben beschriebenen Szenarien: Da die Virusstruktur selbst und der menschliche Organismus in einem hoch dynamischen biochemischen Prozess aufeinander reagieren, passiert natürlich alleine mit Blick auf die Mutationen alles und jedes: Wenn das Virus biologisch schädlicher wird und seinen Wirt häufiger tötet, nimmt zugleich die Wahrscheinlichkeit ab, dass Wirte noch sehr lange putzmunter herum laufen und es weiter geben. Daher grenzen sich die wahren „Killerkrankheiten“ oft von selbst ab – was nicht bedeutet, dass sie über viele Jahrhunderte Millionen Wirte töten können. Umgekehrt wird eine Mutation, der das Eindringen in den Körper besser gelingt, sich gegenüber ihren Wettbewerbern mit der Zeit durchsetzen. Kommt dann noch hinzu, dass die Schädlichkeit abnimmt, also die Zahl der Wirte und deren Kontakte mit weiteren potentiellen Trägern zunimmt, so wird diese Variante vielleicht irgendwann wie sehr viele Erreger praktisch in jedem Menschen vorkommen, ohne diese zu schädigen.

Daher behaupte ich aus mathematischer Sicht, dass es letztlich sogar nur eine Frage der Zeit ist, bis eine der beiden erstgenannten Szenarien in der Evolution eintritt. Letztlich wird sich ein Erreger entweder mit seinen Wirten ausrotten oder mit allen weiterleben.

Mit dieser „globalgalaktischen“ Zusammenfassung der Debatte über „Mutationen“ komme ich auf den Titel dieses Beitrags zurück: Worin liegt Sinn oder Unsinn so einer Debatte?

Nun, bezogen auf die beiden jetzt aufgetretenen Mutationen sollten zunächst die Jünger der Herren Wodargschiffmann et al. demütig erkennen, dass die Sache mit dem angeblich bereits mehrheitlich vorhandenen Immunschutz nicht nur schon immer falsch war, sondern nun offensichtlich als Steigerung von Falschheit vielleicht sprachlich angemessen als „bekloppt“ bezeichnet werden darf? Es ist nämlich in der Tat bekloppt, bei einem für den menschlichen Organismus vollkommen neuen Virus von irgendeiner existierenden Immunantwort auszugehen, es ist darüber hinaus geradezu irre, der Idee das Wort zu reden, man möge dieses neue Virus, das ja gerade am Anfang seiner Evolution im Menschen steht, auch noch freie Bahn geben.

Dasselbe sollten spätestens jetzt auch seriösere Wissenschaftler und Mediziner erkennen, denn: Tatsächlich sind im Rahmen der gerade erst gestarteten Evolution, die sich also im oben genannten Szenario iii) bewegt, gleich zwei Dinge passiert: Es hat sich eine Mutation entwickelt, die noch schneller und einfacher in die menschlichen Zellen einzudringen vermag und in Südafrika ist wohl eine entstanden, die tödlicher wirkt – vor allem für Jüngere.

Wer angesichts dieser Entwicklung nun von einem ohnehin nicht zu verhindernden natürlichen Vorgang spricht, der hat das Feld der Panikmache offensichtlich vor lauter Angststarre bereits in Richtung Defätismus verlassen. Diesen Teil der Debatte kann ich gar nicht mehr nachvollziehen, es mittelalterlich zu nennen, würde die Vernunft der Menschen zu Zeiten von Pest und Cholera beleidigen – und Platon war übrigens ohnehin schon deutlich weiter!

Denn: Der Sinn dieser ganzen Debatte besteht in der Tat darin, dass der Mensch die Entscheidung in der Hand hat, eine biologische Kettenreaktion zuzulassen oder sie zu stoppen. Daher habe ich auch das Beispiel der Kernspaltung bemüht. Die ist gut berechenbar, weil die kausale Interaktion der Teilchen recht eingeschränkt ist. Die biologische Kettenreaktion eines neuen Erregers erzeugt hingegen vielfältige Effekte und je mehr wir davon zulassen, desto mehr wird passieren.

Zwingend! Vorbestimmt! Definitiv! So einfach ist das!

Die jüngsten Aussagen und ersten Erkenntnisse zu den Mutationen legen nahe, dass die bereits entwickelten Impfstoffe dagegen wirken. Die Variante aus London ist natürlich in Europa bereits unterwegs. Ob die jetzt hektisch beschlossenen Maßnahmen an den Grenzen daran etwas ändern, mag jeder für sich bewerten. Ich empfehle dazu einen Bericht aus der Schweiz, wo man gerade mit dem Aufspüren von britischen Urlaubern beschäftigt ist. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/skifahren-in-zeiten-der-pandemie-17114961.html

Das ist nur ein singuläres Beispiel für den unglaublichen Dilettantismus, mit dem die meisten Länder Europas dieser Pandemie begegnen. Es ist eine Abfolge von Ignoranz, Arroganz, Unbeweglichkeit und zunehmend unbeweglicher Verharrung. Wir diskutieren angesichts dieser Entwicklungen immer noch Dinge wie die Gestaltung von Weihnachtsfesten und lassen uns von dem quartalsdenken eines ökonomischen Systems dazu verleiten, einen biologischen Evolutionsprozess zuzulassen, der sich in Jahrhunderten entwickelt – oder eben auch nicht!

Denn das Szenario iv) in der oben genannten Aufzählung ist natürlich der mögliche Plan des Menschen im Jahr 2020, der im Unterschied zu Platons Höhlenmenschen und den nicht mal über Erreger informierten Menschen des Mittelalters über die Mittel verfügt, die Kettenreaktion zu stoppen. Daher lautet der Sinn der Debatte über Mutationen nach allen Regeln von Logik, Humanismus, gesellschaftlichem Erhaltungstrieb und ökonomischer Notwendigkeit: ZeroCovid bis zur Herdenimmunisierung durch Impfstoffe.

Sofort! Keine Debatte über Öffnungen. Keine Debatte über „alternative“ Strategien. Keine Debatte über „Leben mit dem Virus“. Keine Debatte über vermeintlich ungefährliche Infektionen. Das gibt es alles nicht, es gilt, diesen Prozess gleich im ersten Jahr einzugrenzen.

Wir reden hier nicht von ein paar Quartalen, wir reden von einer biologischen Kettenreaktion, die die heute lebende Menschheit und ganze Nachfolgegenerationen über Jahrzehnte beschäftigen kann. Das ist der Zeithorizont, über den es zu sprechen gilt!

 

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