Das Jahr 2020 ist vorbei. Viele sagen, dass es ein schlechtes war, ein Krisenjahr. Das darf man heute wohl dazu sagen, aber Krisenjahre werden langfristig danach bewertet, was aus der Krise wurde. Vielleicht wird 2020 mal als das Ausgangsjahr vieler Fortschritte gesehen, bei der Präventionsmedizin, bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten, bei geopolitischen und gesellschaftlichen Veränderungen – und vielleicht auch bei so manchen Verlusten, die sich als Gewinne herausstellen.
Für solche Jahre gilt: Es wird das sein, was wir alle daraus machen, die Bilanz dieser Jahre wird erst in der Zukunft geschrieben. So sollten wir aus meiner Sicht 2021 angehen.
Meine persönliche Bilanz des Jahres ist geprägt durch ein „Vollwaschprogramm“ des sozialen Umfelds. Die vielen Debatten auf den sozialen Medien spiegeln das. Dort wurde ich vom neoliberalen Turbokapitalisten bis zum linksradikalen Alarmisten in fast jeden Adelsstand erhoben. Im realen Sozialleben war das genauso, hier sind überraschende Freundschaften und ebenso überraschende Enttäuschungen vorgekommen. Letztere gehören zu den Verlusten, die sich bei näherer Betrachtung als Gewinne herausstellen.
Das ist vermutlich sehr vielen so ergangen. In Summe ist es gewiss zunächst mal das, was wir als gesellschaftliche Spaltung erleben. Ich halte es aber für falsch, Covid-19 als Ursache dieser Spaltung zu bezeichnen. Die Pandemie ist wohl eher auch hier so etwas wie der Detektor bereits zuvor vorhandener Dinge. Dabei tun die Missstände besonders weh und wir neigen zunächst dazu, diese gegenüber den neu gewonnenen Dingen stärker wahrzunehmen. Das ist auch richtig so, denn es bedeutet die Chance, Missstände abzustellen.
Den größten Missstand sehe ich in unserem ökonomischen System, in dem ich mich in der Tat im genannten Spektrum vom Neoliberalen bis zum Linksradikalen wähne, denn dieses System ist schlicht kaputt. Als Ende der 90er die Dotcom-Krise begann, hatte ich erstmals grundsätzlichere Zweifel an meiner marktwirtschaftlichen Grundausbildung. Mit der 2007er Finanzkrise habe ich den Ausgang dieser Schule gesucht und da diese Krise bis heute ohne jeden Fortschritt weiter existiert, bin ich 2020 ausgetreten: In diese ungelöste Finanzkrise kippen wir nun nochmals viele Billionen weiteren Geldes und der Ausweg rückt immer weiter in die Ferne, die Insolvenzverschleppung wird zum uferlosen Standardprogramm.
Bereits 2007 durften wir nüchtern feststellen, dass unsere Finanzindustrie im Wesentlichen längst keine Dienstleistung für die Realwirtschaft mehr war und 2020 sollten wir nun fragen, ob unser ökonomisches System noch Dienstleister für unsere Gesellschaft ist. Ein System, das Billionen bewegt und verdient kann nicht mal ein Jahr langsamer fahren, ohne dass Billionen Kunstgeldes rein gekippt werden? Und selbst das führt nicht mal dazu, den Existenzdruck als einen Treiber der gesellschaftlichen Spaltung abzustellen? Und es belohnt das kranke Anspruchsdenken und damit einen weiteren Treiber der Spaltung?
Ich frage mich an dieser Stelle nach Ursache und Wirkung. Sind wir alle Homo Oeconomicus und Homo Consumicus zugleich, so dass wir diesen Irrsinn erzeugt haben oder hat sich da etwas in der globalen Ökonomie verselbständigt, dem wir dringend Einhalt gebieten sollten?
Für einen inzwischen in der VWL Forschenden und Lehrenden sowie zum Gelegenheitsschreiber mutierten ist das eine zentrale Frage unserer Reaktion auf eine mit 2020 lediglich um einen weiteren Dominoeffekt ergänzte Krise. Denn in der Tat sollte der Mensch die Systemfrage nun endlich stellen: Wollen wir das überhaupt?
Antworten habe ich nur in Ansätzen, aber ich erlaube mir zunehmend, meinen Studierenden die unbestrittene Leistungsfähigkeit marktwirtschaftlicher Systematik mit nicht wenigen Hinweisen auf Marktversagen zu vermitteln. Das Jahr 2020 dürfte mir eine ganze Reihe an Ergänzungen liefern.
So erleben wir zweifellos, dass beispielsweise bei der Impfstoffentwicklung großes geleistet wurde, jedoch nicht ohne staatliche Eingriffe in „den Markt“. Seitens der Staaten sehen wir vor allem in den westlichen Industrieländern darüber hinaus aber viele Eingriffe zur Bewahrung veralteter Strukturen, während ausgerechnet für Innovationen und Veränderungen trotz der Geldorgien kaum etwas übrig ist. Das gilt sogar für die Bereiche, in denen es sofort ersichtlich wäre: Im Gesundheits- und im Bildungswesen.
Krisen beschleunigen Trends, die vorher bereits da waren. Das wird die strukturellen Änderungen in der Ökonomie auch betreffen, dagegen können die Staaten noch so viel Stützungsgeld aufwenden – es ist kontraproduktiv verschwendet. Die weitaus spannendere Frage ist aber, ob diese Krise die bereits lange laufende Systemkrise nun ebenfalls beschleunigt.
Damit ist zu rechnen und dann dürfte es ab 2021 zunächst mal noch viel lauter als in 2020 werden. Wenn Homo Oeconomicus und Homo Consumicus aus ihrer längst nicht mehr existierenden Kuschelzone herausfallen, wird die zweifellos erforderliche Unruhe zunehmen. Die heute wahrgenommene Spaltung der Gesellschaft dürfte dann ebenfalls die erforderliche Dynamik bekommen. Wir sollten das nicht beklagen, sondern als unvermeidliches Symptom eines ebenso unvermeidlichen Veränderungsprozesses sehen.
In diesem Sinne freue ich mich auf 2021!