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Ein längst nicht vergessener Brief an einen Freund

Ein Leser erinnerte mich gestern an einen „Brief an einen Freund“, den ich am 12. Mai 2020 veröffentlichte. Es war ein sehr bemerkenswertes Erlebnis, denn diesen Brief hat es wirklich gegeben.

Der Empfänger ist ein emeritierter Wissenschaftler, der auch heute noch ein guter Freund ist, mit dem dieses Thema aber als Tellermine gegenseitig akzeptiert ist. Seine damalige Antwort war eher schmal: Das sei überwiegend ein nicht wissenschaftlich fundiertes Meinungsstück. Eine Feststellung, der nicht zu widersprechen ist.

Als ich diesen Brief aus einer spontanen Laune auf meinem Facebook-Profil veröffentlichte, fand dieser erstaunliche 50.000 Leser. Mit der damaligen „Notizen-Funktion“ konnte man die Zahl abrufen. Unter meinem Profil gab es eine demgegenüber recht kleine, überwiegend konstruktive Debatte. Der Beitrag wurde über 2.500 Mal geteilt, merkwürdigerweise sind davon heute nur noch wenige verfolgbar. Vermutlich bin ich aus so manchen „Freundeslisten“ gestrichen worden. Vielen dieser Weiterleitungen konnte ich damals folgen und habe überwiegend so etwas wie Schweigen festgestellt.

Offene Gegenrede gab es kaum. Ganz anders die Reaktionen im „echten“ Leben: Kaum ein Beitrag hat mir so viele heftige Reaktionen insbesondere von Kollegen aus den Medien oder der Wissenschaft eingebracht. Die waren überwiegend schockiert bis vernichtend. Spekulativ, nicht journalistisch, im Ton vergriffen, handwerklich inakzeptabel, rein subjektive Wutrede.

Was jedoch fehlte: Es erfolgte keine inhaltliche Auseinandersetzung. War (ist?) das Brett zu dick? Der Protest war laut, aber eher „formal“ – übrigens ebenfalls richtig, denn auch diesen Kritikpunkten ist nicht zu widersprechen. Mir wurde daher freundschaftlich abgeraten, das fortzusetzen, falls ich in Medien oder Wissenschaft noch etwas anstreben sollte.

Auch richtig, aber ich strebe vor allem an, zu sagen, was ich zu sagen habe. Daher erinnere ich heute an dieses Meinungsstück vom Mai und zwar ausdrücklich mit der Feststellung, dass leider außer der immer noch erfolgreichen Verzögerung der Insolvenzwelle fast alles Realität geworden ist.

Das ist aber gar nicht der relevante Punkt, denn: Wir sind nun Ende Februar 2021 in exakt derselben Lage wie im letzten Mai, als ich diesen Brief verfasste. Erneut ist eine Pandemiewelle durch Lockdowns erfolgreich gebrochen, die Daten sind weltweit zurückgekommen, jedoch auf eine Basis, die keinerlei Kontrolle über das Geschehen ermöglicht.

Wäre soweit auch noch keinen Kommentar wert, aber: Ich könnte jetzt einfach das aktuelle Datum über diesen Text setzen und statt der Prognose für den Herbst einfach April 2021 aktualisieren. Ansonsten wäre das wortidentisch immer noch passend.

Das ist bestürzend und die Frage muss wohl lauten, warum wir uns so schwer tun, die tiefere Realität dieses Briefes zu diskutieren: Wir müssen dieser Pandemie mit sehr unangenehmen Maßnahmen begegnen oder ihre natürlichen Konsequenzen akzeptieren. Es gibt keinen Weg dazwischen.

Das scheint wohl die eigentliche Dicke des Brettes zu sein und ich habe zunehmend den Verdacht: Die meisten Menschen ahnen oder wissen das, Wissenschaftler und Politiker inkludiert. Die Debatte aber ist überwiegend dieselbe, die eigentliche Härte des Themas wird vermieden.

Heute würde ich die Ursachen in drei Lagern sehen: Faschistoide Grundwerte, Ignoranz und Angst. Diese Lager sind nicht trennscharf, es gibt Schnittmengen – und das sind vielleicht sogar die gefährlichsten.

 

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