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Abschied

Ich musste mich verabschieden. Ich durfte mich verabschieden. Ich wollte es nicht, er wollte es so sehr, dass ich nur noch seinen letzten Willen spürte. So sehr und so voller Respekt, dass die Erkenntnis des Verlustes erst einige Tage nachdem sein Wille erfüllt wurde in voller Härte zuschlägt.

Die Rede ist von einem großartigen Menschen, einem großen Verlust, jemanden, dem man aus tiefstem Herzen zum Abschied sagt: Du hinterlässt eine Lücke, die nicht mehr zu füllen ist.

Immerhin konnte ich ihm das noch sagen. Ich durfte es sagen.

Es ist nicht mein erster Abschied, aber der erste, über den ich schreibe, denn das Thema ist ein unbeliebtes, ein Tabu: Sterbehilfe.

Dieses Thema war mit diesem großartigen Menschen schon lange eines und es war seit zwei Jahren sogar das prominenteste. Es tut hier nichts zu Sache, weshalb er die Situation kommen sah, in der er seinem Leben ein Ende setzen will – aus seiner Sicht muss. In der Diskussion wird zu oft die autonome Entscheidung eines Lebewesens, das kein würdiges Leben mehr empfindet, unter Rechtfertigungszwang gesetzt. Es liegt mir fern und es wäre respektlos, das zu tun.

Es war seine Entscheidung und er hat sie lange kommen sehen. Er war vorbereitet und zugleich – wie könnte es anders sein – auch überfordert. So wie es sein Umfeld war. Die Folgen werden mich vermutlich dauerhaft erschüttern, ich will sie auch deshalb hier teilen.

Natürlich bedarf Sterbehilfe auf gesellschaftlich/politischer Ebene einer Debatte, deren Ziel eine Regelung sein muss, unter welchen Voraussetzungen und wie sie gewährt wird. Ein allgemeiner Rechtfertigungszwang ist nicht zu vermeiden, ein individueller wird sich daraus ergeben, aber der muss in aller Würde, gewissermaßen in letzter Würde möglich werden.

Bekanntlich ist das Thema aber längst nicht so weit und das führte zu einem Abschied, der in seiner tatsächlichen Unwürdigkeit von diesem Menschen und seinem Umfeld so stark ertragen wurde, dass es so etwas wie eine besondere Würde doch wieder erreichte – zum Preis eines Kraftakts, der in einer Situation erforderlich wurde, in der eigentlich Hilfe angemessen wäre.

Vielleicht wäre es meinem Freund möglich gewesen, würdevolle Sterbehilfe doch noch zu erhalten. Aber die Zeit fehlte dann letztlich, denn seine Situation hatte sich durch einen kleinen Unfall schlagartig und unvorhersehbar schnell verschlechtert. Ihm wurde klar, dass der Zeitpunkt nun sehr nah war, dass er mit schnellen Schritten nun kommen wird.

Er wollte noch nach Hause, er wollte noch letzte Dinge regeln, aber selbst das war ihm von Stunde zu Stunde unwichtiger. Letztlich wollte er nur noch gehen. Seine Stimmung schwankte entsprechend noch leicht, bis ihm immer klarer wurde, dass der Zeitpunkt des Endes seines Dauerleidens nun kommt – und das machte ihn sehr zufrieden, er sprach sogar von einer gewissen Euphorie.

So war es ihm und seinem engsten Umfeld möglich, Abschied zu nehmen. Dass er die damit verbundene Entscheidung getroffen hat und wie er damit umgegangen ist, führte zur Würde im unwürdigen letzten Akt, denn: Er konnte lediglich durchsetzen, dass er die Gabe von Flüssigkeit und Nahrung sowie alle die Folgen therapierenden Maßnahmen untersagt. Er gestattete ausschließlich die symptomatische Behandlung von Schmerzen und Halluzinationen durch sedierende Therapeutika. Klar gesagt: Er ist absichtlich verhungert oder verdurstet. Dabei war ihm vollkommen klar, dass er einen sehr qualvollen Tod zum Abschluss seiner langen Qualen erleiden würde – in der Hoffnung, durch die Sedierung davon wenig mitzukriegen.

Wir werden nicht mehr erfahren, wie viel er davon bewusst ertragen musste. Sein Körper, sein Organismus haben die Fürchterlichkeit seines letzten Kampfes klar zum Ausdruck gebracht. Mehr dazu zu schreiben, verbietet der Respekt vor ihm.

Zugleich muss ich es andeuten, denn das sollte gerade in dieser schwierigen letzten Phase keinem Menschen angetan werden. Ich hoffe sehr, dass unsere Gesellschaft die Kraft findet, eine Lösung zu entwickeln, die denen, die keine Kraft mehr haben, so einen unwürdigen Kraftakt erspart.

Ich verneige mich vor diesem Menschen. Er hat nichts zu rechtfertigen. Wir haben uns vor ihm zu rechtfertigen, indem wir aus seiner Stärke die richtigen Schlüsse ziehen.

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