Der Epidemiologe Klaus Stöhr zeigt sich sehr wechselhaft in seinen „Analysen“. Während er 2020 mehrfach mit steilen Thesen aufwartete, die Pandemie breche bald zusammen, hat er nun eine vollkommen neue Position, derzufolge die Pandemie gar nicht aufzuhalten ist. Aus dieser These folgert er den Satz: „Normalität heißt dann natürlich auch, Infektionen zuzulassen, bei denen, die nicht impfwillig sind oder sich nicht impfen können.“
Er ist damit Repräsentant einer weiter verbreiteten Meinung, mit der eine Auseinandersetzung lohnt. Warum er in dem Interview (https://www.youtube.com/watch?v=TbuBn0zI_oA) trotzdem über „neue Kriterien“ zur Bewertung der Pandemie räsoniert und einmal mehr die Idee entwickelt, eine Mixtur aus Inzidenz, Altergruppen und klinischen Daten heranzuziehen, vorlegt, wird leider nicht in Frage gestellt. Der Moderator lässt ihn bei diesem wirren Vortrag ungestört.
Immerhin äußert dieser Protagonist der „mit dem Virus leben“ Strategie seine tatsächliche Motivation. Das wäre im Kern eine ehrliche öffentliche Debatte wert, die leider nie geführt wurde und immer noch nicht statt findet. Selbstverständlich kann man diese Durchseuchungsstrategie von immerhin >40% Ungeimpften und vermutlich >20% Impfdurchbrüchen als Gesellschaft beschließen, um im Gegenzug keine Einschränkungen mehr hinzunehmen. Aus meiner Sicht gehört zu so einer Entscheidung aber mehr als das Statement von ein paar Fernsehprofessoren, die sagen, es sei ohnehin nicht zu vermeiden.
Die tatsächlichen Daten widersprechen diesen Thesen weitgehend. Die beigefügten Charts vergleichen jeweils das Geschehen in dem unverändert interessanten UK mit denen Deutschlands. An der linearen Darstellung der Inzidenzen erkennt man, dass die durch EM und Öffnungen in UK mit sehr steilem Anstieg begonnene Delta-Welle – bekanntlich sehr überraschend – plötzlich ebenso steil abbrach. In der logarithmischen Darstellung erkennt man aber, dass nur wenige Tage Fortsetzung dieses Wachstums zu neuen Höchstständen geführt hätten. Nun ist inzwischen der Abbruch gestoppt und ein wesentlich flacherer Wiederanstieg erkennbar.
Im Vergleich dazu sehen wir in Deutschland, dass die vierte Welle sich beschleunigt und ihre Grenze daher noch unbekannt ist. In der linearen Darstellung sieht das noch harmlos aus, in der logarithmischen sehen wir, dass wir nur noch wenige Verdopplungszyklen von den Höchstständen entfernt sind.
Zugleich ist anhand der ICU-Belegungen zu erkennen, dass wir keineswegs mehr als die Inzidenz benötigen, denn alle weiteren folgen dieser selbstverständlich immer noch wie ein Uhrwerk. Wir haben jedoch ein anderes Verhältnis, das klinische Geschehen ist im Vergleich zu den bisherigen Wellen deutlich gedämpft.
Noch ist unklar, welchen Anteil die Impfungen und welchen mögliche Schutzreaktionen der Gesellschaft an der Begrenzung der Infektionen in UK bewirkt haben. Die Dämpfung der klinischen Daten ist hingegen ausschließlich auf die Impfungen zurück zu führen – und das ist die alles entscheidende Nachricht.
Für Deutschland ist dabei zu beachten, dass unser Impfschutz und sicher auch der zwar schwächere, aber dennoch relevante Immunschutz aus Vorerkrankung geringer sind als in UK, wie das Chart mit der Impfquote zeigt.
Zu beachten ist bei diesen Wellen zudem, dass sie in dieser Wucht mitten im Sommer, also deutlich früher als in 2020 ablaufen. Welchen Einfluss der Herbst auf das Geschehen haben wird, ist aus meiner Sicht nicht mehr seriös zu prognostizieren. Die 2020 noch sehr gut funktionierenden Modellierungen sind durch die Kombination aus Impfquote und hoch ansteckender Delta-Variante nicht mehr anwendbar. Die Fehlprognose der Welle in UK hat das gezeigt.
Uns fehlen sowohl Erkenntnisse zu dem über die Zeit nachlassenden Impfschutz als auch zur Infektiösität von Delta bei überwiegendem Innenraumgeschehen. Wenn man sich die Modelle genauer anschaut, sieht man hier gegenläufige exponentielle Prozesse, deren Parametrisierung zugleich unklar ist und die Ergebnisse in alle Richtungen eskalieren lässt. So gerne ich das in der Zeit vor Delta genutzt habe, so klar muss man heute leider sagen: Wir wissen es nicht.
Was aber bereits klar ist: Die Impfquote dämpft ganz offensichtlich sowohl die Inzidenzen als auch das klinische Geschehen. Mit zunehmendem „Alter“ der Impfungen, lässt beides nach, den meisten Studien zufolge aber vor allem der Infektionsschutz, weniger der vor schweren Verläufen.
Wir haben als Gesellschaft also sehr wohl ein Mittel, die Durchseuchung und die damit verbundenen Risiken vor allem für nicht impfbare zu verhindern. Wir sollten es nutzen und zwar sowohl für Erst- und Zweitimpfungen, als auch für eine weitere Kampagne an Drittimpfungen beginnend mit sechs Monaten Abstand zur zweiten. Die inzwischen in einmaliger Menge und Überwachungsqualität vorliegenden Daten über Impfnebenwirkungen zeigen unmissverständlich, dass die Impfrisiken deutlich unter den Infektionsrisiken liegen. Zudem signalisieren die Hersteller, das sie sehr bald an die Mutationen angepasste Wirkstoffe zur Verfügung stellen werden. Das Wettrennen zwischen Sars-Cov-2 und der modernen Medizin hat gerade erst begonnen und vieles spricht dafür, dass nun die Medizin vorne liegt. Es gibt keinerlei Anlass, dieses Rennen ausgerechnet jetzt aufzugeben!
Durchseuchung lässt sich daher nicht begründen. Weder ist sie unvermeidlich, noch ist sie verantwortlich. Mit der Frage von Lockdowns, mit der das gerne verknüpft wird, um zu emotionalisieren, hat das nichts zu tun. Die können wir genauso vermeiden, wie eine Masseninfektion von mehr als der Hälfte der Bevölkerung. Wie man das so gelassen vortragen kann, erschließt sich mir nicht.