Die Digitalisierung wird von vielen nur durch die meist sehr rasch aufkommenden neuen digitalen Produkte oder Dienstleistungen bewertet. Das ist oberflächlich und führt leider dazu, dass die relevanten Entwicklungen oft übersehen wurden und werden.
In der Finanzindustrie sind in den letzten 20 Jahren eine ganze Reihe neuer Angebote entstanden. Von den Direktbrokern über Zahlungsdienste bis zu Vermittlungsplattformen. In den letzten Jahren ist die Zahl sogenannter „Fintech“-Lösungen stark gestiegen. Aktuelle Beispiele sind Angebote rund um Bitcoin&Co, weitere Zahlungsdienste, die Kreditkartenmodelle integrieren, Zahlungsabwickler für eCommerce-Angebote wie die untergegangene Wirecard oder nun als neuer „Hype“ die sogenannten Neobroker wie Robin Hood, der sogar mit einer Milliardenbewertung selbst an die Börse gekommen ist.
Ein kritischer Blick auf diese Neobroker führt zu der Frage, was hier tatsächlich passiert und vor allem: Was nicht! Diese Neobroker bieten ihren Nutzern scheinbar kostenlosen Börsenhandel an und sie sind im Unterschied zu etablierten Brokern/Banken meist direkt als Smartphone-App konzipiert. Tatsächlich existiert hier natürlich wie bei allen privatwirtschaftlichen Unternehmen ein gewinnorientiertes Geschäftsmodell, das– bisher – auch sehr gut funktioniert.
Die Idee ist vergleichsweise einfach: Durch die attraktive App und den – möglichen – Preisvorteil generieren diese Anbieter einen großen Strom vieler kleiner Wertpapierorders von Privatanlegern. Dieser Orderstrom ist wertvoll, er wird nämlich gerne von größeren Wertpapierhändlern gekauft. Ohne zu sehr in die vielen Fachbegriffe der Finanzindustrie einzusteigen, sei das als eine Art „Großhandel“ zwischen insbesondere Privatanlegern und der Börse selbst beschrieben. Neobroker wie Robin Hood leiten die Privatorders also an solche „Großhändler“ weiter, die dafür bezahlen. Natürlich erfolgt diese Vergütung nur, weil es entsprechende Vorteile gibt. Das funktioniert an der Börse nicht wesentlich anders, als bei allen Zwischenhandelsstufen. Ein Großhändler bietet seinen Kunden ein breites und gut verfügbares Warensortiment, er verdient sein Geld im Gegenzug schlicht damit, dass er die Waren günstiger ein- als verkauft – er hat also eine Handelsmarge.
An der Börse ist das letztlich genauso. Hier heißt die Verfügbarkeit „Liquidität“, die „Großhändler“ – in der Fachsprache: „Marketmaker“ – sorgen also dafür, dass die von den Kunden gewünschten Kauf- oder Verkaufsorders ein entsprechendes Gegenangebot finden. Dabei handeln sie nach eigener Entscheidung mit Wertpapieren auf eigene Rechnung oder sie vermitteln direkt zwischen Angebot und Nachfrage. Die Abläufe sind komplex, teilweise auch stark reguliert und sie hängen auch davon ab, ob der Handel über regulierte Börsen oder sogenannte OTC-Plattformen im Direkthandel erfolgt. Darüber kann man ganze Bücher schreiben, die – das wird im Weiteren klar – eigentlich überflüssig sind. Daher erneut verkürzt formuliert: Wenn der Händler einen großen Strom an Orders erhält, BEVOR diese in welche Börse/Handelsplattform auch immer gehen, hat er die Möglichkeit, die kurzfristigen Preisentwicklung sehr gut zu prognostizieren. Das bietet ihm die Option, auf eigene Rechnung entsprechend günstiger zu handeln – so erzeugt er seine Marge.
Für die Kunden der Neobroker bedeutet das also, dass sie letztlich nicht den besten Kurs bekommen, sondern eine Handelsmarge bezahlen, die zwischen Händler und Neobroker aufgeteilt wird. Das Geschäftsmodell ist daher bereits im Visier der Börsenaufsicht, die es vielleicht sogar schlicht verbieten wird. Das sollte jeder Aktionär von Robin Hood und anderen im Blick haben. Empfehlenswert sind diese Aktien aber aus ganz anderen, im Folgenden genannten, fundamentalen Grünen ohnehin nicht. Die Diskussion, ob das Angebot für den Konsumenten „fair“ ist, wird nun von der Börsenaufsicht in der ganzen Welt geführt. Es würde hier zu weit führen, das im Detail aufzuschlüsseln, daher erneut die Kurzform: Letztlich haben Privatanleger bei fast allen Wertpapierdienstleistungen letztlich einen solchen Zwischenhändler zu „bezahlen“, daher kommt es bei der Kosten- und Preisbewertung sehr darauf an, wie die Kurse hier gestellt werden und ob der Verzicht auf eine Ordergebühr dazu passt. Eine Marge zahlt man als Privatanleger also fast immer und nun wird untersucht, ob diese bei den Neobrokern im Sinne des Verbraucherschutzes „fair“ ist.
Das Ende der Prüfung ist offen, interessiert hier aber gar nicht, denn diese Detailbetrachtung ist nur erfolgt, um an dem Beispiel einige fundamentale Überlegungen zu illustrieren, die sich der eingangs erwähnten Bewertung der Digitalisierung nähern. Zunächst ist hier nämlich festzustellen, dass es sich keineswegs um ein besonders innovatives Produkt handelt. Solche Entwicklungen gibt es in digitalen Märkten sehr oft, sie haben auch durchaus Bedeutung, aber meist nicht nachhaltig. Denn es handelt sich hier lediglich um eine schicke digitale Verpackung eines längst etablierten Geschäftsmodells. So etwas ist meist einfach machbar und wenn es, wie hier, Preisvorteile mit digitaler Bequemlichkeit kombiniert sowie durch geschicktes Marketing in den digitalen Ökosystemen verbreitet wird, kann es auch sehr rasch wachsen – schneller jedenfalls, als „analoge“ Angebote, die gänzlich andere Barrieren bei ihrem Kundenzugang haben. Grundsätzlich kann jeder Smartphone-Besitzer, der von Robin Hood hört, das Angebot selbständig in Betrieb nehmen. In „analogen“ Märkten ist das nicht möglich.
Nichts spricht gegen so ein digitales Bündeln oder Verpacken etablierter Geschäftsprozesse. Es ist für Konsumenten oft bequemer, es nimmt meist unnötige Kosten aus dem System und ist unternehmerisch erfolgreich. Dennoch sind solche Modelle oft nur Übergangslösungen und das sollten neben den Investoren in solche Unternehmen vor allem die betroffenen Branchen im Blick haben, um nicht die nächste digitale Disruption zu verschlafen.
Von disruptiven Modellen spricht man in der Digitalisierung einerseits zu oft – Robin Hood behauptet das von sich auch – andererseits übersieht man sie leider nicht selten. Der Begriff ist angemessen, wenn nachhaltig innovative Geschäftsmodelle entweder existierende Märkte strukturell verändern oder gänzlich neue Märkte entstehen, die oft vorhandene vollständig subsituieren.
Alphabet, der Mutterkonzern der Google-Suchmaschine, ist ein Unternehmen, dem das gleich mehrfach gelungen ist. Die Suche, keine Erfindung von Google, aber aus vielen Gründen von dem Unternehmen heute dominiert, ist so ein disruptives Modell. Sie hat letztlich die Informationsvermittlung der ganzen Menschheit revolutioniert und viele damit verbundene Geschäftsmodelle insbesondere aus den Werbemärkten geradezu aufgesaugt. Ein weiteres disruptives Produkt aus dem Hause ist der Navigationsdienst „Maps“, der als werbefinanziertes Angebot für Nutzer komplett kostenlos von der Kartographie über die Navigation bis zu den „Gelben Seiten“ gleich mehrere Branchen aufgemischt hat.
So eine Entwicklung ist schwer erkennbar, sie zeichnet sich durch die Neuartigkeit des Ansatzes aus und dessen Erfolg ist anfangs schwer einzuschätzen. Ob wir bei den Finanzdienstleistungen so etwas komplett neues erleben, ist nicht absehbar und auch eher unwahrscheinlich, denn: Die erstgenannte Form disruptiver Modelle, Marktstrukturen anzugreifen, liegen hier geradezu auf der Hand.
Betrachtet man nämlich beispielsweise Robin Hood, die sich der Zwischenhandelsstrukturen im Wertpapiergeschäft widmen, so kann man aus rein technologischer Sicht schlicht feststellen: Das ist alles überflüssig, das braucht niemand mehr. Diese Feststellung gilt unstrittig aber nicht nur für Robin Hood, sondern für den Großteil der kompletten Finanzindustrie. Finanzdienstleistungen aller Art – Zahlungsverkehr, Wertpapierhandel, Kreditvergabe, bis zu Versicherungen – sind zunächst gekennzeichnet durch weitgehend veraltete IT-Systeme und ebenso aus analogen Zeiten stammende Zwischenhandelsstufen, die mal zu Zeiten von Formularen und manuellen Bearbeitungsprozessen erforderlich waren – heute aber komplett überflüssig sind. Aus reiner Sicht auf die Prozessketten, kann man feststellen, dass für eine Geschäftsabwicklung zwischen Kunde A und B dutzende IT-Systeme aus dutzenden Unternehmen mit Zwischenfunktionen miteinander interagieren, um etwas – oft sogar banales – umzusetzen, was man auch direkt zwischen diesen Kunden abwickeln könnte.
Das Beispiel Robin Hood ist dabei nur ein kleiner Ausschnitt aus dem ebenfalls nur als Ausschnitt zu sehenden Wertpapierhandel. Dahinter steht eine ganze Industrie von Unternehmen, die teilweise nur sehr partielle Aufgaben haben – beispielsweise die Lagerung von Wertpapieren zu organisieren, quasi so eine Art zentrales „Grundbuch“ für alle Papiere. Diese Struktur ist nebenbei bemerkt aus einem weiteren aktuellen Anlass interessant, denn sie führt dazu, dass die Abwicklung von Wertpapiertransaktionen oft mehrere Tage dauert. Der Handel ist inzwischen zwar in Sekunden möglich, auch für Privatanleger innerhalb weniger Minuten, aber die komplette „Verbuchung“ der Vorgänge zieht sich oft über ein halbes Dutzend dazwischen liegender Dienstleister hin. Wer schon mal Wertpapiere gehandelt hat, erkennt es daran, dass ein erworbenes Papier zwar sofort im Depot erscheint – und auch sofort wieder verkauft werden kann -, aber auf die entsprechende Abrechnung sowie Verbuchung auf dem Girokonto muss man oft ein bis drei Tage warten. Dieser technologisch unbegründbare Unfug ist Grundlage für die vollkommen zurecht kritisierten CumEx-Geschäfte, die sich die „schwebenden“ Besitzverhältnisse eines Wertpapiers nach einer Transaktion auch noch zu Nutze machen.
Man sieht wie so oft an solchen überholten Strukturen in einer Branche, dass diese auf sehr unterschiedlichen Interessen basieren: Während die Endkunden dafür Kosten und Margen zu tragen haben, für die es in unserer digitalen Welt keine Rechtfertigung mehr gibt, die Gesellschaft möglicherweise wie bei Cum-Ex Missbräuche zu tragen hat, ist das auf der anderen Seite natürlich ein attraktives Geschäftsmodell für viele Unternehmen.
Leider wird das im Fall des Finanzsystems durch den Staat bzw. den Gesetzgeber selbst geschützt. Kaum ein Sektor ist so umfassend reguliert wie die Finanzindustrie. Das führt natürlich recht schnell zu einer Konservierung von Marktstrukturen. Eine Bank oder einen Börsenplatz macht man nicht so einfach auf, es gibt erhebliche Eintrittsbarrieren in solche Märkte. Auch die vielen Zwischenfunktionen, wie die Abwicklung von Zahlungen oder die Wertpapierlagerung sind streng reguliert. Die gesetzlichen Auflagen erlauben zudem nicht ohne weiteres den Transfer in digitale Prozesse. Insbesondere Beratungs- und Aufklärungsverpflichtungen können ohne manuelle Prozesse nur schwierig umgesetzt werden.
Tatsächlich kann man feststellen, dass sich keine andere Branche heute noch so einen dermaßen überflüssigen Overhead an miteinander interagierenden Unternehmen, die dabei keinerlei Mehrwert liefern, leisten könnte. Die Struktur ist also ebenso veraltet, wie sie durch sowohl ihre eigene Machtposition als auch die Regulierung starr geblieben ist.
Viele in der Finanzbranche argumentieren daher auch, das werde sich genau deshalb nicht ändern, eine wirkliche Disruption sei nicht möglich. Bisher haben sie Recht behalten und die Regulierung hat die Sache vermutlich auch schon deshalb gestützt, weil bekanntlich seit 2007 die nicht unberechtigte Sorge besteht, das ganze System sei nicht so stabil, wie es sein sollte und es könne bei einem weiteren größeren Schadensfall jederzeit kollabieren.
Genau solche Voraussetzungen sind aber bezüglich einer Disruption besonders anfällig und zwar in gerade der Form, die eher nicht wünschenswert ist: Dieses objektive Sammelsurium an Dienstleistungsgeflecht kann sehr schnell durch einen agilen Internetkonzern weitgehend ersetzt werden. Technologisch ist das kein Hexenwerk. Ein Matching von Kundeninteressen und die direkte Abwicklung von Transaktionen zwischen diesen ist in anderen digitalen Märkten längst gelöst. Wir sehen auch im Finanzumfeld bereits erste Anbieter, die das tun. Paypal beispielsweise nutzt zwar für die Zahlungsabwicklung auch die etablierten Dienstleistungen, was erforderlich ist, um jeden Kunden zu erreichen, aber sie bieten längst rein plattforminterne Geldtransfers – da ist außer Paypal kein weiterer Dienstleister erforderlich. Paypal hat jetzt übrigens angekündigt, auch in den Wertpapierhandel einzusteigen.
Nicht zu übersehen sind auch die Flaggschiffe, die großen Digitalkonzerne. Google, Apple, Amazon oder deren chinesische Pendants bieten bereits Zahlungsdienste an. Noch sind diese wie bei Paypal mit etablierten und regulierten Dienstleistungen verknüpft – meist Kreditkartengesellschaften.
Solche Effekte sind die tatsächlich relevanten, die es zu beobachten gilt. Mit derartigen Angeboten können insbesondere die großen Digitalplattformen ein Ökosystem von mehreren Milliarden Kunden weltweit aufbauen und sich vor allem bei diesen etablieren. Wie die Prozesse hinter diesen Diensten und Apps laufen, interessiert die Kunden nicht. Die können später jederzeit anders realisiert werden – das ist komplett austauschbar.
Bereits Bill Gates sagte bekanntlich, Banking sei eine erforderliche Dienstleistung, aber eine Bank brauche man eigentlich nicht. Eine Börse übrigens auch nicht. Kredite werden heute ohnehin bereits von Algorithmen vergeben, ein Sachbearbeiter bedient diese nur noch. Versicherungen sind eine massenhafte Verflechtung von algorithmisch gerechneten Individualrisiken. Tatsächlich IST die Finanzbranche nämlich bereits weitgehend digitalisiert, sie hat die dahinter liegenden Prozesse aber immer noch über eine fachlich/technisch nicht mehr begründbare Struktur von Einzelunternehmen verteilt. Das ist teuer und schafft keinerlei Mehrwert – im Gegenteil ist es sogar technologisch instabiler.
Wenn die Branche weiter auf diesen überkommenen Strukturen sitzt und dabei viele Milliarden von letztlich Kundengeldern im System absorbiert, könnte Gates vielleicht Recht behalten. Die Finanzindustrie schreit geradezu nach Disruption.