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Die Rhetorik führender Politiker wird vermutlich erst nach der Krise besser zu entschlüsseln sein

Die meisten gehen jetzt – vergleichsweise schamlos – wieder auf Krisensprech in Verbindung mit „konnte man (so) nicht wissen“ Tränensäcken. Die bisher ohnehin „jenseits“ jeglicher Realität positionierten, wie Christian Lindner, reden irgendwas von Handlungsfähigkeit, toller Arbeit im Parlament usw.
Nun, ich vermute, auch Lindner wird es besser wissen: Instrumente haben wir viele, genutzt haben wir wenige und damit werden die Optionen geringer. Österreich ist binnen weniger Tage schlicht in den kompletten Lockdown getrieben worden. Zugleich wird eine Impfpflicht angekündigt. In Deutschland kann es kurzfristig nur noch um die Frage gehen, ob wir einen kompletten Lockdown noch verhindern können und ob das überhaupt erstrebenswert ist. Das wäre die erforderliche Debatte und keine andere. Die Booster-Quote ist zu gering, der Impfschutz erodiert bei uns von Tag zu Tag, die Verantwortlichen müssten eigentlich ganz andere Szenarien diskutieren, als das selbst die Krisenrhetoriker gerade tun.
Im von Lindner so gelobten Gesetz steht nichts jetzt noch wirklich hilfreiches. Der schlimmste „Witz“ ist diese Krankenhausampel mit ebenfalls eher nur noch mit grimmigem Humor erträglichen „Grenzwerten“. Der einzig relevante Wert in dieser gesamten Pandemie ist das Wachstum der Infektionszahlen. Sei es in Form des Reproduktionsfaktors R oder was ich besser nachvollziehbar finde durch die Verdopplungszeiten. Leider sind diese wissenschaftlich einzig wirklich relevanten Werte nie bis zu Gesetzen oder Verordnungen durchgedrungen, seit 2020 stehen in juristischen Texten nur Werte, die man allenfalls als „politisch“, aber nicht als wissenschaftlich begründet bezeichnen kann. Auch die dahinter stehende Methodik ist ganz und gar unwissenschaftlich.
Denn: Wenn, was wir aktuell stabil sehen, die Infektionen und inzwischen auch die Sterbezahlen binnen zwei Wochen Verdopplungen erreichen, sind irgendwelche absoluten Grenzwerte wissenschaftlich gesehen vollendeter Schwachsinn. Zusammen mit unserem – unwissenschaftlich ausgedrückt – beschissenen Meldesystem sind die in solchen exponentiellen Phasen tatsächlich bereits um 50% höher, als wir sie gerade „sehen“ und wenn wir dagegen etwas unternehmen wollen, sind sie bis zur Entscheidung, was wir tun wollen, bereits doppelt so hoch.
Kann man so machen, aber dann läuft es halt wie in Österreich: Man kommt sehr schnell mit den Beschlüssen gar nicht mehr hinterher, so dass die Maximalmaßnahme als Holzhammer zur Notbremse kommen muss. Vorher und mit traurigem Nachlauf wird fleißig gestorben.
Das ist ohnehin die große und einfache Gleichung dieser Pandemie: Man kann sterben lassen, man kann impfen, man kann (rechtzeitig und damit kurz oder verspätet und damit lang) schließen. Der Vergleich mit UK und Israel (ich spare mir Neuseeland, ist ja eine Insel unter einer Diktatorin, ich weiß) zeigt so ungefähr den erwartbaren Korridor dessen, was in/mit unseren Gesellschaften möglich ist. Man kann ein wenig schneller impfen, vor allem boostern, dann wird etwas weniger gestorben, man kann das alles auch etwas länger verzögern, etwas mehr diskutieren oder politisch schlicht auch nicht wollen, dann wird halt etwas mehr gestorben – so in UK.
Ein anderer Weg existiert nicht – da helfen auch die Hinweise auf irgendein Land, in dem es gerade mal für ein paar Wochen angeblich anders läuft – Schweden ist mal wieder ganz ganz ganz vorne bei dem ganz ganz besonders anderen und besseren Weg. Nein, diese Gleichung und dieser Korridor gilt überall auf dem Planeten und jedes Land wird da seinen Platz finden.
Ich bin übrigens inzwischen sicher, dass die meisten in der Spitzenpolitik das längst wissen, Lindner inklusive. Die Agenda dahinter ist primär vermutlich so etwas wie Abwarten, bis es schreckliche Bilder aus Krankenhäusern gibt, damit man unangenehme Maßnahmen besser begründen kann. Die einen warten halt ein bisschen weniger, die anderen ein bisschen länger, aber dass die alle so einen komplett unterschiedlichen und dann auch noch naiven Erkenntnisstand haben, glaube ich ehrlich gesagt nicht. Es mag da den einen oder anderen Ignoranten geben, aber das dürften Ausnahmen sein. Die meisten wissen recht gut, was sie tun und warum sie es tun – das dürfte in nicht wenigen Fällen ganz besonders verwerflich sein.
Ich gehöre zu denen, die das nicht vergessen werden und die sobald diese Krise beendet ist, das wird nämlich so sein, selbst UK zeigt das, auch nicht aufhören, nach tatsächlichem Informationsstand und der wahren Motivation zu fragen.
Ich hoffe, dabei erstens gesund und zweitens nicht alleine zu sein.

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