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Hat Putin sich fundamental geirrt?

Ein sehr interessantes Interview mit einem kompetenten Experten, die es unter den vielen Fernseh-Experten in diesen Zeiten mal wieder zu erkennen gilt. Gemeint ist der – nicht unumstrittene, aber kenntnisreiche – Historiker Jörg Baberowski, dessen Einschätzung ich hier gerne teile, vor allem hinsichtlich der weiteren Entwicklung.
Wir stehen vor einem Terrorkrieg mangels Alternativen und können nur hoffen, dass die vielleicht von außen möglich werden. Ebenso weise ich auf die Bewertung der innenpolitischen Situation Russlands hin, die leider auch nicht optimistisch ist. Eine maßgebliche Reaktion einer maßgeblichen Zivilgesellschaft ist nicht zu erwarten, eher der Auftritt neuer Autokraten, die nicht mal Besserung bringen müssen.
Was mich geradezu verstört und was ich nicht so einfach teilen möchte, ist die Einschätzung zur Vorbereitung des Kriegs. Die Ukraine ist nicht Tschetschenien oder Georgien. Die Ausrüstung und Ausbildung der Armee sind signifikant. Die kann man nicht einfach im Handstreich überrollen. Ebenso ist die Stimmung in der Bevölkerung glasklar. Auch deren Widerstand ist keineswegs überraschend. Dass Putin und das russische Militär sich, wie hier im Interview geäußert, diesbezüglich so fundamental geirrt haben sollen, wäre in der Tat verstörend, denn es würde geradezu einen Realitätsverlust bedeuten. Dass Putin sich verschätzt und überdehnt hat, ist kaum zu übersehen – hoffentlich aber nicht so fundamental, wie es hier zum Ausdruck kommt. Das würde ihn möglicherweise zum kompletten Terroristen machen, der sich zunächst in der Ukraine fürchterlich austoben wird und immer schwerer zu stoppen ist.
Ich verstehe viele Menschen, vor allem betroffene Ukrainer, die derzeit nach klaren, schnellen und vor allem gerechten Lösungen rufen. Die Situation ist aber viel zu komplex und auch viel zu gefährlich, um das zu erlauben. Weder kann man die russische Armee aus der Ukraine einfach heraus bomben und es ist auch keine Option, den Sturz Putins zu betreiben. Es ist nicht mal strategisch sicher, ob der Widerstand gegen einen Terrorfeldzug bessere Ergebnisse als Leid, Tod und Zerstörung verspricht. Es gibt dazu momentan überhaupt keine Alternative, da bin ich falsch verstanden worden, aber es kann wie oben geschrieben der Punkt kommen, an dem – vielleicht von außen – andere Wege aufzuzeigen sind, um diesen Terror zu beenden, denn einen Terrorkrieg kann die Ukraine auf eigenem Territorium vermutlich nicht gewinnen.
Es sieht vielmehr danach aus, dass die Ukraine Zeit gewinnen kann, aber die muss genutzt werden. Und so schwer es fällt, auch das zu akzeptieren, kann es dazu aufgrund der komplexen Gesamtsituation erforderlich werden, Putin einen Ausgang zu ermöglichen, also eine Exit-Strategie aus der Gewaltspirale für alle Parteien.
Bei allem Entsetzen, bei allem Schmerz, bei dem Leid, das wir sehen, bei der Ungerechtigkeit, die wir erkennen, bei der eigenen Bedrohung, die da ist und bei aller Sehnsucht nach einer gerechten Lösung, sollten wir erkennen: Die ist nicht in Sicht und sie anzustreben, könnte einen Preis erfordern, der sich langfristig als zu hoch herausstellt.
Das ist ein dreckiges Spiel, in dem es gilt, kühlen Kopf zu bewahren und nicht die gerechteste, sondern die beste Lösung anzustreben. Zudem ist es ein Spiel, das noch lange dauern wird. Es ist nicht die Endphase, die wir sehen. Die beste Lösung ist nicht die in den nächsten Monaten, sondern eher die in der nächsten Dekade und sie wird nicht auf einem Schlachtfeld gefunden.

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