Es gibt parteiübergreifend und auch von den Zustimmungswerten sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wirtschaft größten Respekt für die Leistung von Robert Habeck. Das verdient besondere Erwähnung, weil seine Aufgabe unter den operativen Ressorts die schwierigste ist.
Das wird am Beispiel der größten Öl-Raffinerie in Ostdeutschland, Schwedt, deutlich. Am Sonntag zitierte die NYT Gerhard Schröder dazu noch wie folgt: Ihn beunruhigten weder die wachsende Abhängigkeit noch die Warnungen der Amerikaner und Osteuropäer vor einer möglichen Nutzung der Energielieferungen durch Putin. Die Russen seien immer zuverlässig gewesen, wenn es um die Lieferung von Öl und Gas ging. Die Abhängigkeit sei gegenseitig. Die so genannte Energiewaffe sei zweideutig. „Sie brauchen Öl und Gas, um ihren Haushalt zu finanzieren. Und wir brauchen Öl und Gas zum Heizen und um die Wirtschaft am Laufen zu halten.“ Deshalb, so die NYT, habe Schröder im letzten Jahr – sogar inmitten der russischen Truppenaufstockung – für das Geschäft mit dem russischen Ölkonzern Rosneft geworben, um die Mehrheit an der kritischen Ölraffinerie in Schwedt, im Nordosten Deutschlands, aufzukaufen. Obwohl die strategische Raffinerie an ein russisches Unternehmen ging, argumentierte Schröder, dass das Geschäft letztlich im Interesse Deutschlands sei. Die aktuelle Lage schildert er eindeutig: „Wenn das Öl nicht mehr fließt, ist Schwedt am Ende, mit allen Konsequenzen, die das für Nordostdeutschland, auch für Berlin, hat.“
Was diese maximal zynische Bemerkung mit den Interessen Deutschlands zu tun hat, wird wohl Schröders Geheimnis bleiben. Man kann an dem Vorgang aber erkennen, wie lange das System Schröder noch agieren konnte und die Abhängigkeit zu Russland bis in die Infrastruktur getrieben hat. Tatsächlich ist Schwedt ein neuralgischer Punkt für ein mögliches Öl-Embargo, von welcher Seite auch immer das kommen mag. Hier ist Habeck nun entscheidend weiter gekommen. Er hat gestern in Warschau zu Schwedt gänzlich anders als Schröder gesprochen: „Schwedt, das darf ich einfach mal aussprechen, wird von einer russischen Firma, von Rosneft, gemanagt“. Das Geschäftsmodell des Staatskonzerns sei es, russisches Öl zu kaufen. Wenn man dieses Öl nicht mehr haben wolle, brauche man für Schwedt eine Alternative. Diese Alternative zu entwickeln, sei die Aufgabe der kommenden Tage. Er gehe davon aus, dass es sich tatsächlich nur um Tage handele.
Möglich wird das durch eine Kooperation mit Polen, das Schwedt über den Hafen Danzig mit Rohöl versorgen könnte. Bezüglich der Ölversorgung ist das laut Habeck ein Durchbruch: Er sieht Deutschland nun für einen Stopp russischer Öllieferungen gerüstet. „Heute kann ich sagen, dass ein Embargo handhabbar für Deutschland geworden ist“. Zuvor war eine Unabhängigkeit von russischem Öl erst für Ende des Jahres geplant gewesen.
Das sind also sehr gute Nachrichten, die zudem den Rohstoffsektor betreffen, der im russischen Haushalt den bei weitem größten Posten ausmacht. Hier geht es also um das große Geld, während es sich beim Gas eher um eine strategische Option handelt. Die läuft nun aber erkennbar heiß und leider sind die Nachrichten dazu gar nicht gut. Gazprom hat gestern bekannt gegeben, die Gaslieferungen an Polen und Bulgarien einzustellen. Nach den Rubel-Forderungen nun also der nächste Eskalationsschritt. Es dürfte nicht der letzte sein!
In der Öffentlichkeit wird das herunter gespielt. Polen und Bulgarien erklären, mit dem Lieferausfall zurecht zu kommen. Das ist momentan auch der Fall, aber nur deshalb, weil beide Länder Gas aus der EU beziehen, so die Lesart. Das aber ist nur die halbe Wahrheit, denn die Gaslieferungen kommen maßgeblich aus Deutschland – durch russische Primärlieferungen. Habeck hat mehrfach angedeutet, dass er bei der Substitution russischer Energielieferungen auch die osteuropäischen Länder, die über Deutschland versorgt würden, zu beachten hat. Das betrifft auch die Ukraine. Für Polen nannte er im Interview mit Lanz mal die Quote von 80% an russischem Gas! Es gibt insgesamt keine verlässlichen Daten, welche Quoten Polen, Bulgarien, einige Balten, die Ukraine etc. indirekt immer noch aus Russland beziehen. Habeck wird es wissen, die fraglichen Länder ebenfalls, aber deren offizielle Kommunikation, man habe mit russischen Lieferungen nichts mehr zu tun oder könne die rasch abstellen, ist schlicht unwahr.
Beim Gas kann Habeck leider die Pace wie beim Öl kaum erreichen. Dieser über Pipelines tief in unsere Infrastruktur integrierte Rohstoff kann technisch und von den Weltmarktkapazitäten an LNG nicht so schnell ersetzt werden, wie Öl. Weder der Rohstoff ist substituierbar, noch können die auf Gas ausgelegten Verbraucher in Industrie und Privathaushalten schnell auf andere Energieträger umgestellt werden. Das ist ein mehrjähriges Projekt und daraus macht Habeck keinen Hehl, weshalb er ein Gas-Embargo durch die EU unverändert ablehnt.
Trotzdem müssen Deutschland und die EU sich natürlich auf die nächste Eskalation seitens Russlands vorbereiten. Es ist kaum zu erwarten, dass Putin geduldig zusieht, bis seine Lieferungen substituiert sind und ein Embargo gegen ihn verhängt wird. Je weiter die EU mit den Ersatzlieferungen kommt, desto mehr verliert das russische Gas seine strategische Bedeutung. Wenn die Gesamtlage sich also nicht beruhigt, wonach es nicht aussieht, kommt von Woche zu Woche der Punkt näher, an dem Putin beim Gas eskalieren muss, bevor es seine Wirkung verliert. Dabei dürfte das Geld keine große Rolle spielen. Die Verluste Russlands sind bereits immens und aufgrund der Sanktionen im Finanzsystem hat das Land enorme Schwierigkeiten die finanziellen Mittel aus den Rohstoffexporten einzusetzen. Es nähert sich daher der Punkt, an dem der strategische Wert von Gas höher als der finanzielle ist.
Seitdem Habeck deshalb die erste Stufe des Energienotstands in Kraft gesetzt hat, berichtet die Bundesnetzagentur täglich über die Lage. Diese Berichte sind jedoch reine Beruhigungspillen, denn so lange Russland liefert, gibt es nur Normalität zu berichten. Das betrifft auch den Stand der Gasspeicher, weil die saisonal um diese Zeit immer relativ leer waren. Leider geistern immer wieder Medienberichte durch die Landschaft, die diese Beruhigungspillen kritiklos zitieren. Dass die Lage alles andere als normal und keineswegs entspannt ist, erkennt man hingegen an den Vorbereitungen auf eine möglicherweise erforderliche Rationierung.
Dazu erhebt die Netzagentur gerade etwas, was in Deutschland typischerweise ebenfalls unter Notstand fällt: Daten. Bis Ende dieser Woche sollen die Netzbetreiber Daten über die von ihnen versorgten Unternehmen liefern. Die bisherige Doktrin für den Fall einer Rationierung besagt, dass Haushalte, Krankenhäuser, soziale Einrichtungen und kleinere Betriebe weiter beliefert werden sollen. Die Rationierung würde demnach bei der Industrie und hier den Großverbrauchern ab 10 Megawattstunden Gas pro Stunde erfolgen. Die Netzagentur vermutet, dass es sich hierbei um 2500 Unternehmen handelt, deren Namen und Bedarf nun zunächst mal festgestellt werden sollen. Daraus soll dann ein Abschaltplan entwickelt werden, dessen Kriterien noch unklar sind – man ist halt leider erst am Anfang der Bestandsaufnahme.
Was Habeck ebenfalls regeln muss, sind die ökonomischen Folgen für die Versorgungsunternehmen selbst, insbesondere die vielen Stadtwerke und kleineren Versorger. Die haben überwiegend länger laufende Festpreise mit den Kunden und können zu erwartende Preissteigerungen bei der Beschaffung nicht kompensieren. Da sind also reihenweise Insolvenzen zu befürchten. Vermutlich wird das jüngst nachjustierte Gesetz, das bei versorgungsrelevanten Unternehmen eine sofortige staatliche Kontrolle oder sogar Enteignung vorsieht, hier teilweise zum Einsatz kommen müssen. Das wurde bekanntlich für die deutsche Tochter von Gazprom zuletzt eingesetzt, dürfte für Schwedt nun in Frage kommen und es könnte das Instrument sein, mit dem man bei solchen Insolvenzen die Versorgung sicherstellen kann.
Wie das erfolgen soll und was damit sicherzustellen ist, wird wohl gerade genauer untersucht. Technisch ist das nicht trivial, denn das Gasnetz funktioniert insgesamt nur mit ausreichendem Druck. Vereinfacht gesagt kollabiert es vollständig, wenn zu viel verbraucht und zugleich zu wenig eingespeist wird. Daher muss für den Fall, den Polen und Bulgarien jetzt erleben, also eine sofortige Abschaltung der Primärlieferung, in wenigen Stunden gehandelt werden. Die Speicher können das nicht sehr lange stabilisieren, es geht dann darum, rasch Verbraucher abzusperren, damit das gesamte System nicht zusammenbricht.
Diese Vorbereitungen belegen die Komplexität und den Ernst der Lage. Ob es überhaupt genügt, diese Großverbraucher raus zu nehmen, weiß zur Stunde vermutlich niemand. Das dürfte zudem regional sehr unterschiedlich sein, da sowohl die Verbraucher als auch die Quoten russischer Primärquellen sehr unterschiedlich sind. In Gebieten Ostdeutschlands und bei dem größten Verbraucher überhaupt, der BASF in Ludwigshafen, wird es kritischer sein, als in Regionen, die bereits heute über LNG oder beispielsweise Norwegen versorgt werden.
Die Kriterien, nach denen rationiert wird, dürften ebenfalls sehr schwierig festzulegen sein. Hier werden insbesondere seitens der chemischen Industrie und auch beim Glas Grundstoffe hergestellt, die für viele weitere Liefer- und auch Versorgungsketten nicht oder nur schwierig ersetzbar sind. Das bedeutet nicht nur unabsehbare ökonomische Schäden, es kann auch die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln oder Medizinprodukten betreffen.
Eben weil das alles so schwierig einzuschätzen ist, lehnt Habeck zurecht ein Gas-Embargo durch die EU ab. Erst muss mal der Überblick geschaffen werden. Das dürfte auch die Versorgung Osteuropas betreffen. Es ist eine Herkulesaufgabe, für die wenig Zeit besteht. Wie wenig, entscheidet niemand anders als Putin. Keiner sollte sich durch den erfreulichen Fortschritt beim Öl dazu verleiten lassen, das aufs Gas zu übertragen. Es bleibt die Achillesverse, deren Ausfall wir noch nicht bewerten können. Klar ist jedoch, dass es anders als beim Öl nicht gelingen wird, das durch reine Preissteigerungen bei der Beschaffung zu kompensieren. Es wird zu Ausfällen führen, deren Folgeschäden wir nicht kennen. Hoffentlich gelingt diese Datensammlung, so dass Habeck wenigstens so etwas wie ein Steuerrad in die Hand bekommt.
Sein Job bleibt der schwierigste. Er hätte jedes Recht auf Zynismus. Beachtlich, wie sachlich er weiter kommuniziert, obwohl ihm die Belastung ins Gesicht geschrieben ist. Wir sollten ihn nicht damit bedrängen, seinerseits den Gashahn abzudrehen. Die ökonomischen Metastudien dazu sind untaugliche Zufallsbefunde. Die könnten ebenso richtig wie falsch sein, niemand weiß es und so kann nicht verantwortlich gehandelt werden, zumal im Unterschied zu Corona niemand weiß, wie lange die Ausfälle dauern. Überhaupt sind diese Vergleich grober Unfug, denn die Corona-Lockdowns haben die industrielle Produktion nicht unmittelbar betroffen und es war absehbar, dass die nur wenige Monate dauern. Wenn es hier zu einem Versorgungsausfall kommt, kann es Jahre dauern, bis es die bisherigen Energiemengen wieder gibt. Das werden viele betroffene Unternehmen nicht überleben. Da der Fall trotzdem immer wahrscheinlicher wird, dürfte neben der Rationierung auch ein Plan erforderlich werden, welche Betriebe man aufgibt oder im Zuge dieses Krisenprogramms gleich auf andere Energieträger umstellt.
Es dürfte also eine Rosskur werden, die sich aufgrund der Eskalation der Kriegslage vermutlich nicht vermeiden lässt. Es gibt aber keinen Grund, das auch noch zu beschleunigen. Habeck würde keinen Tag zögern, das Gas abzustellen, wenn er dazu in der Lage wäre. Schwedt zeigt, dass es ihm an Entschlossenheit nicht mangelt.