grey and red flag

Wie gehen wir mit einer Supermacht um, die von einem Kriegsverbrecher angeführt wird?

Mit dieser exzellenten Eingangsfrage erscheint heute in der NYT ein unten in Übersetzung folgender Kommentar des mehrfachen Pulitzer-Preis Trägers Thomas L. Friedman.
 
Friedman schildert vor allem die Herausforderung sehr gut, die sich daraus ergibt, dass die bisherige geopolitische Stabilität, er nennt es treffend „Koexistenz“, mit Putin-Russland durch dessen Angriffskrieg zerstört ist. Auch die Bewertung des russischen Fehlschlags, den Friedman mit der Feststellung kommentiert, dass Putin mit diesem Krieg genau das Gegenteil seiner vermuteten Absichten oder Interessen erreicht hat, trifft es gut. Das nun zu erwartende adaptierte Ziel der russischen Kriegsführung, mit allen fürchterlichen Folgen für den Osten und Süden der Ukraine, entspricht der allgemeinen Einschätzung der Lage.
 
 
Die alles entscheidende Frage lautet aber wie in seiner Überschrift bereits formuliert: Wie gehen wir damit um und vor allem, was ist das Ziel?
 
Die offizielle politische Formel lautet, das Ziel sei die Einstellung des Kriegs. Das ist aber nur ein unstrittiges Nahziel. Bereits mit diesem Angriffskrieg und nun auch wegen dessen Kriegsführung ist klar, dass es einen Status quo ante nicht geben kann. Das eigentliche strategische Ziel muss also definieren, wie eine neue Stabilität, ich nenne es bewusst nicht „Frieden“, mit Russland aussehen kann. Ohne dieses Ziel ist eine Beendigung des Kriegs kaum möglich, jedenfalls nicht nachhaltig.
 
 
Friedman spricht an der Stelle, auch wenn er sich dabei offensichtlich nicht schlüssig ist, von einem Regime-Wechsel in Russland. Das ist in den USA eine verbreitete Sicht und niemand in Europa wird da gerne widersprechen, wer sollte dieses Ziel nicht „mögen“. Wie Friedman selbst es in seiner Ausgangsfrage aber bereits auf den Punkt bringt, ist dieses Ziel ein gefährliches Spiel, denn es würde diesen Krieg und die gesamte Konfrontation mit dem Westen für Putin selbst zum Überlebenskampf machen. Ob es klug ist, ihm den aufzuzwingen, wissen die Strategen in Washington, bei der Nato und nicht zuletzt in der Ukraine selbst hoffentlich sehr genau?
 
 
Die Ausführungen von Friedman, die dann auch noch in einer Priese US-Pathos münden, überzeugen an der Stelle leider gar nicht. Die Überlegungen zu einem Regime-Wechsel zeigen doch eher mehr Risiken als Chancen, auch wenn er es anders behauptet. Natürlich kenne ich an der Stelle keine bessere Antwort, sondern komme nur auf die Ausgangsfrage zurück, die dieser Kommentar aus meiner Sicht sehr gut begründet, ohne sie jedoch zu beantworten.
 
Vermutlich gibt es derzeit keine Antwort. Gerade deshalb ist aber genau diese Feststellung aktuell so notwendig. Die USA, die Nato, Europa stehen vor der schwierigen Aufgabe, das Ziel ihrer Maßnahmen zu definieren. Das gilt auch und vor allem für die Ukraine selbst. Natürlich kann sie sich derzeit nur mit allen verfügbaren Mitteln militärisch verteidigen und alles erdenkliche tun, militärische Unterstützung einzuwerben. Der Verlauf des Kriegs wird zugleich die Leitplanken setzen, über welche Ziele überhaupt nachzudenken ist. Das ist also ein dynamischer Prozess, der aber vermutlich bald Konturen gewinnen wird.
 
Wir können nur hoffen, dass die damit befassten Analysten und Strategen gute Informationen haben und die richtigen Entscheidungen treffen. Das ganze Desaster ist vermutlich in Russland ausgelöst worden, weil genau das nicht der Fall war. Das darf sich nicht wiederholen, die Ausgangsfrage von Friedman bringt es auf den Punkt.
 
 
Bis dahin ist es ganz besonders wichtig, zu erkennen, was man ungern erkennen möchte: Wir wissen nicht wirklich, was wir tun. Das kann nur besser werden, wenn wir diesen schmerzhaften Gedanken zulassen.
 
 
 
 
Hier die Übersetzung:
Wie gehen wir mit einer Supermacht um, die von einem Kriegsverbrecher angeführt wird?
Es ist schwer zu glauben, aber nicht mehr zu leugnen, dass der breite Rahmen, der seit dem Ende des Kalten Krieges für Stabilität und Wohlstand in weiten Teilen der Welt gesorgt hat, durch Wladimir Putins Einmarsch in der Ukraine ernsthaft erschüttert worden ist. Auf eine Art und Weise, die wir nicht in vollem Umfang zu bewerten wussten, beruhte ein großer Teil dieses Rahmens auf der Fähigkeit des Westens, mit Putin zu koexistieren, während er den „bösen Buben“ spielte, der die Grenzen der Weltordnung austestete, sie aber nie in großem Umfang verletzte.
Doch mit Putins grundlosem Einmarsch in die Ukraine, der wahllosen Zerstörung der ukrainischen Städte und dem Massenmord an der ukrainischen Zivilbevölkerung wurde er vom „bösen Buben“ zum „Kriegsverbrecher“. Und wenn der Führer Russlands – eines Landes, das sich über 11 Zeitzonen erstreckt, über riesige Öl-, Gas- und Mineralienvorkommen verfügt und mehr Atomsprengköpfe besitzt als jedes andere Land – ein Kriegsverbrecher ist und fortan wie ein Paria behandelt werden muss, dann hat sich die Welt, wie wir sie bisher kannten, grundlegend verändert. Nichts kann mehr so funktionieren wie bisher.
Wie kann die Welt eine effektive UNO haben, wenn ein Land im Sicherheitsrat sitzt, das von einem Kriegsverbrecher angeführt wird, der gegen jede Resolution sein Veto einlegen kann? Wie kann die Welt eine wirksame globale Initiative zur Bekämpfung des Klimawandels haben, wenn sie nicht in der Lage ist, mit dem Land mit der größten Landmasse auf dem Planeten zusammenzuarbeiten? Wie können die USA beim Iran-Atomabkommen eng mit Russland zusammenarbeiten, wenn wir kein Vertrauen zu Moskau haben und kaum mit ihm kommunizieren? Wie können wir ein Land, das so groß und mächtig ist, isolieren und versuchen, es zu schwächen, obwohl wir wissen, dass es gefährlicher sein könnte, wenn es zerfällt, als wenn es stark ist? Wie können wir die Welt zu vernünftigen Preisen ernähren und mit Treibstoff versorgen, wenn ein sanktioniertes Russland einer der weltweit größten Exporteure von Öl, Weizen und Düngemitteln ist?
Die Antwort lautet: Wir wissen es nicht. Mit anderen Worten: Wir treten in eine Zeit der geopolitischen und geoökonomischen Unsicherheit ein, wie wir sie seit 1989 – und möglicherweise 1939 – nicht mehr erlebt haben.
Und es verspricht nur noch schlimmer zu werden, bevor es besser wird, denn Putin ist jetzt wie ein in die Enge getriebenes Tier. Mit seiner Invasion in der Ukraine hat er nicht nur so viel falsch gemacht, sondern auch das Gegenteil von dem bewirkt, was er eigentlich erreichen wollte, so dass er verzweifelt um jeden Preis nach einem Kriegserfolg sucht, der diese Tatsache verdecken kann.
Putin sagte, er müsse in die Ukraine einmarschieren, um die NATO von Russland wegzudrängen, und sein Krieg hat nicht nur das stagnierende westliche Militärbündnis wiederbelebt, sondern auch die Solidarität und die waffentechnische Modernisierung der NATO garantiert, solange Putin an der Macht ist – und wahrscheinlich noch eine Generation danach.
Putin sagte, er müsse in die Ukraine einmarschieren, um die in Kiew herrschende Naziclique zu beseitigen und sowohl das ukrainische Volk als auch das ukrainische Territorium in die Arme von Mütterchen Russland zurückzubringen, wo sie von Natur aus hingehörten und in seiner Vorstellung auch hingehören sollten. Stattdessen hat seine Invasion die Ukrainer – selbst einige ehemals russlandfreundliche Ukrainer – für mindestens eine Generation zu erbitterten Feinden Russlands gemacht und den Wunsch der Ukraine, von Russland unabhängig und in die Europäische Union eingebettet zu sein, noch verstärkt.
Putin dachte, dass er sich mit einer blitzschnellen Übernahme der Ukraine den gebührenden Respekt des Westens für Russlands militärische Fähigkeiten verdienen würde – und damit die Beleidigungen beenden würde, dass Russland, dessen Wirtschaft kleiner ist als die des Staates Texas, nur „eine Tankstelle mit Atomwaffen“ sei. Stattdessen wurde seine Armee als inkompetent und barbarisch entlarvt und musste Söldner aus Syrien und Tschetschenien anwerben, nur um ihre Stellung zu halten.
Nachdem er so viel falsch gemacht und diesen Krieg auf eigene Faust begonnen hat, muss Putin verzweifelt versuchen zu zeigen, dass er etwas erreicht hat – zumindest die unangefochtene Kontrolle über die Ostukraine, von der Donbass-Region bis nach Odessa an der ukrainischen Schwarzmeerküste und die Verbindung zur Krim. Und er will es sicherlich bis zum 9. Mai schaffen, wenn in Moskau die riesige jährliche Parade zum Tag des Sieges stattfindet, mit der Russlands Sieg über die Nazis im Zweiten Weltkrieg gefeiert wird – der Tag, an dem sich das russische Militär an seinen größten Ruhm erinnert.
Es hat also den Anschein, dass Putin eine zweigleisige Strategie verfolgt. Erstens gruppiert er seine verwüsteten Streitkräfte neu und konzentriert sie darauf, diese kleinere militärische Beute vollständig einzunehmen und zu halten. Zweitens setzt er auf systematische Grausamkeit – die fortgesetzte Beschießung ukrainischer Städte mit Raketen und Artillerie, um so viele Opfer und Flüchtlinge wie möglich und so viel wirtschaftlichen Ruin wie möglich zu verursachen. Er hofft offensichtlich, dass die ukrainische Armee dadurch zumindest im Osten zerbrechen wird, und dass die NATO dadurch zerbrechen wird, dass ihre Mitgliedstaaten von den vielen Flüchtlingen überwältigt werden und Kiew unter Druck setzen, Putin zu geben, was er will, damit er aufhört.
Die Ukraine und die NATO brauchen daher eine wirksame Gegenstrategie.
Sie sollte drei Säulen haben. Die erste besteht darin, die Ukrainer mit Diplomatie zu unterstützen, wenn sie mit Putin verhandeln wollen – das ist ihre Entscheidung -, sie aber auch mit den besten Waffen und der besten Ausbildung zu unterstützen, wenn sie die russische Armee von jedem Zentimeter ihres Territoriums vertreiben wollen. Zweitens müssen wir täglich und lautstark – auf jede erdenkliche Weise – verkünden, dass sich die Welt „mit Putin“ und „nicht mit dem russischen Volk“ im Krieg befindet – genau das Gegenteil von dem, was Putin ihnen erzählt. Und drittens müssen wir unsere Abhängigkeit vom Öl, Putins Haupteinnahmequelle, beenden.
Die Hoffnung ist, dass diese drei Maßnahmen zusammen Kräfte innerhalb Russlands in Bewegung setzen, die Putin von der Macht stürzen.
Ja, das ist eine risikoreiche Angelegenheit mit hohem Gewinn. Putins Sturz könnte dazu führen, dass jemand Schlimmeres das Ruder im Kreml übernimmt. Er könnte auch zu anhaltendem Chaos und Zerfall führen.
Wenn aber jemand Besseres kommt, jemand mit einem Mindestmaß an Anstand und dem Ehrgeiz, die Würde und die Einflussbereiche Russlands auf der Grundlage einer neuen Generation von Tschaikowskis, Rachmaninoffs, Sacharows, Dostojewskis und Sergej Brins wiederherzustellen – und nicht von Oligarchen, die Jachten besitzen, Cyberhackern und mit Polonium bewaffneten Attentätern -, dann wird die ganze Welt besser. So viele Möglichkeiten für eine gesunde Zusammenarbeit würden wiederbelebt oder neu geschaffen werden.
Nur das russische Volk hat das Recht und die Fähigkeit, seinen Führer zu wechseln. Aber das wird nicht einfach sein, denn Putin, ein ehemaliger KGB-Offizier, umgeben von vielen anderen ehemaligen Geheimdienstoffizieren, die ihm hörig sind, ist fast unmöglich zu entmachten.
Aber es gibt ein mögliches Szenario: Die russische Armee ist eine stolze Institution, und wenn sie weiterhin katastrophale Niederlagen in der Ukraine erleidet, kann ich mir eine Situation vorstellen, in der entweder Putin die Führung seiner Armee enthaupten will – um sie zum Sündenbock für sein Versagen in der Ukraine zu machen – oder die Armee, die weiß, dass dies bevorsteht, versucht, Putin zuerst zu stürzen. Zwischen dem russischen Militär und den K.G.B./S.V.R./F.S.B.-Sicherheitsleuten, die Putin umgeben, hat es nie eine Liebesbeziehung gegeben.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das russische Volk eine bessere Führungspersönlichkeit hervorbringen muss, damit die Welt eine neue, widerstandsfähigere globale Ordnung schaffen kann, die an die Stelle der Ordnung nach dem Kalten Krieg tritt, die Putin jetzt zertrümmert hat. Was aber auch notwendig ist, ist, dass Amerika ein Modell für Demokratie und Nachhaltigkeit ist, dem andere nacheifern wollen.
Wenn die Ukrainer das ultimative Opfer bringen, um jeden Zentimeter und jedes Gramm ihrer neu gewonnenen Freiheit zu bewahren, ist es dann zu viel verlangt, dass die Amerikaner die kleinsten Opfer und Kompromisse eingehen, um unser kostbares demokratisches Erbe zu bewahren?
 
 

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