In einem lesenswerten Gastbeitrag für die FAZ mit dem Titel „Gazprom, ein Sündenfalls und die Folgen“, der leider nur Abonnenten zur Verfügung steht, interpretiert Martin Hellwig, ehemals Vorsitzender der unabhängigen Monopolkommission, den 2003 gegen den Widerstand seiner Kommission erfolgten Zusammenschluss von E.ON und Ruhrgas als Ursprung der heutigen Abhängigkeit von russischem Gas.
Hellwig schreibt, dass seit dem Zusammenschluss der beiden größten Gasnetzbetreiber das Wort „Versorgungssicherheit“ mit „G-A-Z-P-R-O-M“ zu buchstabieren sei. Seine Begründung ist nachvollziehbar: Durch den damaligen Zusammenschluss ist erst die Konzentration im Gasnetz entstanden, die Gazprom dann gezielt infiltrieren konnte. Dabei ist das Entstehen bereits damals ein ordnungspolitischer Skandal gewesen. Der damalige Wirtschaftsminister Schröders, Werner Müller, berichtete bereits vor der Entscheidung des Kartellamts positiv über das Vorhaben. Das Kartellamt lehnte die Sache aber nach intensiver Prüfung ab! Die Unternehmen beantragten darauf bei Müller eine Ministererlaubnis. Da er Verbindungen zu Beteiligten hatte, war er befangen. Wie befangen, zeigte sich sehr kurz danach: Er ist nach seinem Ausscheiden als Minister noch 2003, kurz nach der Entscheidung durch sein Ministerium, Vorstandsvorsitzender der RAG geworden, also einer Partei des von ihm genehmigten Geschäfts. Ein ähnlicher Weg, wie der von Schröder selbst. Offiziell wurde die Entscheidung damals an Müllers Staatssekretär Tacke delegiert, der wiederum nur ein Jahr später, 2004, in Müllers Reich folgte und Vorstandsvorsitzender einer Tochter der RAG wurde.
Die Monopolkommission, der Hellwig damals vorstand, hat sich in so einem Verfahren zu den Gründen der Unternehmen zu äußern und sie konnte das umfassend zurückweisen. Hellwig zitiert aus dem nun fast zwanzig Jahre alten Gutachten exakt die drohenden Missstände, die uns heute solche Probleme bereiten: Verschlossene Märkte, keine Diversifikation, ausschließlich ökonomische Nutzung der Speicher, einseitige Lieferbeziehungen, namentlich hohe Abhängigkeit zu Gazprom. Auch der Verzicht auf LNG-Terminals und den Aufbau alternativer Lieferketten erwartete die Monopolkommission. 2003. Schriftlich. Als Gutachten in einem Genehmigungsprozess der Regierung. Ein öffentliches Dokument von aktuellem Wert.
Die Genehmigung wurde damals dennoch erteilt, was aber Klagen einiger Wettbewerber zur Folge hatte. Hellwig schildert eindrucksvoll, wie diese Verfahren vor Gericht abliefen. Das erste Urteil untersagte den Zusammenschluss, aber im Folgeverfahren wurden die Kläger systematisch durch wirtschaftliche Anreize zum Rückzug bewogen. Laut Hellwig sogar eine finnische Gruppe durch direkte Intervention von Schröder selbst. Es wurde also nichts unversucht gelassen, diese erste maßgebliche Konzentration im deutschen Gasnetz durchzusetzen – und bereits die wurde überwiegend von Gazprom beliefert.
Der Anteil an russischen Lieferungen betrug damals 30% und er hat sich in der Folge bekanntlich fast verdoppelt. Hellwig dokumentiert auch eine weitere Ministererlaubnis, die nach seiner Zeit bei der Kommission zustande kam. Das war 2015, also nach dem Einmarsch in die Krim und nach mehrfachen Nutzungen von Gas als politische Waffe in Osteuropa durch Gazprom. Dieses Mal war es Sigmar Gabriel als Wirtschaftsminister, der den unfassbaren Deal zwischen BASF/Wintershall und Gazprom genehmigte. Damals gab BASF große Teile der eigenen Gasinfrastruktur, zu der auch der größte Gasspeicher Deutschlands in Rheden gehört, an Gazprom ab, um im Gegenzug Förderrechte an russischen Erdgasfeldern zu erhalten. Gabriel begründete seine Entscheidung, die insbesondere von den Grünen heftig kritisiert wurde, damit, man könne sich bei Ausfällen aufgrund der international gut funktionierenden Gasmärkte auch schnell anderweitig eindecken, ein Risiko bestehe nicht.
Dass dies ein Irrtum – oder vielleicht schlicht eine Falschaussage? – war, konnte Gabriel bereits damals dem 2003er Gutachten der Monopolkommission entnehmen. Heute ist die Situation von BASF/Wintershall erschreckend hilflos. Der BASF-Chef warnt besonders laut vor einem Gas-Embargo, weil der Hauptstandort Ludwigshafen ohne Gas herunter gefahren werden müsse. Wintershall wiederum gibt zu, dass man in Russland weiter fördere und die Rechte nicht aufgeben wolle, weil die dann nur billig in russische Hand fielen. Zugleich argumentiert man, das dort geförderte Gas müsse man ja ohnehin an Gazprom verkaufen, weshalb es zunächst mal innerhalb Russlands verbleibe und man mit dem Weiterverkauf ins Ausland nichts zu tun habe.
Diese vollkommen hilflos schräge Argumentation belegt natürlich nur, worauf man sich da eingelassen hat. Mit einem Staat, der mehrfach gezeigt hat, wie er aus politischen Gründen mit Eigentumsrechten umgeht, nämlich mit Enteignungen und Verstaatlichungen, wurde eine Dealstruktur vereinbart, die man schon Verheiratung nennen muss. So eine gegenseitige, tief strukturelle Abhängigkeit mit einem einzigen Anbieter würde man vermutlich nicht mal mit einem Rechtsstaat in der Quote eingehen, aber ausgerechnet mit Russland ging das.
Heute ist das ein entsetzlicher Scherbenhaufen. Die Gasspeicher sind vor dem Krieg leer gefahren worden. Nicht nur die Belieferung mit dem Rohstoff selbst, nein der ganze Betrieb der eigenen Infrastruktur ist maßgeblich in russischer Hand. Das Wirtschaftsministerium muss zu für Deutschland einmaligen gesetzlichen Maßnahmen greifen, um privatwirtschaftliche Unternehmen zu kontrollieren, ggf. zu enteignen. Was öffentlich kaum diskutiert wird: Im Rechtsstaat Deutschland sind dafür Entschädigungen an die Besitzer zu zahlen. Die ganze Entflechtung, die weit über die Gazprom Germania hinaus geht, wird Monate dauern und vermutlich Jahre des Rechtsstreits zu Folge haben. Grundsätzlich müssen wir davon ausgehen, dass im Ergebnis nicht unerhebliche Entschädigungen an Russland zu zahlen sind.
Zugleich bleibt für den Erhalt der dafür im Gegenzug in Russland eingeräumten Rechte nichts anderes übrig, als diese brav weiter zu betreiben oder, was viele andere Energiekonzerne getan haben, abzuschreiben. Diese Geschäfte waren zu keiner Zeit so symmetrisch, wie behauptet wurde, weil die beteiligten Rechtssysteme es nie waren. Nun haben Energiekonzerne aus allen westlichen Ländern Geschäfte mit Russland gemacht, die auch gegenseitige Beteilungen und Förderrechte in Russland umfassten. Das war sogar elementar notwendig für die Russen, da die Öl- und Gasförderung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ganz wesentlich von westlichen Unternehmen mit moderner Technologie aufgebaut wurde.
Es macht aber einen großen Unterschied, ob wie bei Shell&Co ein paar Aktienpakete mit geringer Quote ausgetauscht werden oder wie in Deutschland weite Teile der nationalen Infrastruktur mehrheitlich oder komplett unter russische Kontrolle kommt. Niemand in der Politik kann behaupten, davon nichts gewusst zu haben. Seit dem 2003er Gutachten gibt es zahlreiche auch heute noch dokumentierte öffentliche Warnungen, die exakt darlegen, was inzwischen nicht mehr zu leugnende Tatsache ist: Da wurde nicht nur eine bereits unseren Wettbewerbsstrukturen widersprechende Konzentration zugelassen, diese wurde auch noch in russische Hand gegeben.
Hellwig hält sich mit Interpretationen zur Motivation der Politik zurück. Er zitiert die immer wieder, bis zuletzt von Schröder wiederholte Aussage, das sei ohne Risiko, weil selbst die Sowjets stets geliefert hätten. Ferner vermutet er die wirtschaftspolitische Doktrin Schröders, die von der SPD, aber auch von CDU-Wirtschaftsministern fortgesetzt wurde, als wesentlichen Treiber: Die Schaffung von nationalen Champions von Weltrang. Also eine Politik der Großindustrie, die zuletzt ja von Habecks Vorgänger Altmeier auch propagiert wurde.
Sollten hier also durch nationale Konzentration Energiegiganten gezüchtet werden? Diese Erklärung ist unbefriedigend, wenn zugleich solche Abhängigkeiten zu Russland explizit politisch genehmigt werden und die Kontrolle über nichts geringeres als die Infrastruktur dabei abgegeben wird. Es dürfte länger dauern, bis diese asymmetrischen Strukturen bereinigt sind und es wird vermutlich sehr teuer werden, dies zu tun. Dann wird überhaupt erst sichtbar, wie weit verzweigt dieses Netzwerk ist, welche Unternehmen und vor allem Personen involviert sind. Wir sehen vermutlich derzeit nur die Spitze des Eisbergs. Erst mit seiner Erschließung kann die Suche nach Antworten zur Motivation der Beteiligten beginnen.
Was man aber bereits heute sagen kann: Ein wesentliches Element scheint darin zu liegen, dass auf deutscher Seite sehr viele Entscheidungsträger involviert waren. In der Spitzenpolitik lief vieles zusammen, aber vermutlich nicht alles. Viele aus der Wirtschaft, aber auch in der Politik bis auf die Ebene der Kommunalpolitik haben kleine Puzzlestücke geliefert. So mancher hatte sich vielleicht durch ökonomisch attraktive Angebote locken lassen, so mancher mag die politischen Vorteile für sich oder seine Region im Blick gehabt haben, aber wirklich alle? Ob da auch durch direkte Mittelzuwendungen Korruption eine Rolle spielte und möglicherweise immer noch spielt, ist eine offensichtliche Frage, die man nicht ausschließen kann. Wir wissen nichts über Korruption, aber wir können es nicht ausschließen, nein, wir müssen danach suchen. Das ist die Aufgabe von Parlamenten, Staatsanwälten und Journalisten. Hoffentlich ist der parteiübergreifende Filz nicht so dicht, dass dies verhindert wird.
Was man aber sehr wahrscheinlich auch sagen kann: Den multiplen Entscheidungsstrukturen Deutschlands stand sehr wahrscheinlich ein Masterplan auf russischer Seite gegenüber. Diese strategische Infiltration insbesondere der wirtschaftlichen und technischen Strukturen beim Gasnetz, dieser Aufbau von Netzwerken in Politik und Wirtschaft, die Besetzung mit eigenen Leuten in Aufsichtsräten und Geschäftsführungen, die engen Bande zu ehemaligen und noch heute aktiven Politikern sind nicht zufällig entstanden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies zentral gesteuert war, dass also auf russischer Seite keine einzelnen Puzzlestücke verhandelt wurden, sondern ein Gesamtbild.
Welche Rolle diese unterschiedliche Aufstellung verteilter Entscheidungsträger versus eines Masterplans oder vielleicht halt doch gezielte Korruption gespielt haben, sollten wir dringend aufarbeiten. Denn es zeigt, dass eine offene Marktwirtschaft auf dem Boden eines Rechtsstaats angreifbar ist, wenn insbesondere die Besitzverhältnisse der eigenen Wirtschaft nicht sorgfältig überwacht werden. Die EU hat das auch im Falle Chinas erkannt, aber leider wohl zunächst mal das Thema als solches.
So eine systematische Übernahme einer relevanten, gar systemrelevanten Branche durch einen zentral gesteuerten Besitzer darf es nie wieder geben. Wir sollten daher keinen Aufwand scheuen, das vollständig aufzuklären, um dann Mechanismen zu entwickeln, so etwas zukünftig zu verhindern.