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Die russische Strategie kann nicht mehr geleugnet werden

Eine US-kritische Sicht ist für Europa zweifellos trotz oder gerade wegen aller Allianzen und Verbindungen Pflicht. Weder die unstrategisch bellizistische Politik von Bush, noch die zunehmend protektionistischen Entwicklungen sowie die Auseinandersetzung mit China, die bereits unter Obama begonnen hatten, erlauben es den Europäern, einfach von einer Interessengleichheit mit den USA auszugehen. Spätestens die Präsidentschaft Trumps, die seitdem offenbarte Krise der US-Innenpolitik und die vollkommen offene Frage, wo die USA mit welchem nächsten Präsidenten stehen werden, sollten für die Europäer die letzte Warnung sein, eigenständige Strategien und Lösungen zu erarbeiten.
Das ist aber nur erfolgreich möglich, wenn wir uns strikt von dem fast schon dogmatischen Anti-Amerikanismus lösen, der nahezu alle Probleme der Welt in der bösen Interessenpolitik der USA verortet. Gerade in der aktuellen geopolitischen Krise mit einer ganz anderen militärischen Großmacht kann das zur Erblindung führen. So wurden die Warnungen vor der Abhängigkeit von den russischen Energie- und insbesondere Gaslieferungen seit Jahrzehnten mit dem Argument verworfen, das sei nur amerikanische Propaganda, die uns in Lieferabhängigkeiten der dortigen Industrie treiben solle. Und nicht wenige erzählen das noch heute!
Ein Zankapfel in der Sache war bekanntlich Nord Stream 2. Es ist entsetzlich, dass es auch damit immer noch nicht vorbei ist. Dabei wird immer deutlicher, welche geopolitische Absicht hinter der Gasversorgung steht, die mit allen Mitteln – vermutlich bis zur Korruption – so tief bis in unsere Versorgungsinfrastrukturen gedrückt wurde. Es ist vollkommen logisch, dass dabei eine direkte Pipeline zur größten Volkswirtschaft Europas mit zugleich einer der größten Abhängigkeiten vom russischen Gas strategisch besonders klug ist – aus der Sicht Russlands. Dass der Kreml die Sache immer noch nicht aufgegeben hat, erkennen wir daran, dass weiter Desinformationskampagnen gefahren werden, die selbst in der aktuellen Lage den Betrieb von Nord Stream 2 als weshalb auch immer sinnvoll bezeichnen. Wir sollten uns vor allem anschauen, wer diese Kampagnen bedient oder aufgreift – und diese Leute fragen, warum sie das tun.
Dazu gilt es, zu erkennen, wie strategisch und systematisch Russland agiert. Das Atlantic Council ist eine US-Denkfabrik, die von vielen als Propaganda-Maschine der US-Regierung abgetan wird. Dieses Totschlagargument dient gerne als Verweigerung, sich mit solchen Veröffentlichungen auseinanderzusetzen. Das ist ziemlich dumm, denn es mag stimmen, die Unabhängigkeit solcher Einrichtungen zu bezweifeln, aber da arbeiten oft sehr kompetente Menschen und denen darf man durchaus – gerne kritisch – zuhören. Der Vorteil solcher Denkfabriken ist nämlich, dass sie im Unterschied zu unseren Medien nicht darauf angewiesen sind, leicht verdauliche Themen zu machen und sie können sich oft auch Expertise leisten, die unseren Medien zunehmend verloren geht.
Eine Möglichkeit, kritische Distanz zu wahren, besteht übrigens darin, die Beiträge solcher Plattformen einfach mit zeitlicher Distanz zu lesen, weil man sie dadurch oft viel leichter einschätzen kann. Die Kanadierin Diane Francis, eine mehrfach ausgezeichnete Journalistin, hat im September 2021 einen gerade heute besonders lesenswerten Beitrag verfasst, der so ein Beispiel ist: https://www.atlanticcouncil.org/…/vladimir-putin…/
Francis legt hier dar, dass bereits im letzten Herbst die Gasmärkte durch Russland gezielt manipuliert wurden, um die Preise zu treiben und erste Knappheiten zu erzeugen. Sie vermutete im letzten September, dass damit die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 durchgesetzt werden sollte. Bekanntlich wollten die USA das mit direkten Sanktionen gegen die Betreiber verhindern, was aber aus Rücksicht auf Deutschland nicht durchgezogen wurde. Es waren in der Tat die Regierungen Merkel/Gabriel und zuletzt Merkel/Scholz, die Nord Stream 2 weiter verfolgten und gegen alle internationalen Bedenken schützten. Francis vermutet in ihrem Beitrag, Russland erhöhe nun den Druck, um die noch ausstehende Inbetriebnahme gegen ein mögliches Umfallen der Regierung Deutschlands, die ja parallel vor einer Neuwahl stand, sicherzustellen.
Der Kernsatz des Beitrags lautet übersetzt: „Der so genannte Deal [gemeint ist NS2] der russischen Regierung mit Deutschland verschafft Wladimir Putin einen geostrategischen Sieg, verfestigt den korrupten russischen Einfluss in Europa und schwächt die Sicherheit der Ukraine, Polens und anderer Staaten, die an vorderster Front der Kreml-Aggression stehen, drastisch“. Das ist ein Zitat zweier US-Senatoren, die sich bei der Regierung Biden dafür einsetzten, den Druck auf Deutschland zu erhöhen und ggf. durch die zurück gehaltenen Sanktionen auch gegen den Widerstand Deutschland die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu verhindern.
Aus heutiger Sicht ist dieser Beitrag viel besser zu bewerten. Noch im letzten Herbst war es trotz kritischer Gegenstimmen weitgehend Konsens in der deutschen Politik, Nord Stream 2 weiter zu verfolgen. Die Entscheidung dagegen ist auch in der Ampel-Koalition erst nach dem Überfalls Russlands auf die Ukraine gefallen. Wir wissen aber vor allem über die Aktivitäten Russlands wesentlich mehr. In der Tat sind die Gaspreise bereits vor dem Krieg weiter eskaliert worden. Parallel wurden die unter russischer Regie laufenden Gasspeicher in ganz Europa gezielt leer gefahren. Ebenso wissen wir inzwischen, dass zu der Zeit längst die militärischen Vorbereitungen für einen Angriffskrieg auf die Ukraine liefen.
Während noch im Herbst diese Warnungen vor Nord Stream 2 also bei uns von vielen als US-Propaganda abgetan wurden, müssen wir heute feststellen, dass die tatsächlichen Aktivitäten Russlands sogar unterschätzt wurden. Nord Stream 2 ist nur ein Puzzlestück in nichts geringerem als einem Angriff auf Europa, der systematisch auf allen Ebenen vorbereitet wurde, nicht auf die Ukraine begrenzt ist und auch nicht schnell abzuwehren ist. Mit den Manipulationen der Gasmärkte wurde also nicht so etwas kleinteiliges wie Nord Stream 2 befördert, sondern ein viel größer angelegter militärischer und politischer Angriff.
Dagegen helfen keine Friedensgespräche, die, so wünschenswert sie wären, nicht gelingen können, so lange der Angreifer seine lange vorbereiteten Aktionen nicht erschöpft hat und es wäre fatal, gar einzuknicken und sich wieder in diese Lieferabhängigkeiten zu begeben. Der Ukraine-Krieg ist genauso ein Puzzlestück, wie es Nord Stream 2 ist und die Preisexzesse sowie die möglichen Versorgungsengpässe sind nichts anderes als gewollt. Sie sind Teil des Angriffs auf Europa. Eine Kapitulation ist keine Option, weder militärisch, noch energiepolitisch – sonst geht dieser Angriff einfach nur weiter.

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