stromflüsse

Die Debatte über Energiepolitik ist heuchlerischer als die keineswegs gelungene Politik selbst

Die FAZ bringt mit dem Titel „Deutschlands Energiepolitik ist heuchlerisch“ einen völlig überflüssigen und komplett uninformierten Rant, der u.A. die These vertritt, die Laufzeitverlängerung sei erstens ganz ganz wichtig und zweitens als Signal außenpolitischer Solidarität geboten: https://www.faz.net/…/atomkraft-und-fracking…
In einer Zeitung, die Qualität für sich beansprucht. Wie soll in dieser so wichtigen europäischen Energiedebatte etwas funktionierendes resultieren, wenn sie überall durch Schwachsinn dominiert wird?
Es ist schon Schwachsinn, wenn in europäischen Medien das Märchen von den stromtechnisch anämischen Deutschen erzählt wird, die jetzt auch noch so dreist sind, ihre letzten Atomkraftwerke abzuschalten, statt sich mit denen zuerst mal selbst zu versorgen. Dieser Schwachsinn wird leider hierzulande auch erzählt und nun lesen wir einen Artikel, der das auf die Spitze treibt, indem er daraus so etwas wie eine außenpolitische Notwendigkeit macht und ausgerechnet von Heuchelei spricht.
Richtig ist, dass es in ganz Europa jede Menge Heuchelei in der Energiepolitik gibt und es wäre dringend an der Zeit, diese aufzudecken. Genau da greift dieser Beitrag nicht nur daneben, er unterstützt eben das, was er angreift: Heuchelei.
Tatsache ist, dass Deutschland beim Strom seit Jahrzehnten seine Nachbarn unterstützt. Es gibt nur drei Länder, aus denen Deutschland mehr Strom bezieht, als dorthin abzugeben: Niederlande, Dänemark und Norwegen. Alle anderen beziehen netto mehr von uns, als wir von ihnen. Namentlich Frankreich wird und muss in 2022 sehr viel Strom von uns beziehen, weil die dortige Atomkraft nicht lieferfähig ist. Das gilt zumindest bis weit in den Herbst hinein auch für die Wasserkraft in der Schweiz.
Das sind die ganz wesentlichen Veränderungen im Jahr 2022! Sie haben mit der trockenen Witterung und einem Versagen in der französischen Kernkraftindustrie zu tun. Wenn man etwas thematisieren will, dann sollten es sachgerecht die Fehler in den jeweiligen Ländern sein und daraus wären die richtigen Rückschlüsse zu ziehen. Auch in Deutschland, keine Frage.
Das ist aber verdammt komplex und offensichtlich machen Medien sowie viele Lautsprecher in den Sozialen Medien lieber billige und populäre Nachrichten. Die Komplexität resultiert übrigens aus einem Fortschritt im europäischen Stromsystem: Es wurde immer mehr grenzüberschreitende Leitungskapazität gebaut und es wurde ebenso ein reger Handel organisiert.
Der Fehler vieler Analysen liegt nun in der Auswertung dieser Handelsstatistiken. Die sagen aber wenig über die Stromflüsse und noch viel weniger über die Abhängigkeiten. Viel Strom wird irgendwo gehandelt und weiter gehandelt, um dann gänzlich anders physikalisch zu fließen. Viel Strom wird nach Preisanreizen gehandelt und nicht nach physikalischen Notwendigkeiten. Man kauft oft im Ausland zu, statt selbst zu produzieren, weil es billiger ist, nicht, weil es technisch erforderlich ist.
So zeigt das beigefügte Chart die Netto-Stromflüsse zwischen den Ländern und das oben erwähnte Bild für Deutschland, Frankreich und die Schweiz. Tatsächlich liegen dahinter zwischen ALLEN Ländern Stromflüsse in beide Richtungen. Selbst die entlegenen Norweger, das einzige Land, welches an alle Nachbarn netto mehr liefert als bezieht, wird durchaus von den Partnern auch beliefert, es fließt also selbst nach Norwegen Strom aus dem Rest Europas.
Ob als Ergebnis dieser jahrzehntelangen europäischen Integration überhaupt noch irgendein Land beim Strom autark oder auf andere angewiesen ist, wird nun so gerne diskutiert, thematisiert und dilettantisch in irgendwelchen Zahlen „analysiert“, dabei sollte jeder verstehen: Darum geht es längst nicht mehr und das ist auch gut so.
Grundsätzlich führt dieser integrierte Strommarkt dazu, dass täglich überall Strommengen bezogen oder abgesetzt werden können. Leider, das hatte ich hier oft thematisiert, zu einem mehr als fraglichen Preismechanismus, der schon immer falsche Anreize erzeugt hat und momentan eine überflüssige Preiskrise auslöst.
Der Vorteil dieses Austauschs besteht darin, dass es heute viel besser möglich ist, in der Stromerzeugung leider dauernd anfallende Überschussenergie – nein, kein alleiniges Problem der Erneuerbaren, das ist seit Bau der ersten Kraftwerke so – irgendwo zu verwenden, statt sie zu vernichten. Umgekehrt kann man anfallende Defizite besser eindecken, statt dafür zu viel träge Kraftwerkskapazitäten vorzuhalten.
Es ist Europa also insgesamt gelungen, bei der Stromerzeugung weiter zu kommen, es ist aber leider nicht gelungen, das Gesamtsystem energietechnisch zu optimieren – auch wegen der ökonomischen Fehlanreize der Strombörsen. Das wäre nun aber dringend geboten und mit solchen Heuchelbeiträgen gelingt das ganz sicher nicht.
Denn: In der Tat hat jedes Land seine eigenen Stärken, die es beitragen könnte, aber auch Schwächen und Fehler begangen. Wenn jetzt – und das droht politisch leider gewiss – der gigantische Fehler hinzu kommt, rein nationale Debatten und die auch noch weit jenseits der Sachlage zu führen, wird sich die Sache leider verschlechtern.
Vollkommen richtig und übrigens genauso unstrittig, das muss nicht dauernd als „Argument“ angeführt werden, ist die Tatsache, dass durch Erneuerbare Energien in der Produktion eine erhebliche Volatilität hinzu gekommen ist, weshalb das Thema Überschüsse versus Defizite zumindest nicht einfacher wurde. Ebenso richtig ist, dass es erforderlich ist, Grundlasten bereit zu stellen. Übersehen wird aber, dass es aufgrund der gewachsenen Komplexität in allen europäischen Ländern, gänzlich jenseits der Frage der Erneuerbaren, immer schwieriger geworden ist, Spitzenlasten bereit zu stellen.
Diese Spitzenlastfähigkeit ist nämlich gegenüber der Grundlastbereitstellung inzwischen das größere Problem – und da ist Deutschland weiter gekommen, als viele andere. Das aber ist genau die Achillesverse der Sache, denn Deutschland hat dabei auf den Faktor Gaskraftwerke gesetzt. Energietechnisch übrigens vollkommen zurecht, aber die Frage der Gasbeschaffung und der Abhängigkeiten leider sträflich falsch umgesetzt.
Folge ist, dass wir in Europa nun vor allem ein Thema mit der Gasverstromung haben. Das wird komplett falsch diskutiert, das drängende Thema ist nicht die Kernkraft, sondern diese Achillesverse. Wir können das gar nicht schnell durch andere Kraftwerkstypen ersetzen und es ist auch nicht mal erstrebenswert, denn das wäre ein Weg zurück zur Energieverschwendung. Mit den anderen Kraftwerkstypen muss man zur Vermeidung von Spitzenlasten so viel Energie bevorraten, dass die Sache mit den nicht verwendbaren Überschüssen nämlich jenseits von Wind und Sonne wieder eskaliert.
Die Themen in Europa lauten also primär Spitzenlastproduktion, sekundär Grundlastproduktion und führen daher zu Dingen wie Power-to-Gas und dem massiven Ausbau von Speichertechnologien. Der Ausbau Erneuerbarer ist dabei ohnehin ein Selbstläufer – und nein, damit habe ich nicht behauptet, das löse alle Probleme, was auch sonst niemand sagt, der mit der Sache befasst ist.
Europa sollte und aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeiten muss das sogar technisch zwingend so sein (gut so!) eine gemeinsame Energiewende planen. Selbstverständlich ist dabei zu klären, wie Spitzenlastproduktion erfolgen soll. Die Causa Gas liegt auf dem Tisch und es ist auch richtig, zu kritisieren, dass daraus eine bisher ungeklärte Frage der deutschen Energiewende entstanden ist, die zudem große Teile unserer Nachbarschaft betrifft.
Die Grundlastthematik ist erst danach zu diskutieren und sie hat bei weitem nicht den Stellenwert, der ihr beigemessen wird. An der Stelle muss man – auch! – über Atomkraft diskutieren, aber das Thema gehört nicht da hin, wo es jetzt dauernd platziert wird, weil es gar nicht die Probleme adressiert, die wir tatsächlich haben. Das gilt für die Laufzeitverlängerung übrigens genauso. Die kann politisch noch so gerne nach vorne geschoben werden, im In- wie im Ausland. Es bleibt eine Marginalentscheidung von geringer Bedeutung – und sie wird nach meiner Erwartung positiv ausfallen, ohne viel zu bewirken. Es dürfte vermutlich richtig sein, diese Grundlastkapazitäten zu erhalten, es wird aber ganz sicher wenig beitragen.
Hoffentlich sind die europäischen Energieminister in ihren jetzt ja regelmäßigen Sitzungen mit ganz anderen Themen beschäftigt als unsere Öffentlichkeit. Sonst wird das eher schlechter als besser werden.

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