Ein sehr gutes Beispiel der Funktionsweise unserer Märkte für viele Waren, Rohstoffe und Energie bei sogenannten „exogenen Schocks“ wie nun die – drohende! – Knappheit beim Erdgas in Europa: VW hatte seinen Gasbezug mittelfristig “gehedget“. Das ist der Begriff für die Absicherung des Preises durch den Kauf von Bezugsrechten an den Terminbörsen. So hatte sich das Unternehmen vermutlich gesichert, zu einem Preis von 30 Euro auch zukünftig Gas zu beziehen. Das darf man als eine Art Versicherung verstehen. Wäre der Preis unter 30 Euro gefallen, hätte die Versicherung halt eine Prämie gekostet, steigt er über den Preis, schützt sie vor dem Schaden.
Das ist ein solides und rationales Handeln des Unternehmens. Dann kommt jener „Schock“, eine Knappheit droht – sie ist ja nicht mal eingetreten. Der Preis eskaliert. VW reagiert darauf, indem das Unternehmen ein Kohlekraftwerk reaktiviert und zunächst mal das Gas gar nicht mehr braucht. Nicht gut für die Umwelt, aber mangels anderer Energiequellen macht ganz Deutschland das derzeit. Nun braucht VW die Versicherung gegen den Gaspreis aber nicht mehr. Da andere sie viel dringender benötigen, wird sie also verkauft – für einen vermuteten Gewinn von 400 Millionen.
Das ist also ein reiner Handelsertrag mit Warenterminkontrakten. Das Gas selbst wurde nie bezogen und es wird auch nicht mehr benötigt, es ist in dem Fall ein Spareffekt, der erst in der Zukunft eintreten wird. Sollte der Gaspreis sich erholen, wird der sogar überhaupt nicht eintreten, dann wird VW rasch wieder Gas beziehen und die teurere Kohle ersetzen.
Es wäre falsch, deshalb VW an den Pranger zu stellen. Da viele diese Kontrakte derzeit verkaufen, sinken die Preise wieder, das hat also sogar einen mittelfristig dämpfenden Effekt auf die Preise. Ob es einen dämpfenden Effekt auf den Gasverbrauch hat, hängt aber ganz alleine vom zukünftigen Preis ab.
Nun muss man ergänzen, dass der Handel mit solchen „Versicherungen“ darüber hinaus für reine Finanzinvestoren möglich ist, die gar kein Gas benötigen. Es handeln also viele an den Börsen, die kein Interesse haben, sich gegen steigende Preise abzusichern, sondern eher solche, die gerne stark steigende oder fallende Preise, keinesfalls jedoch stabile Preise sehen wollen.
Wir sollten also fragen, ob es sinnvoll ist, dass diese „Märkte“ ein Unternehmen dafür belohnen, dass es irgendwann mal geplantes Gas spart – oder auch nicht. Noch mehr sollten wir fragen, ob es sinnvoll ist, dass hier Akteure ein Interesse daran haben, stabile Preise zu verhindern. Zumal diese Akteure in ihren Entscheidungen vollkommen frei sind von der Frage, ob sie das gehandelte Gut tatsächlich produzieren oder konsumieren, denen also gänzlich egal sein kann, ob sich Produktion lohnt oder Verbrauch unbezahlbar wird.
Es gibt viele gute Argumente für diese Mechanismen und wir sehen auch, dass sich daraus meist gegenläufige Prozesse bilden, die bei solchen „Schocks“ wieder zur Balance führen. Auch der Gaspreis wird sich wieder normalisieren und zu einem Niveau finden, bei dem Preise wieder mehr damit zu tun haben, zu welchen Kosten das Gut hergestellt wird.
Bei der Argumentation werden aber zwei Fragen gerne ausgeblendet: Erstens sollten wir über den Preis für diese Exzesse reden und auch über dessen Verteilung: Wer verdient an diesen Ausschlägen und was ist seine Leistung zur Behebung des ursächlichen Problems – das bezüglich einer Knappheit beim Gas ja noch nicht mal tasächlich eingetreten ist.
Zweitens ist zu fragen, ob wir das nicht auch ganz anders aufstellen können, ob diese Mechanismen also so alternativlos sind, wie gerne behauptet. Diese Diskussion kommt nämlich viel zu kurz. Tatsächlich – ich habe Kapitalmarkttheorie studiert und schätze Börsenmechanismen sehr, um das klar zu machen – sind gerade bei sehr trägen Märkten diese Börsen schon aus theoretischen Gründen sehr problematisch. Wenn hier die Balance zwischen Angebot und Nachfrage gestört ist, dauert es rein physisch oft eine Weile, bis das wieder auszugleichen ist. An der Stelle dann intraday Preise bestimmen zu lassen und mit Finanzspekulation sowie darauf aufgesetzten derivativen Instrumenten auch zu hebeln, halte ich vorsichtig formuliert für die zweitbeste Idee.
Viele übersehen dabei die Möglichkeit, durch das enorme Potenzial digitaler Plattformen Angebot und Nachfrage – auch ohne Finanzinvestoren – in beliebiger Menge perfekt zu matchen. Der Amazon-Marketplace beispielsweise bringt Milliarden Konsumenten mit hunderten Millionen Anbietern zusammen, die sich dort über Lieferungen, deren Termine und die Preise einigen.
Finanzinvestoren und Zwischenhandelsstufen ohne Mehrwert finden in solchen digitalisierten Märkten nicht statt, Anbieter mit schlechten Preisen scheiden schnell aus, Preisexzesse verlaufen flacher und bereinigen sich viel schneller, sie orientieren sich zudem sehr nah an den tatsächlichen Knappheiten sowie den echten Kosten zu deren Behebung.
Gerade unsere trägen Bedarfsmärkte sollten wir ganz anders aufstellen. Wir können ja gerne „Börse“ zu solchen digitalisierten Märkten sagen, aber es sollte uns gelingen, dass sie nicht drohende Knappheiten mit solchen Preisexzessen durchspielen, bevor diese überhaupt eintreten und dabei auch noch Akteure belohnen, die zur Behebung der Situation rein gar nichts beitragen.