Die politische Debatte fällt zunehmend in die Grundpolarisierung zurück, die bereits seit mehr als 100 Jahren nur für Schaden und Stillstand steht. Die „Rechten“ haben keine eigenen Inhalte mehr, sondern nur Agenda und die verkaufen sie mit Warnungen vor dem Weltuntergang durch die „Linken“. Die „Linken“ wiederum verlieren sich in Grundsätzlichkeiten und verlieren den Kontakt zu Lösungen.
Die jeweiligen Narrative dieser Polarisierung variierten sehr. Vor 100 Jahren waren „die Kommunisten“ das Feindbild, welches sich weit über das deutsche Desaster bis zu McCarthy gut nutzen ließ. So richtig tot war das erst mit dem Ende des Kalten Kriegs, Reagan konnte es wohl als letzter noch mal aufwärmen. Danach waren es „die Sozialisten“ und bevorzugt „die Schuldenmacherei“. Das funktioniert heute nicht mehr so gut, jetzt werden „die Grünen“ und „die Atomkraft“ bemüht. Erstaunlich, wie gut sich die alten Narrative an aktuelle Themen adaptieren lassen. Ebenso erstaunlich, dass es zu einer Polarisierung jenseits der Realität führt. Das ist leider gar nicht lösungsorientiert.
Schön erkennbar ist die Lage an den Kommentaren zum Parteitag der Grünen. Dort wurde als „realpolitisches“ Ergebnis die – übrigens zwischen Reserve- und tatsächlichem Weiterbetrieb nicht genau definierte – Verlängerung von zwei südlichen Kernkraftwerken mit dem finalen Limit April 2023 beschlossen. Daraufhin wird in den Medien und sofort weitergereicht den Sozialen Medien wahlweise von der verantwortungsvollen Entscheidung einer Regierungspartei bis zur grünen Gefahr, der offensichtlich sowohl Blackouts als auch Strompreise egal sind, kommentiert.
Tatsächlich bestätigt der Parteitag im Wesentlichen den längst durch das Kabinett beschlossenen, von der FDP aber bekanntlich nach der Niedersachsenwahl wieder bezweifelten Stand: Das nördliche Kernkraftwerk wird abgeschaltet, die beiden südlichen werden bis April 2023 „verlängert“, wobei Habeck mehr oder weniger offen klar macht, dass er die „Reserve“ nutzen wird, die beiden Kraftwerke also durchlaufen werden. Damit ist der seitens der FDP nun provozierte Regierungskonflikt natürlich nicht vom Tisch, sondern ganz im Gegenteil wurde hier als rote Linie genau das bestätigt, was Lindner mit aller Macht – welche auch immer das ist – nun aber wieder einkassieren möchte oder glaubt einkassieren zu müssen.
Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Würdigung der tatsächlichen Problemlage. Zum Weiterbetrieb der Kernkraftwerke ist dabei vergleichsweise wenig zu sagen: Die erzeugen keinen Preiseffekt und auch keinen relevanten Mengeneffekt. Sie bringen einen marginalen Mengeneffekt, der im nördlichen Versorgungsbereich nochmals marginaler als im südlichen ist. Der wesentliche Mengeneffekt kommt durch Kohlekraftwerke und es gibt keine Option, die Gasverstromung wesentlich zu verringern. Die Entscheidung des Kabinetts, das Kernkraftwerk im Norden auslaufen zu lassen und die beiden im Süden zu verlängern, ist also gut begründbar. Das wird einen marginalen Beitrag zur Problemlage liefern, nicht mehr, nicht weniger.
Die Frage ist nun aber einerseits, ob es eine verantwortliche Reaktion einer Regierungspartei ist, diese marginale Entscheidung so lange intern zu diskutieren und ihren damit mandatierten Minister entsprechend zu binden. Ebenso gilt die Frage an eine andere Regierungspartei, warum sie aus dieser Entscheidung so ein hoch politisches Thema bis zu einer Regierungskrise macht und warum sie dabei dauernd mit Behauptungen zur Bedeutung dieser Frage Stimmung macht, die sachlich falsch sind. Eine Frage, die für die Opposition genauso gilt. Daran schließt sich leider die Frage an Medien und Öffentlichkeit an, warum sie diese sachferne Polarisierung so willig aufnimmt und sich in einer ernsten Krise einen Streit über drei Kernkraftwerke anbieten lässt, der keinerlei Relevanz zur Lösung der Krise hat.
Wir stehen tatsächlich vor dem Scherbenhaufen einer Energiepolitik, die wir nicht mal richtig einordnen. So wird leider ein ebenfalls alter Konflikt zwischen Kernenergie und Erneuerbaren aufgewärmt, der sich mit dem Streit über drei Kernkraftwerke mischt und die Effekte der Energiepolitik weitgehend ignoriert. Denn das Ergebnis eben dieser Energiepolitik ist es, die Bedeutung der Kohlekraftwerke zu perpetuieren und Gas über den Strom hinaus als wesentlichen Träger am Gesamtenergiemix zu etablieren – mit der bekanntermaßen untersuchungsrelevanten Beschaffungsorgie über Gazprom&Co und der unklaren Verteilung der dabei entstandenen Dividende. Auf Ebene des Gesamtenergiemixes bedeutet das: Bei der Abhängigkeit von fossilen Energien mit allen ökologischen, ökonomischen und geopolitischen Nachteilen sind wir kaum weiter gekommen.
Die Folgen dieser Energiepolitik sind an den tatsächlich erforderlichen Notmaßnahmen erkennbar, was aber auch kaum sachgerecht gewürdigt und diskutiert wird: Wir sehen hektische Bemühungen, Gaslieferungen neu zu organisieren, wir sehen eine dadurch (zurecht und angemessen??) ausgelöste Eskalation der Gaspreise, wir sehen ein Übergreifen dieser Preiskrise auf den Strompreis, was im Wesentlichen dem Marktdesign geschuldet ist und wir müssen ausgerechnet in der Situation den massiven Ausfall von Stromerzeugungskapazitäten in Frankreich kompensieren, was in ganz(!) Europa(!) nur durch Kohle und Gas möglich ist und gerade deshalb als Krisenverstärker der Gaskrise hinzu kommt.
Der Situation angemessen wäre es nun im Bereich des Krisenmanagements die Maßnahmen insgesamt kritisch zu bewerten. An der erforderlichen Substitution der Gaslieferungen führt kein Weg vorbei, aber läuft das insbesondere mit Blick auf die Preise und die Rolle von Energiekonzernen sowie Börsenmechanismen angemessen? Am Hochfahren von Kohle und leider auch Gasverstromung führt ebenfalls kein Weg vorbei, aber wie können wir verhindern, dass nun auch noch der Strompreis so eskaliert? Da diese Preise nun leider zunächst mal so reagieren, wie sie das tun, führt ebenso kein Weg daran vorbei, dass staatliche Unterstützung für Bürger und Wirtschaft erforderlich wird. Aber wie soll das so effizient wie möglich gemacht werden und wie kann verhindert werden, dass diese Hilfen bezüglich der Preiseskalation gar kontraproduktiv wirken?
Leider werden diese Fragen keineswegs mit der erforderlichen Aufmerksamkeit diskutiert. Selbst beim Krisenmanagement lassen wir uns darauf ein, das auf den Streit über drei Kernkraftwerke zu reduzieren und wenn es darum geht, die Ebene etwas zu erweitern, führen wir gar einen Diskurs, ob es sinnvoll ist, die Energieerzeugung statt auf Erneuerbare zukünftig auf Kernkraft aufzubauen. Wie bitte?
Wenn wir nun in der Krise über eine zukünftige Energiepolitik diskutieren wollen, so wäre es doch ganz „hilfreich“, das zunächst von den leider erforderlichen Krisenmaßnahmen zu trennen. Da spielen Erneuerbare und Kernkraft die Rolle, die sie spielen können. Was da ist, kann genutzt werden, jede Kapazität ist willkommen und ansonsten können beide Technologien leider nur begrenzt in der Krise helfen, weil sie nicht schnell genug steigerbar sind. Warum aber tun wir das Gegenteil, nämlich sowohl Krisenmaßnahmen als auch Zukunftsthemen zu vermengen und zugleich bei beidem auch noch einen Streit zu führen, dessen Logik schlicht nicht existiert?
Wenn wir bereit sind, die Krisenmaßnahmen mal also solche zu sehen und die Fragen einer zukünftigen Energieversorgung davon zu trennen, so ist vor allem zu erkennen, dass erneut die Themen und Thesen, die von den Polen gesetzt werden, wenig mit den tatsächlich vorliegenden Problemen und erforderlichen Lösungen zu tun haben. Weder führen nämlich die Erneuerbaren zu einer einfachen Lösung, noch kann Kernkraft die Energiefragen der Zukunft lösen. Gerade die immer noch enorme Bedeutung fossiler Stoffe, die eine sehr hohe Energiedichte mit sich bringen und leicht transportierbar sind, bedeutet nämlich, dass wir ein ganz anderes Thema als die Erzeugung zuerst betrachten müssen: Die Verteilung von Energie! An der Stelle kommt man sehr einfach zu dem Ergebnis, dass die zukünftigen Energiemengen in Form von Strom gar nicht so verteilbar sind, wie wir das heute tun.
Nach der Verteilung von Energie ist die zweite Ebene der relevanten Fragen deren Speicherung. Es gibt nämlich keine Erzeugungsform, die effizient zeitlich und räumlich exakt das produziert, was gebraucht wird. Beim Strom ist das besonders schwierig, weil das Stromnetz genau diese Gleichheit von Erzeugung und Verbrauch sogar technisch exakt erfordert, um stabil zu laufen. Das funktioniert mit Strom als Primärenergie für unseren gesamten Energieverbrauch bei keiner Erzeugung, weder mit den volatilen Erneuerbaren, noch mit der trägen Kernkraft, die wir ein Uhrwerk laufen muss. Die vielen Formen von Speicherung, beginnend mit kurzfristiger Pufferung bis zu saisonalen Langzeitspeichern ist ein seit Jahrzehnten versäumtes Thema, dessen Bedeutung schon lange vor der Idee Erneuerbarer liegt.
Die dritte Ebene, die wir gerade jetzt als besonders relevant erkennen dürfen, ist immer noch nicht die Erzeugung, sondern die Frage der Versorgungssicherheit, die wiederum in Importabhängigkeit und Resilienz von Erzeugung, Verteilung und Speicherung zerfällt. Wir erleben ja gerade die Folgen von asymmetrischen Importabhängigkeiten, von Anfälligkeiten zu zentraler Erzeugung, die Grenzen beim Ausgleich durch mehr Verteilung und natürlich nicht zu übersehen den Nachteil, dass wir kaum etwas speichern können.
Wenn man diese Ebenen betrachtet, so erkennt man die vielen Konsequenzen für die danach erst sinnvolle Diskussion, welche Erzeugung anzustreben ist. Die wird nämlich als unmittelbare logische Konsequenz zukünftig vor allem wesentlich dezentraler erforderlich sein, als heute. Das hat Folgen, die bereits von denen erkannt werden, die jenseits des politischen Tagesgeplappers weiter denken müssen: Ein Baustein ist nämlich die in Fachkreisen „Sektorkopplung“ genannte Strategie, energieintensive Verbraucher dahin zu bringen, wo Energie in besonders hohen Maße erzeugbar ist. So denken momentan alle einigermaßen strategisch aufgestellten Unternehmen darüber nach, ob sie an ihren existierenden Standorten zukünftig ortsnah Energie erzeugen können bzw. an eine solche anzuschließen sind oder ob sie sich örtlich an solche Standorte zu verändern haben.
Die Versorgung privater Haushalte und auch die Transformation des Verkehrs sind recht gut machbar, aber die industrielle Produktion mit ihren Großverbrauchern wird sich neu organisieren und deren Entscheidungen werden das Energiesystem der Zukunft deutlich beeinflussen. Besser wäre es natürlich, das endlich durch einen politischen Prozess zu gestalten, der eine Balance zwischen technischen Möglichkeiten und gesellschaftlich wünschenswertem findet. Seitens unserer parteipolitischen Debatten und Programme ist nichts erkennbar, was dem gerecht werden könnte. In den Medien und der Öffentlichkeit wird das leider gespiegelt.
So droht erneut eine tatsächliche Energiepolitik, deren Effekte wir gar nicht erkennen, schlimmstenfalls auch dann nicht, wenn sie erneut in Scherben enden sollte.