Wir haben nebeneinander ein Steuer- und ein Sozialsystem. Bei den Steuern werden unsere Einnahmen bewertet, von denen wir nur die Kosten abziehen dürfen, die zur Erlangung der Einnahmen dienen. Der verbleibende Rest wird besteuert, wobei unsere Verfassung sagt, dass das meiste davon für uns selbst zu verbleiben hat. Alle weiteren Lebenshaltungskosten sind unsere Privatsache, wir haben sie vom Einkommen zu bestreiten. Das Sozialsystem arbeitet genau umgekehrt. Hier heißt es, dass der Grundbedarf unserer Lebenshaltungskosten für ein würdiges Leben sicherzustellen ist, sei es durch direkte Geldleistungen oder durch Sachleistungen. Einkünfte werden in diesem System bestraft.
Dass diese gegensätzlichen Konzepte nebeneinander in einer Grauzone ständig zu Fehlanreizen führen und kompliziert aufeinander abzustimmen sind, ist vollkommen logisch. Das gilt ganz besonders dann, wenn die Lebenshaltungskosten davon laufen und in dem einen System gar keine Rolle spielen, in dem anderen aber abgefangen werden. Daher schlagen Experten bereits seit den 60ern die Zusammenlegung dieser Systeme vor. Das kann man wie Milton Friedman von einer reinen Verwaltungsreform bis zu einem gesellschaftsreformatorischen bedingungslosen Grundeinkommen auslegen.
Gemeint ist jedoch im Kern stets ein Steuersystem, welches einen wie auch immer definierten Grundbedarf der Lebenshaltung – hier liegt die Spannbreite der Ziele – als einkommensmindernde Kosten vorsieht, wodurch in vielen Fällen negative Einkünfte entstehen, die dann in einer negativen Einkommensteuer, also einer Auszahlung an den Bürger münden. Die davon getrennten Sozialsysteme werden dadurch obsolet, Fehlanreize dazwischen existieren nicht mehr und bei methodisch richtig gemachtem Steuertarif lohnt schlicht der eigene Verdienst jeden einzelnen Euros.
Vorsicht ist geboten, wenn dieses methodisch zunächst mal vollkommen naheliegende Konzept vorgeschlagen wird. Die AfD hatte vor zwei Jahren mal damit geworben, aber bereits in ihren Flügeln komplett unterschiedliche Ziele damit verknüpft: Der neoliberale Teil war sehr nah an Friedman, der völkische wollte damit vor allem für „Ausländer“ den Zugang zu staatlichen Leistungen schließen, weshalb das ganze so etwas wie ein nationalvölkischer Friedman-Entwurf war. Inzwischen empfindet die AfD das bedingungslose Grundeinkommen aber als linkes Teufelswerk und die Anhänger folgen auch dieser Kehrtwende wie immer vollkommen frei von eigenem Denken.
Leider verschließen sich in der Politik nach wie vor sehr viele diesem Thema, es ist momentan eher politisch vielleicht nicht tot, aber zumindest stark sediert. Mit Parolen wie „Arbeit muss sich lohnen“ (wogegen niemand ernsthaft widersprechen wird oder jemals widersprochen hat) und der Brandmarkung eines Grundeinkommens als eine unser Wirtschaftsmodell gefährdende Utopie scheint momentan mehr politische Dividende möglich. Dabei ist bereits die Frage, wie unsere Wirtschaftsmodell denn tatsächlich funktioniert und welche Rolle genau welche Arbeitsleistung dabei spielt, eine längst überfällige. Die übergeordnete Frage, welches Gesellschaftsmodell wir leben und ob es das ist, was wir behaupten oder uns gar wünschen, wäre jenseits der angeblich alles dominierenden ökonomischen Ebene ohnehin mal anzustreben. Stellt man sich diesen Themen, kommt man auf die komplexe Frage, ob das Konzept, Gesellschaft und Staat so zentral auf menschlicher Arbeit aufzubauen, überhaupt noch erstrebenswert ist – ideell, ethisch, systemisch, funktional, finanziell.
Dieses Brett scheint aber für das politische Tageswerk zu dick und so lassen wir es dabei, an unserem existierenden Steuer- und Sozialsystem alle paar Jahre etwas kleinere handwerkliche Arbeiten durchzuführen, die wir zwar gerne „Reform“ nennen, was jedoch nur Etikettenschwindel ist. Eine Folge: Wir haben seit Jahrzehnten das wachsende Problem, einen zunehmende Anteil an Menschen nicht mehr in angemessen bezahlte Arbeit zu bekommen, weil die das nicht leisten können (gesundheitlich, intellektuell), weil die das nicht leisten wollen (was oft auch nicht änderbar ist) oder weil es für das, was sie leisten können/wollen, kein angemessenes Angebot gibt. Parallel haben wir einen ebenfalls wachsenden Fachkräftemangel, den wir nur noch durch Migration decken können.
Treiber sind Digitalisierung, Globalisierung und Demografie. Strukturelle Folgen sind gefährlich wachsende Asymmetrien, von der Verteilung der Einkommen bis zum Aufkommen zur Staatsfinanzierung. Verkürzt gesagt akkumulieren sich Einkommen und Vermögen auf immer weniger, die dadurch umgekehrt einen immer höheren Anteil der Refinanzierung von Staat und Sozialsystem zu leisten haben. Zwischen diesen Bevölkerungsteilen fungieren die Unternehmen als gigantische Verteilungsmaschinen, denn nur hier laufen die Wertschöpfungsketten, die global sowohl Automatisierungserlöse als auch Margen aus Lohnwettbewerb generieren. Diese Wertschöpfung kommt immer weniger Menschen zugute, während sie immer mehr entweder schwach oder zunehmend gar nicht mehr erreicht.
Da die Unternehmen global agieren, ist es schon lange nicht mehr ausreichend, diese Effekte national zu betrachten und zu glauben, sie ließen sich so ausreichend steuern. Es ist auch fahrlässig, zu glauben, das ließe sich durch die Besteuerung von Personen weiter regeln. Wenn man sich die Refinanzierung der Staaten anschaut, erkennt man weltweit den dominierenden Teil von Arbeitsleistung, denn es sind die Einkommens- und Verbrauchssteuern, die überwiegen und auch die meisten sozialen Sicherungssysteme basieren auf Abgaben oder Sparleistungen, die letztlich aus Arbeitseinkommen entstehen.
Wir sehen die wachsenden Probleme dieser Systematik auf allen Ebenen. Versicherungsmathematiker erklären seit Jahrzehnten, dass die Altersvorsorge zukünftig auf viel zu wenigen Schultern von Arbeitnehmern liegen wird. Dasselbe gilt für unser Krankenversicherungssystem, ebenso für das gesamte Steueraufkommen. Experten mahnen daher schon lange, die Unternehmen zur Refinanzierung von Staat und Gesellschaft zukünftig sogar maßgeblich heranzuziehen. Tatsächlich haben wir heute genau das gegenteilige System: Die Unternehmen zahlen selbst fast schon vernachlässigbare Abgaben und haben im Gegenzug die systemische Aufgabe Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, aus denen sich Staat und soziale Sicherungssysteme dann speisen. Dieser „Deal“ funktioniert bereits heute immer schlechter und es ist teilweise schlicht nur noch Mathematik, dass er von Jahr zu Jahr immer mehr in Schieflage geraten muss.
Daher sind die oben genannten Fragen auf allen Ebenen relevant, von der Refinanzierung aller staatlichen Aufgaben, inklusive der sozialen Sicherungssysteme bis zur gesellschaftlichen Problematik, dass insbesondere so etwas wie zumindest angemessen bezahlte Arbeit für immer weniger Bürger zur Verfügung stehen wird oder von diesen wahrgenommen werden kann. Leider verweigern wir kollektiv diese Fragen und lassen uns von simplen Parolen zu einer Debatte verleiten, die kaum noch den Realitäten entspricht.
Die Spitze des kollektiven Wegsehens sehen wir aktuell. Da werden dreistellige Milliardenbeträge zur Subvention von Energiepreisen aufgewendet, was der Staat – eben weil ein wie oben beschriebenes zentrales Steuersystem für alle fehlt – nicht mal direkt mit den Bürgern abwickeln kann, sondern über Energieunternehmen regeln muss. Wer von diesen unglaublich hohen Summen nun in welcher Höhe profitiert, wissen wir nicht. Wie viel in den Taschen von Energiekonzernen und Krisengewinnern landet, wissen wir auch nicht. Es fragt aber auch keiner danach, das wird einfach so akzeptiert. Bei dem so genannten „Bürgergeld“ diskutieren wir aber forensisch aufgebaute Vergleichstabellen, die darüber streiten, ob dieser oder jener Musterhaushalt ein paar Euro mehr oder weniger hat und ob das denn „gerecht“ so ist. Dabei übersehen wir sogar, dass in der Planung der Haushalte für diese sogenannte „Reform“ Mittel erwartet werden, die gegen unsere Energiesubventionsgießkannen schlicht eine Briefmarkenkasse darstellen.
Was wir auch übersehen, ist die bittere Tatsache, dass unser Staat alleine für die Verwaltung dieser beiden Steuer- und Sozialsysteme Jahr für Jahr einen zweistelligen Milliardenbetrag, die genaue Höhe ist sogar unbekannt, an reinen Verwaltungskosten verbraucht. Kosten, die weit höher sind, als alle geschätzten Schäden durch Missbrauch von Sozialleistungen beispielsweise. Kosten, die nicht verhindern, dass es weit höhere Schäden durch Steuerhinterziehung gibt. Kosten, die nicht verhindern, dass wir gegenüber den Bilanzmethoden von größeren Unternehmen vollkommen hilflos sind. Kosten, die nicht verhindern, dass wir unfähig sind, Energiehilfen nach tatsächlicher Bedürftigkeit zu leisten. Nachdem uns das übrigens bei den Corona-Hilfen auch schon begegnet ist.
Dieses ganze System ist längst dysfunktional zur Handhabung unserer aktuellen alltäglichen Probleme und es leistet keine Antworten auf unsere zukünftigen. Wir lassen uns aber auf eine Debatte ein, die hoffnungslos veraltet ist und vermutlich nicht mal zu Problemen passt, die wir vor 30 Jahren hatten. Das traurigste ist, dass sich dabei am emotionalsten diejenigen ausgerechnet gegeneinander aufhetzen lassen, die zu den ersten Verlierern dieser Versäumnisse zählen. Nun stänkern also wieder Geringverdiener gegen Sozialhilfeempfänger und wenn das nicht reicht, kriegen es die Migranten ab.
Das hat politisch schon immer funktioniert, man hetzt einfach diejenigen, denen man das schlechteste Angebot zu machen hat, gegeneinander auf. Das lässt sich offensichtlich bis heute sogar mit denselben billigen Themen und Sprechblasen immer noch machen.