gray pen beside coins on Indian rupee banknotes

Das Lindner´sche Grundsatzpapier verfolgt den falschen Zweck

Christian Lindner hat in seinem Ministerium ein umfassendes Grundsatzpapier zur Wirtschafts- und Finanzpolitik erarbeiten lassen. Es liegt der FAZ vor, die darüber hinter der Paywall berichtet. Anbei ein kurzer Beitrag der Tagesschau, der den FAZ-Beitrag, auf den ich mich beziehe, kurz kommentiert. Es ist zu vermuten, dass dieses Papier noch einige Zeit heftige Diskussionen auslösen wird, zumindest dürfte das die Absicht dahinter sein – und das ist zunächst mal gut so!
Das Papier ist nämlich analytisch wertvoll und im Ergebnis erbärmlich – weshalb es vielleicht zugleich eine notwendige Debatte einleiten sowie die Limitierung der von vielen Kreisen so gerne favorisierten Lösungsmuster aufzeigen könnte. Die große Stärke des Papiers ist explizit die präzise Analyse, die für solche politischen Papiere sehr ehrlich ist. Was die Tagesschau dazu berichtet, ist aber bereits genau falsch, sie sind dem Papier eher auf den Leim gegangen, denn Lindner ist keineswegs für eine „neue Wirtschafts- und Finanzpolitik“, sondern ganz im Gegenteil für eine besonders alte. Genau deshalb ist das Papier letztlich so erbärmlich.
Damit aber zum Inhalt: Zunächst erkennt man bereits am Horizont des Papiers, was wohl dessen Absicht ist: Hier werden ressortübergreifend die wesentlichen und grundsätzlichen Linien der Regierungspolitik aufgegriffen. Weit über die reine Finanzpolitik werden Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, ja sogar Teile der staatlichen Verwaltungsstrukturen, nicht nur in einzelnen Sachfragen, sondern ganz grundsätzlich in Frage gestellt. So ein Papier würde man normalerweise aus dem Kanzleramt erwarten. Aus dem Hause Lindners darf man es strategisch als Kampfansage an die Koalition verstehen (so titelt auch die FAZ) und parteipolitisch erneut als eigene Positionierung mit viel mehr Nähe zur Union als zur eigenen Regierungsbeteiligung.
Das ist zunächst nicht zu kritisieren, denn in der Situation des Landes spielt es gar keine Rolle, ob ein Grundsatzpapier aus der dafür vorgesehenen Zuständigkeit stammt oder von welcher Seite auch immer. Dennoch darf man die Motivation dahinter nicht übersehen, wenn man es – worauf es maßgeblich ankommt – inhaltlich bewertet.
Diese Bewertung beginnt mit dem analytischen Teil und der ist sehr wertvoll. So wird klargestellt, dass Deutschland bei „Energie, Infrastruktur, Fachkräften und Digitalisierung zurückgefallen“ ist. Die Vorteile des Standorts, „viele ausgebildete Fachkräfte und die Produktion mit relativ niedrigen Energiekosten“, konnten die Nachteile, „hohe Steuern und Abgaben, eine komplexe Bürokratie sowie ein langsames Tempo bei der Modernisierung des Landes“ demnach kompensieren. Nun aber seien die Vorteile dahin und die Nachteile schmerzen umso mehr. Namentlich werden die „hohen Inflationsraten, Defizite bei der Modernisierung, der Fachkräftemangel und Unsicherheiten bei der Energieversorgung“ als Herausforderungen genannt.
Was besonders wichtig ist: Das Papier sagt ganz deutlich, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen, nämlich die Bereitstellung von „mehr staatlichem Geld und industriepolitischen Subventionen“ nicht „dauerhaft“ fortgesetzt werden können. Es geht an der Stelle sehr kritisch mit den Staatsfinanzen um und fordert konkret einen „Exit aus aktuellen Maßnahmen wie Strom- und Gaspreisbremse“. Ebenso werden langfristige Probleme wie die „unter Druck stehen Sozialversicherungen demographiefest zu gestalten“ angesprochen – explizit im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit unserer Staatsfinanzen.
Das ist alles vollkommen richtig und es ist zunächst mal ausgezeichnet, dass es aus welchen Gründen und aus welcher Quelle auch immer aus der Regierung heraus vorgelegt wird. Das ist der Wert dieses Papiers und der wird hoffentlich nun nicht partei- und machtpolitisch vernichtet. Das fängt bei Lindner an, der vielleicht aufhört, von der Einhaltung der Schuldenbremse zu sprechen und sich selbst an Ideen wie dem Tankrabatt zu beteiligen. Aber in der Tat ist das eine Kampfansage an die Wummspolitik- und Rhetorik des Kanzlers sowie vor allem an diejenigen Kräfte in der Regierung, die in so einer staatlich finanzierten Gießkannenpolitik tatsächlich mehr als kurzfristige Krisenlinderung sehen. Es ist aber mehr als nur der Hinweis auf die Verwendung von Geld, das Papier spricht zurecht strukturelle Probleme wie Modernisierung, Digitalisierung, Fachkräfte, Bürokratie, Verwaltungsstrukturen und ohne es so zu nennen letztlich sogar die Nachteile des Föderalismus an. Gut so!!
Die erste Distanz zu dem Papier entsteht an der Stelle, wo ganz grundsätzlich festgestellt wird, dass in jahrelanger Krisenpolitik vor allem die „Nachfrage durch massiven Einsatz staatlicher sowie geldpolitischer Mittel“ gestützt wurde, während es nun darum gehe, eine „angebotsorientierte Förderung“ zu leisten. Auch das ist zunächst mal korrekt und das Papier hält sich sogar mit dem Vorwurf zurück, dass die finanz- und geldpolitischen Stützungsmaßnahmen der Nachfrage in den coronabedingten Angebotsschock hinein der Auslöser dieser gefährlichen Inflationsentwicklung sein dürften. Dieser Fehler wird aber nicht situationsbedingt bewertet, sondern ganz grundsätzlich und hier darf man unter den Autoren des Papiers den Einfluss einer veralteten ordoliberalen Ökonomieschule vermuten, die über die Auseinandersetzung mit keynesianischen Konzepten immer noch nicht hinaus gekommen ist.
Dieser Verdacht bestätigt sich dann bei den Lösungen, die das Papier vorschlägt. Hier wird es leider erbärmlich, denn letztlich kaum überraschend fallen wir dann doch wieder zurück in die Lindner´schen Denkmuster, die er bekanntlich personell in seinem Ministerium bei den ökonomischen Vordenkern verankert hat. So verliert sich das Papier in seinem Lösungsteil in Vorschlägen zur Steuersenkung, Steueranreizen für Unternehmen durch degressive Abschreibungsmodelle, Leistungskürzungen in Sozialhaushalten und stärkeren Anreizen zur Aufnahme von Arbeit.
Es ist müßig, diesen Lösungsteil des Papiers ausführlicher zu betrachten oder zu diskutieren. Es ist ein präzises Abbild der deutsch/österreichischen Ökonomieschule, die sich seit 70 Jahren weitgehend unverändert in den Parteiprogrammen konservativ/bürgerlicher Parteien abbildet und deren Limitierung eigentlich sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis ausreichend dokumentiert ist. Es ist intellektuell beim Studium des Papiers schon eine Herausforderung, diesen inhaltlichen Absturz wahrzunehmen, zumal hier Maßnahmen vorgeschlagen werden, die entweder mit den zuvor festgestellten Problemen – Lieferketten, Energiepreise – gar nichts zu tun haben oder – Fachkräftemangel – sogar kontraproduktiv wären. Damit das nicht so ganz ohne Verbindung bleibt, werden die Forderungen nach Laufzeitverlängerung oder Fracking in Niedersachsen wiederholt – ohne kritisch zu bewerten, welchen Beitrag das überhaupt leisten könnte.
So kommt zum Schluss des Papiers wohl doch seine Intention zum Ausdruck: Es wird hemmungslos das veraltete FDP-Parteiprogramm an eine zuvor sowohl notwendige als auch zutreffende Analyse der Situation geklebt. Hoffentlich belebt das Papier eine Debatte über letzteres, denn die ist dringend notwendig. Das FDP-Programm wird sich unter diesem Vorsitzenden wohl nicht mehr modernisieren. Das ist sehr bedauerlich, denn wie die Analyse vollkommen richtig zeigt, sind die konkret gewählten Lösungsangebote auch nicht besser. Wenn man die ersten Reaktionen auf das Papier sieht, geht es aber leider nun bereits los: Der Streit fokussiert sich auf die vorgeschlagenen Maßnahmen und leider nicht auf die Kritik an den existierenden.

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