„Weiterer Rückenwind für Kernenergie in Frankreich“ titelt die FAZ in einem Beitrag, der sauber recherchiert die jüngsten politischen Entscheidungen der Regierung Macron zusammenfasst. Aber ist dieser Titel zutreffend?
Ein kurzer Blick in die Daten Frankreichs und die getroffenen Entscheidungen lässt Zweifel zu. Die heute installierte Leistung der französischen AKWs beträgt in Summe etwas mehr als 60GW und die meisten Anlagen sind sehr alt. Im Normalfall liefern die Anlagen im Winter Leistungen im engen Band um 45 GW und im Sommer um 35 GW. Die erheblichen betrieblichen Probleme und Ausfälle des Jahres 2022 sind inzwischen wohl jedem bekannt, die Größenordnung aber vielleicht nicht: Hier sind phasenweise bis zu 60% der Produktion ausgefallen, teilweise wurden keine 20 GW geliefert. Das ist in 2023 bisher insofern besser, als der Output wieder deutlich gestiegen ist, aber ca. 10 GW fehlen immer noch.
Diese Probleme sind lange absehbar gewesen, Frankreich hat seine AKW-Flotte veralten lassen. Über die Gründe kann man lange diskutieren, sie sind letztlich in der Organisation der Verantwortlichkeiten zu suchen und genau hier hat Macron nun die wesentlichen Entscheidungen getroffen. Die Zuständigkeiten werden gestrafft, Entscheidungswege verkürzt. Vorangegangen ist dem ganzen bereits im letzten Jahr die komplette Verstaatlichung des Energieversorgers EDF. Organisatorisch ist nun also der Staat alleine für die Kernenergie verantwortlich.
Bezüglich des lange überfälligen Ersatzbaus gegen diese Alterung quält sich das Land seit mehr als einem Jahrzehnt durch den einzigen relevanten Neubau des AKW Flamanville 3, der sich nicht nur verzögert, sondern uferlos verteuert. Auch darunter wird nun ein Schlussstrich gezogen, denn dieser Neubau darf nun als endgültig gescheitert bewertet werden. Was sich nämlich wie eine neue Offensive liest und in vielen Medien auch als „Ausbau“ bezeichnet wird, ist tatsächlich nicht mal ausreichend, den Status quo dauerhaft zu erhalten. Während einerseits die Laufzeitverlängerung der existierenden 56 Anlagen auf nun 60 Jahre nichts anderes als zwingend ist, um einem Kollaps der Energieversorgung in den nächsten fünf bis zehn Jahren zu entgehen, wurden nun lediglich sechs neue Anlagen genehmigt, wobei dieser Neubaubeschluss die bisherige Baustelle in Famanville ersetzt. Zusammengefasst also: 56 Anlagen werden um weitere vier Jahre verlängert, ein Neubau, vor mehr als zehn Jahren begonnen, wird aufgegeben, sechs neue Anlagen sollen beginnend mit 2027 (!!) gebaut werden. Die Kosten sind mit ca. 10 Milliarden pro Anlage wie zuletzt angesetzt, eine Bauzeit ist gar nicht bekannt gegeben worden.
Dabei setzt die Regierung auf einen neuen Typ Druckwasserreaktor, der von der französischen AREVA jüngst in Finnland fertiggestellt wurde. Das Projekt war ursprünglich für drei Milliarden bei vier Jahren Laufzeit geplant, es wurden 18 Jahre und neun Milliarden an Kosten, die übrigens überwiegend von AREVA und hier letztlich dem französischen Staat getragen wurden. Bei den Projektkosten ist man inzwischen also realistischer, die Planung zur Bauzeit wird wohl erst nach diesem politischen Beschluss irgendwann bekannt.
Die Sachlage bezüglich der existierenden AKW-Technologie ist eigentlich unstrittig und es wundert, weshalb das immer noch anders diskutiert wird. Auch dieser „Rückenwind“ für die Kernenergie ist bezüglich der konkreten Neubaupläne nicht Mal ein Erhalt des Status quo. Die wenigen Kapazitäten, die hier hinzu kommen, werden die ablaufenden bei weitem nicht kompensieren können. Diese Planung belegt exakt das Gegenteil der vielen Bewertungen, denn Frankreich erkennt hier nichts anderes als die Tatsache, dass sich diese AKW-Leistung auf Dauer mit der existierenden Technologie nicht halten lässt. Das ist kein Ausbauprogramm, das ist ein Durchhalteprogramm, das zugleich signalisiert: Ohne eine neue Technologie wird es nicht gehen, mit der vorhandenen plant nicht mal Frankreich auf Dauer.
Daher sind auch die weiteren Beschlüsse entsprechend zu werten: So soll nämlich der Forschungsreaktor Jules Horowitz in Cadarache, der die weltweit momentan verfolgte Weiterentwicklung in Richtung neuer Minireaktoren (SMR) beinhaltet, durch Finanzierungsgarantien gesichert werden. Aber auch hier ist der Zeitraum zu beachten: Die Fertigstellung des Forschungsreaktors ist für 2032 bis 2034 geplant – und erst im Erfolgsfall könnte danach der Bau für eine konkrete Energieversorgung beginnen. Zugleich bekräftigt der politische Beschluss aber, dass diese Technologie für die künftige Energieversorgung das strategische Rückgrat sei.
Es ist schwer, zu bewerten, was hier wirklich politische Absicht ist. Die Fakten zeigen, dass mit den realen Beschlüssen in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine massive Lücke droht. Die bestehende AKW-Technologie wird mit diesem Beschluss definitiv aufgegeben, mit einer Mixtur aus insbesondere Laufzeitverlängerungen und ein paar wenigen Neubauten soll Zeit gewonnen werden. Parallel geht man eine Wette auf eine neue Technologie ein, wobei die eigenen Zeiterwartungen deutlich machen, dass die selbst im Erfolgsfall sehr spät kommt.
Da wir in Frankreich auch aktiv sind und dort ganz gute Informationen erhalten, kann ich sagen, dass es hinter den Kulissen ein ziemliches Rätselraten gibt. Experten hatten vor diesen Beschlüssen Neubaupläne in ganz anderer Größenordnung vorgelegt, um die Kernkraftstrategie abzusichern. Demnach wären Kapazitäten von 40 GW in teilweise beschleunigten Genehmigungen bereits jetzt konkret zu planen, damit die beginnend ca. ab 2027, spätestens 2030 als Ersatz hinzu kommen. Ein wachsender Strombedarf wäre dabei nicht Mal inkludiert, die jetzt beschlossenen Neubauten sind nur ein Bruchteil dieses Bedarf, von Beschleunigung der Genehmigungen ist auch nichts erkennbar.
Was will Macron also tatsächlich? Die eine Lesart lautet, dass man nicht mehr als Zeitgewinn beschlossen hat und die wesentlichen Entscheidungen weiter verzögert werden. Da Macron mehrfach persönlich die Kernenergie fast schon mit seiner Person verknüpft hat, könnte das der politische Plan sein, um schwierige Entscheidungen gegen die Kernenergie zu verzögern. Die andere Lesart lautet, dass es tatsächlich eine ganz andere Realpolitik geben wird, denn der Ausbau Erneuerbarer, die insbesondere bei PV in Frankreich sehr gut möglich ist, wird mit wesentlich weniger politischer Kommunikation sehr leise, aber sehr deutlich gesteigert.
Es ist interessant, den unterschiedlichen öffentlichen Umgang mit der Energiepolitik in Frankreich und Deutschland zu beobachten. Für die meisten Franzosen ist Kernenergie verbunden mit der Atommacht Frankreich, Autonomie, moderner Technologie. Die Strompreise in Frankreich sind zudem massiv staatlich subventioniert, Frankreich fährt eine Politik der niedrigen Strompreise. Das ist für viele Industriekunden so, beispielsweise liegt das größte europäische Aluminiumwerk, eine enorm stromintensive Industrie, in der Nähe eines AKWs und bezieht von dort zu einem staatlich festgelegten „Spezialpreis“ den Strom. Aber auch private Endkundenpreise werden teilweise durch Regulierung, teilweise durch Subventionen niedrig gehalten. Die Folge ist, dass der Staat – leider intransparente – Mittel in Milliardenhöhe aufwenden muss, um diese Preise zu ermöglichen. Das beginnt bei direkten Subventionen aus Steuermitteln und endet bei den chronisch vor der Pleite stehenden Energieunternehmen, die mit Kapitalspritzen am Leben gehalten werden. Man darf wohl annehmen, dass diese fehlenden Ertragsmöglichkeiten im Produktionssektor eine der Ursachen sind, weshalb das organisatorisch so schleppend verlaufen ist. Es gibt quasi keinen Investor, der dort neue Technologie bauen würde, niemand will ein Geschäftsmodell, das letztlich zwingend in der Pleite endet, die der Staat dann verhindert. Ob diese Neuorganisation, die nun aus dem Gesamtsystem eine Regierungsbehörde macht, mit Berichtsweg direkt an den Ministerpräsidenten, leistungsfähiger ist, bleibt abzuwarten.
Aber die Öffentlichkeit ist vergleichsweise ruhig. Trotz der erheblichen Ausfälle, trotz dieses erkennbaren Ritts auf der Rasierklinge. Vielleicht gibt es da einen verantwortlichen Plan jenseits dieses nuklearen Abenteuers, das nur mit viel Glück und ganz schnell verfügbaren SMRs aufgehen kann. Vielleicht auch nicht, aber danach fragt niemand. Ganz anders die Lage in Deutschland, wo man wegen der Abschaltung von ein paar GW an installierter AKW-Leistung von Blackouts über Importabhängigkeiten bis zu eskalierenden Preisen alles Mögliche erzählt und viele ausgerechnet nach Frankreich zeigen, wo die „sichere“ Kernkraft angeblich viel klüger ist.
Das ist auch deshalb sehr verwunderlich, weil die Preisprobleme im europäischen Stromsystem überall dieselben sind und mit der Kernenergie gar nichts zu tun haben. Das sieht man an der Produktion der Gaskraftwerke auch im französischen Stromsystem sowie an den Preisbildungsmechanismen der französischen Strombörsen. Dasselbe Bild wie in ganz Europa: Die volatile Spitzenlastproduktion ist immer wieder nur durch Gaskraftwerke möglich. Wie alle anderen konventionellen Kraftwerke sind die Kernkraftwerke nicht schnell genug regelbar, um das zu verhindern. Kernkraft in dem Umfang hat sogar weitere ökonomische Probleme, denn die Kraftwerke können nur um ihre Nennleistung in einem begrenzten Band überhaupt geregelt werden. Dadurch hat man vor allem in den Sommermonaten chronische Überschüsse, die man nur durch das sehr teure komplette Runterfahren von einzelnen AKWs oder durch Exporte kompensieren kann. Beides ist ökonomisch unrentabel, dafür sind die Kosten des AKW-Stroms zu hoch.
Im Ergebnis sehen wir daher dieselben Preiseffekte wie überall: Wenn wetterbedingt die Erneuerbaren überschießen, werden die fossilen Energieträger komplett aus dem Markt gedrängt und der Preis fällt. Wenn das nicht der Fall ist, müssen in der Spitzenlast immer wieder fossile Kraftwerke ran, insbesondere die Gaskraftwerke. Durch Merit-Order dominiert dann der teuerste fossile Energieträger, was derzeit der Gaspreis ist. Diese Preisbestimmung gilt für ganz Europa, das ist ein Thema des Strommarktdesigns und hat mit dem weiteren Mix an Erzeugungskapazitäten nichts zu tun.
Die Erzeugungskosten von Strom sind in Frankreich viel höher, die Börsenpreise sind es ganz überwiegend auch, die Endpreise sind in Europa fast überall eine Mischung aus Strommarkdesign und nationaler Politik. Da macht Frankreich aus meiner Sicht die grundsätzlich bessere Politik, denn Energiewende und Elektrifizierung funktionieren gesellschaftlich besser mit attraktiven Preisen. Das erfolgt in Frankreich aber unter Preisgabe jeglicher marktwirtschaftlicher Strukturen und muss nun erst mal zeigen, ob eine rein staatliche Organisation aus der so entstandenen Investitionslücke heraus findet.
In Deutschland wird im Gegenteil der eigentlich günstigere Erzeugungspreis durch eine Vielfalt an Steuern und Abgaben zunichte gemacht, so dass wir viel höhere Endpreise haben. Das Strommarkt-Design führt europaweit zur Belastung durch den Gaspreis und das obwohl die Produktion der Gaskraftwerke zwar zur Spitzenlast essentiell notwendig ist, aber in Summe nicht mehr als ein Zehntel ausmacht.
Es bleibt also dabei, dass wir in Europa mit dem Strommarkt-Design bessere Preise verhindern und in den Besonderheiten der nationalen Politik kann man weder Frankreich, noch Deutschland als besonders gute Beispiele herausgreifen.