Das Marktdesign der Gas- und Strommärkte ist dringend reformbedürftig
von
Dirk Specht
am
19. August 2023
Die europäischen Energiepreise sind selbst gemacht im Würgegriff von zwei Spotmärkten, die uns in einer ohnehin aus weitaus mehr Gründen schwierigen Wettbewerbssituation vollkommen unnötige Preisrisiken bescheren.
Der geplatzte, ganz und gar fahrlässige „Gasdeal“ mit Russland führt uns in die Abhängigkeit des globalen LNG-Marktes, der aktuell von nur drei Lieferanten, USA, Katar und Australien bestimmt wird, der enorme Mehrkosten alleine wegen der Logistik bedeutet und bei dem auch noch Spotmärkte die Preise setzen. Diese Märkte schwanken, ohne dass Medien es wahrnehmen, selbst in den letzten Monaten bei komplett unkritischer Nachrichtenlage und kaum relevanten Einflüssen auf Logistik oder Verbrauch bereits um 60%. Kleinste Einflüsse, wie ein Streik in Australien führen zu Preissprüngen von >30% innerhalb eines Tages! Aber mehr noch, wir liegen weit über dem doppelten Preisniveau von früher. Vergleiche zu Anfang 22 in den Medien, die von „Vorkrisenniveau“ sprechen, sind vollkommen falsch, weil die Gaspreiskrise – übrigens von Gasprom verursacht – bereits Mitte 21 einsetzte.
Die Merit-Order-Regulierung der europäischen Strombörsen führt zwingend dazu, dass diese Gaspreise auf den Strompreis überspringen, obwohl Gas in Europa nur zu ca. 10% überhaupt für die Stromproduktion verwendet wird. Das Problem am Strom-Markt: Der muss technisch innerhalb von wenigen Minuten rund um die Uhr geplant werden. Kraftwerke und EE-Zuflüsse sind an den Verbrauch anzupassen. Es gibt dauernd kurzfristig zu viel oder zu wenig Strom. In der ganz kurzen Frist müssen dazu zwingend Gaskraftwerke die Lücke decken, die werden täglich zu Monopolisten (Spitzenlastproduktion). In der mittleren Frist müssen trägere Kraftwerke angepasst werden. Um das zu verbessern, müssen kurzfristige Pufferspeicher gebaut werden, was aber bisher nie passierte, weil es letztlich ohnehin zu viel Kraftwerkskapazitäten gibt. Daher sind die Stromspeicher der Welt die fossilen Brennstoffe mit deren Kraftwerken.
Das ist in jedem Stromsystem der Welt so, aber Europa hat sich mal entschieden, diese Planung primär über einen Mechanismus zu regeln: Den Preis! Der pendelt innerhalb weniger Stunden um genau diese Situation, also entweder zu wenig Kapazität oder Überkapazität – in ganz Europa, von Griechenland bis Norwegen, von den Kernkraftwerken in Frankreich bis zu den Wind- und Wasserkraftwerke in Skandinavien. Die Preisausschläge um mehrere 100% binnen weniger Minuten „regeln“ die Aktionen der Marktteilnehmer. Wahlweise werden Kraftwerke abgeschaltet, Strom exportiert und dann auch wieder umgekehrt. Geht das schief, eskaliert der Preis um das Zehnfache oder er wird stark negativ. Wer sich dann verplant hat, muss entweder zu Mondpreisen einkaufen oder für die Abnahme des Strom zahlen. Der „Markt“ pendelt also um Preise, die
wahlweise für die Produzenten oder die Abnehmer ruinös sind.
Aber weil hier Vehikel geschaffen wurden, an denen Tausende Akteure in ganz Europa sogar anonym alleine über den Preis zu einem Verhalten finden, dass letztlich den Stabilitätsbedarf des Stromsystems sicher stellt, lässt sich das nicht so einfach ändern. Das muss aber trotzdem passieren, mit diesen Spotmärkten im Gas- und Strommarkt können wir in Europa nicht fortsetzen. Ich bin ein großer Freund von Börsenmechanismen, aber diese sind ein naiver neoliberaler feuchter Traum, der dringend reformiert werden muss. Das wäre Aufgabe der führenden Regierungen in Europa in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission. Deren Prüfungen und Expertengremien haben leider keinen Weg gefunden, diesen aus sich selbst heraus so mächtig gewordenen Mechanismus zu stoppen. Ob das wirklich unmöglich ist oder die vielen Interessen an genau dem Design das verhindern, kann man kaum bewerten, es dürfte wohl beides zutreffen.
Gut ist das nicht und man kann nur hoffen, dass mehr direkte Stromabnahmeverträge zustande kommen, die nichts mit diesen Preismechanismen zu tun haben und die diese Planungsaufgaben, welche Anlagen zu welchem Zeitpunkt lieferfähig sind, wieder in die Hände der Produzenten legen, statt sie in ihre Einzelaufgaben zu atomisieren und dann über diesen wirren Preismechanismus zu „regeln“. Aber auch das ist nicht absehbar, denn solche Verträge werden typischerweise in Form von sogenannten CFD-Konzepten abgeschlossen, was nichts anderes bedeutet als eine Referenz auf die Börsenpreise.
Sowohl im Gas- also sogar noch stärker im Strom sind die Börsenpreise dominant. Davon profitieren übrigens diejenigen, die über eine sehr breite Palette an Erzeugungsformen verfügen. Die sind nämlich weitgehend unabhängig vom Börsengeschehen und profitieren davon, dass die Erzeugungskosten von Strom seit Jahren sinken, während die Preise steigen. Wenn man beispielsweise eine RWE sieht, die von langfristigen Gas-Lieferkontrakten mit Norwegen über alle Kraftwerkstypen bis zu Erneuerbaren und der Förderung eigener Brennstoffe praktisch auf allen Ebenen aktiv ist und dabei für sich selbst Preissicherheit herstellt, kann man die Bilanzen der kommenden Jahre heute schon schreiben. Und das ist nur ein Beispiel von mehreren, die so aufgestellt sind.
Anbei einige Charts mit längerfristigen Preisen, die zeigen, dass wir mindestens eine Verdopplung der Preise unserer relevanten Energien haben. Das ist noch gar nicht in allen Endtarifen angekommen und es wird auch nicht besser. Die Idee, die Macht der Großversorger zu brechen und mehr Wettbewerb zu erzeugen, war richtig. Die Umsetzung war es nicht! Wir müssen Gas substituieren und den Preiseinfluss auf den Strom abschaffen. Gas wird teuer bleiben, Stromproduktion wird seit Jahren billiger. Das muss in den Endpreisen ankommen, dann funktioniert die Energiewende übrigens über einen ganz einfachen Mechanismus: Den Preis.
An der richtigen Stelle eingesetzt, ist dieser Mechanismus gar nicht verkehrt. Er sollte aber das Verhalten von Anbietern und Nachfragern an einem Markt regeln, wo beide Seiten in Wettbewerb zueinander möglichst autonome Entscheidungen treffen können. In einem technisch dominierten System mit sehr vielen physikalisch zwingenden Handlungen hat so etwas nichts zu suchen. Daher sind auch Sprechblasen wie „man müsse nur das Angebot erhöhen“ einfach nur dumm. Wir werden immer ein Überangebot an Erzeugungskapazitäten haben, da muss auch niemand behaupten, ein paar AKWs weniger würden das verschlechtern, wir haben ein technisches System, das zwingend binnen weniger Minuten von Knappheit auf Überschuss wechselt.
Es ist eine typische akademische Fehlleistung, das über den Preis regeln zu wollen und dann auch noch eine Börse mit so einem Preismechanismus da rein zu nehmen, ist eigentlich fahrlässig. Ein typisches Beispiel unterkomplexer ökonomischer Theorie, die in einem vereinfachten Modell ein Verhalten erwartet, das sich in der Realität vollkommen anders entwickelt. Ökonomie ersetzt keine Ingenieurswissenschaft und allgemeine VWL-Modelle können nicht mehr für unsere komplexe Welt genutzt werden, um diese gar zu steuern. Das sehen wir bei Gießkannen wie Zinspolitik, allgemeinen Subventionen, generellen Steuererleichterung, mehr oder weniger Ausgaben, Schulden ohne Zweckbindung oder Haushaltskürzungen mit dem Rasenmäher. Europa steht mit China und den USA Systemen gegenüber, die strukturiert strategisch handeln und nicht mit Meta-Modellen. Unsere Steuerungsmechanismen sind nur noch veraltete akademische Grundmodelle – aus letztlich allen „Lagern“.
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