Die Diskussionen über die Korrekturen der Energiepolitik durch das Reiche-Ministerium fallen in alte Muster zurück, die eigentlich längst geklärt sein sollten. Aber offensichtlich ist der weit verbreitete Irrtum der Primärenergiebetrachtung immer noch nicht allen klar. Denn erneut sind Aussagen und teilweise auch wissenschaftlich längst widerlegte „Studien“ zu lesen, die letztlich auf diesem Irrtum basieren, der je nach Autor vielleicht auch als Lüge zu bezeichnen ist, wenn man besseres Wissen voraussetzen kann.
Rein exemplarisch will ich einen der reichweitenstärksten Protagonisten, Hans-Werner Sinn, zitieren: Im FAZ-Gastbeitrag „Wir Geisterfahrer“ (21.11.2024) kritisiert er die deutsche Energiepolitik insbesondere mit seiner bekannten These, das bestehende Energiesystem (fossile/atomare Erzeugung) sei nicht verlässlich zu ersetzen. Wie immer wird mit Mengen und Quoten des Primärenergieverbrauchs argumentiert, nebst der typischen Behauptung, Reservetechnologien für die Schwankungen von Wind- und Sonnenerträgen seien entweder nicht möglich oder zu teuer. Belege gibt es dazu außer Primärenergiemengen der Vergangenheit nie.
Auch zuvor, „Ein Plädoyer gegen Alleingänge in der Klimapolitik“ (FAZ 24.08.2023) + FAZ-Leserbrief (08.09.2023), bekräftigt er seinen Grundsatz: Nationale Alleingänge (die es nicht gibt, Anm. des Autors) bei der Energiewende führten nicht zum globalen Emissionsrückgang, erneut als einziger „Beleg“ wieder die Argumentation mit großen Energiemengen, Versorgungssicherheit etc.
In anderen Kanälen wird er sprachlich deutlicher, wobei das inhaltlich identisch ist: „Der Extremismus in der europäischen Energiepolitik“ (Weltwoche, 19.10.2023), die Netto-Null-Ziele beruhen angeblich auf „utopischen Vorstellungen“, Fluktuation, Bedarf an Backup und Speicher sind nicht möglich oder zu teuer (kein Beleg, reine Behauptung), Substitution des heutigen Energieaufkommens sei unrealistisch (Mengenargument Primärenergie). Den Beitrag hat er sogar auf seiner eigenen Website verlinkt. Im Vortrag „Der Extremismus in der Energiepolitik…“ (IWP Luzern, 06.09.2023) wiederholt er das identisch: Fluktuation, Backup, Speicher (ohne Beleg), dann wieder die Sache mit der Primärenergie.
Diese Aussagen mit einem einzigen Argument, nämlich der Behauptung, eine mit nur wenigen Prozent an der Energieversorgung beteiligte Quelle könne diese nicht vollständig leisten, wiederholt Sinn seit 20 Jahren. Ebenso behauptet er ohne jeden Beleg, der Aufbau von Reserveleistungen für die schwankende EE-Erzeugung sei nicht möglich oder zu teuer. Ähnliche Argumentationslinien finden sich bei weiteren, teilweise ebenfalls öffentlichkeitswirksamen Protagonisten wie Vahrenholt, Hennig, Schwarz, Frondel, Schmidt, Weimann, wobei ich diese ausdrücklich nicht gleichsetze. Darunter sind aus meiner Sicht teilweise schlecht informierte, aber überzeugte Leute, teilweise auch Akteure mit einer Agenda wider besseres Wissen.
Ich möchte diese Argumentation ganz bewusst etwas aus der „Hubschrauberperspektive“ bewerten, so dass jeder sie leicht plausibilisieren kann.
Dazu in Chart1 die Entwicklung dieser Datengrundlage: Der Primäenergieverbrauch in den letzten 60 Jahren, als Vergleich hier USA, China, Deutschland. Man sieht den Aufstieg Chinas, bevor nun „aber China“ gedacht wird, bitte Chart2 beachten, die Normierung auf die Bevölkerungszahl und erkennen, dass China gerade mal zu Deutschland aufgeschlossen hat, während die Amerikaner einen pro Kopf Konsum haben, der weit höher liegt.
Was vor allem aber auffällt: In den USA stagniert der Verbrauch seit Mitte der 90er, in Deutschland sinkt er sogar seit Mitte der 80er, pro Kopf ist das noch deutlicher. Entgegen des Wachstums in dieser Zeit, also einer Vervielfachung der Wirtschaftsleistung!
Haben Sinn et al. da etwas übersehen?
Bevor ich auf die Frage eingehe, warum der Primärenergiebedarf sinkt und dass das bei einer wachsenden Wirtschaft passiert, kurz noch Chart3 als grober Einwand in Sachen Machbarkeit einer Energietransformation oder auch irgendwelcher unqualifizierten „Geisterfahrer“-Vergleiche: Der Anteil Erneuerbarer an der Primärenergie seit 60 Jahren. Man erkennt, dass diese Quote viele Jahrzehnte um die 5% dümpelte und sich seit 2010 dann „plötzlich“ in nur 15 Jahren teilweise verfünffachte. Ebenso sieht man, dass Deutschland auf EU-Niveau liegt, also kein Geisterfahrer, dass „aber China“ der schnellste Fahrer ist und vermutlich bald vorne liegt, dass die Amerikaner (noch) sehr langsam unterwegs sind. Ebenso ist Chart4 zu entnehmen, dass die absolute Produktion Erneuerbarer exponentiell wächst, vor allem in „aber China“.
Ich fasse zusammen: Der Anteil Erneuerbarer an der Primärenergie verfünffacht sich in kurzer Zeit, die Produktion wächst exponentiell, während der Primärenergieverbrauch insgesamt sogar sinkt. Drücken diese Verhältnisse aus, Erneuerbare hätten keine Chance, den Primärenergiebedarf maßgeblich zu decken? Oder drückt es nicht vielmehr aus, dass sie sogar global gerade auf dem Weg sind, genau das zu tun? Zumal der Primärenergiebedarf sogar sinkt, während die EE-Erzeugung immer weiter steigt?
An der Stelle wird es Zeit, mal den Begriff der Primärenergie und weiterer zu erklären.
Primärenergie (primary energy): Energieinhalt der Primärquellen (Rohöl, Gas, Kohle, Uran, Wind, Sonne etc.) vor Umwandlungen und Nutzung. Quasi „Rohmaterial“ oder „Bruttoenergie“.
Endenergie (final energy): Energie nach Umwandlung/Netzen, die beim Endnutzer ankommt (Benzin aus der Raffinerie und nach Transport im Tank, Strom an der Steckdose). Das ist quasi der „Netto-Input“ an Energie für unsere diversen Nutzungsformen.
Nutzenergie (useful energy, energy services): Thermodynamisch nutzbare Energie am Punkt der Nutzung (Raumwärme auf Zieltemperatur, an der Welle anliegende mechanische Leistung, Lichtstrom). Das ist quasi die „Netto-Energie“, die wir wirklich nutzen.
Nur als Detail – Nutzarbeit (useful work, exergy): Für Interessierte, noch weiter runtergebrochen, für tiefe technische Bewertungen sinnvoll: Der Anteil der Energie, der potenziell in Arbeit umgewandelt werden kann (Qualität der Energie berücksichtigt den 2. Hauptsatz). Exergie-Effizienz ist typischerweise sehr viel niedriger (≈ 5–15 %) als Energie-„Wirkungsgrade“.
Kurzes Lesebeispiel: Erdöl aus dem Bohrloch (Primärenergie) muss mehrfach transportiert und in Raffinerien verarbeitet werden, bis Dieselkraftstoff im Tank (Endenergie) landet, der im Dieselmotor dann verbrannt wird, um Antriebskraft (das ist die Nutzenergie) zu erzeugen. Diese Kette ist voller Verluste (Umwandlung, Wärme, Mechanik) und eigener Energieaufwende (Transport, Logistik, Verarbeitung).
Diese Begriffe waren über viele Jahrzehnte nur für Experten wichtig, weil die größeren Systemwelten diesbezüglich abgegrenzt waren. Autos fuhren mit Öl, geheizt wurde mit Öl oder Gas, Strom wurde mit Kohle oder Gas produziert. Bereits hier gab es durch Preisdruck immer Effizienzgewinne, Autos wurden sparsamer, Heizungen bekamen bessere Wirkungsgrade, Kraftwerke ebenso. Das sind alles nur Begriffe, die letztlich eine Verbesserung der Effizienz bedeuten: Also weniger Primärenergie als Brutto-Input für denselben netto Nutzen, dieselbe Nutzenergie. Der beliebte, hoch effiziente Diesel, der für dieselben 100km weniger Liter benötigt.
Daher ist der Primärenergiebedarf schon immer geringer gewachsen, als die Nutzenergie, denn genau diese Effizienzgewinne lagen dazwischen. Das ist aber nicht zuletzt wegen der Erneuerbaren und der Elektrifizierung gekippt und wird sich nun sehr rasch weiter entkoppeln. Denn: Elektrifizierte Systeme sind weitaus effizienter und bringen daher diese Sektoren durcheinander. Es wird nun elektrisch gefahren, geheizt, Wärme erzeugt, produziert.
Was im Gang ist, sieht man am besten durch sogenannte Sankey-Diagramme, die den Energiefluss von der Primärenergie bis zur Endnutzung abbilden. Es folgen mit Chart 5+6 zwei Beispiele aus China (2015) und den USA (2023).
Diese Diagramme zeigen methodisch sehr ähnlich, wie diese so gerne zitierte Primärenergie als Energiefluss genutzt wird, um letztlich irgendwo Fortbewegung, Wärme, Kühlung, Produktion etc. zu ermöglichen. Die Chinesen gehen dabei – und das ist bemerkenswert – stets bis zu Exergie, die US-Daten enden bei der Nutzenergie.
Die klaren Ergebnisse sind ähnlich: Bis zu Nutzenergie – also unserem Vortrieb, der Wärme im Raum etc. – verlieren wir in unseren heutigen Energiesystemen insgesamt zwei Drittel der Energie ohne jeden Nutzen. Geht man tiefer und prüft, was wirklich verwertbar ankommt (also die Raumtemperatur nach Abzug der Gebäudeverluste beispielsweise, der Vortrieb nach Abzug der Reibungsverluste und des Luftwiderstands), so gehen sogar über 90% verloren.
Genau das ist der Irrtum – oder die Lüge – bei diesen Argumentationen mit der Primärenergie. Es wäre eigentlich dringend erforderlich, auf Nutzenergiebilanzen umzustellen bzw. diese unbedingt mit aufzunehmen. Die würden gar nicht sinken, was auch den Irrtum ausräumen würde, irgendjemand wolle den Energieverbrauch drastisch kürzen – was ebenfalls fast schon als Lüge zu bezeichnen ist. Man darf gerne diskutieren, ob wir alles in unserer Welt konsumieren sollten, nur weil wir es können. Eine Rückbesinnung auf so etwas wie Bedarf und eine Berücksichtigung von Schäden, die wir erzeugen, darf sehr wohl sein. Aber es geht nicht darum, unsere Heizungen auf 18 Grad zu fahren, unsere Mobilität einzuschränken oder insgesamt weniger zu produzieren.
Das wesentliche Ziel der Energiewende ist die Reduktion von Energieverlusten, so einfach ist das. Es geht um mehr Effizienz, so dass Primärenergie und Nutzenergie näher zusammenfinden. Das können elektrifizierte Systeme um ganze Faktoren besser als solche mit Verbrennungsprozessen. Die tragenden Säulen sind dabei Wärmeerzeugung und Mobilität, das betrifft Haushalte, Gewerbe, Industrie. Diese Nutzungsformen sind der alles überragende Anteil an unserem heutigen Primärenergiebedarf und da können >70% Einsparung erzielt werden.
Anbei eine kurze Visualisierung von bewusst globalen wissenschaftlichen Quellen, um das mal aus dem „Geisterfahrer“-Image der nationalen Nabelschau heraus zu halten. Demnach plant China sogar auf Gesamtsystemebene bis 2050 eine Reduktion des Primärenergiebedarf um ein Drittel – und bis dahin wird längst nicht alles elektrifizierbar sein, das ist nur ein Zwischenziel. Die Quellen und Pläne aus China stammen aus 2015 und Folgejahren. Das ist kein Zufall, denn da kam es zum großen Gamechanger: Die Evolution der Erneuerbaren zum billigsten Energieerzeuger, die seitdem weitere dramatische Fortschritte gemacht hat. Das war der Zeitraum, in dem China seine Mehrjahrespläne aufgestellt hat, als PV-, Batterie- und E-Auto-Technologien auf ihre Reise geschickt wurden. Eine Reise, die keineswegs beendet ist, Pläne, die keineswegs utopisch sind, die nicht scheitern, sondern eher übererfüllt werden.
Das darf im Jahr 2025 endlich mal breiter erkannt werden, statt „aber China“ mit allem möglichen Unfug dazu zu sagen – und weiter über Primärenergiebedarf zu plaudern, ein Begriff, der ins Museum gehört!
Dieses Thema ist global nämlich knallhart rein ökonomisch getrieben. Gegen diese Effizienzvorteile ist alles andere schlicht unwirtschaftlich. Wer meint, das aufhalten zu können, wird daran scheitern und mit seinen Verzögerungen nur der eigenen Wirtschaft schaden.
Das ist nämlich „Geisterfahrerei“ und hier liegt das tiefe Problem des Reiche-Ministeriums: Der eigentliche Plan dahinter ist eine Verzögerung der Elektrifizierung. Das scharfe Schwert dazu ist die Infrastruktur, vor allem die Netze. Wenn man deren Leistung nicht ausbaut, hat man starke Argumente, Erneuerbare Erzeuger nicht oder langsamer auszubauen und es auch mit E-Autos oder Wärmepumpen langsamer anzugehen. So lange unsere Öffentlichkeit sich durch die ökonomisch grundfalschen Argumente vernebeln lässt, Netze seien zu teuer, es sei „sparsam“, die entlang einer „vorsichtig seriösen“ Planung auszubauen, wird dann mit der „Versorgungssicherheit“ jeder leicht überzeugbar sein, man müsse den ganzen Elektrifizierungsplan langsamer angehen. Das ist dann nur noch Physik und Blackoutgefahr, da muss man dann realistisch denken.
Nein, das Gegenteil muss passieren, so wie es die nicht geisterfahrenden Chinesen sowie immer mehr andere erkannt haben: Die Ziele der Elektrifizierung müssen ambitioniert gesetzt werden und alles weitere hat dem zu folgen. Die Infrastrukturen definieren nicht die Anforderungen, sondern die Anforderungen die Infrastrukturen.
Die Substitution der fossilen Kraftstoffe und der Rückgang des Primärenergiebedarfs bei gleichzeitigem Wachstum des Energiekonsums in Form von Nutzenergie ist dann keine Quadratur des Kreises, wie Sinn et al. mit schwachen Argumenten behaupten, sondern eine ganz normale Folge aufgrund von Physik, Technologie und Ingenieurskunst.










