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Ein wichtiger Kommentar von Marcel Fratzscher zum „Impfrennen“

Die „Impfdebatte“ könnte 2021 der „Lockdowndebatte“ den Rang ablaufen. Sehr empfehlenswert ist der aktuelle Gastbeitrag von Marcel Fratzscher im Spiegel.

Fratzscher beschreibt sehr gut, dass die Kritik an der Bundesregierung und der EU-Einkaufspolitik weder ein „Versagen“ zu nennen, noch als solche falsch ist. Sowohl die Idee der zentralen Lösung als auch die der Risikostreuung sind richtig. Zugleich beschreibt Fratzscher aber den entscheidenden Fehler an ganz anderer Stelle: Die unzureichende staatliche Incentivierung für einen frühzeitigen maximal möglichen Ausbau der Produktionskapazitäten bei ALLEN Herstellern. Er beschreibt auch sehr gut, dass die Kaufverträge dafür bereits das falsche Mittel waren.

Dass Fratzscher anschließend das politische Personal doch sehr in Schutz nimmt und wie er seine Grundthesen zur Finanzkrise einarbeitet, kann man kontrovers sehen. Der Beitrag hätte mehr Gewicht, wenn er an der Stelle die Frage nach den Ursachen offen gelassen hätte, ich hatte das vor einigen Tagen etwas kritischer bewertet und durchaus auch die Personalfrage aufgeworfen.

Gerade der Vergleich Fratzschers mit der Finanzkrise ist aus meiner Sicht misslungen, denn 2008 wurden in allen Ländern sehr teure und sehr unpopuläre Maßnahmen zur Bankenrettung umgesetzt. Zudem wurden etablierte Mechanismen und Zuständigkeiten bis weit in die Privatwirtschaft hinein in kürzester Zeit ausgehebelt. Bankenchefs, Notenbanker und Finanzpolitiker trafen sich in regelmäßigen Krisensitzungen und entschieden unternehmensübergreifend über Fusionen, Staatsbeteiligungen und Staatshilfen.

Die dabei resultierenden Entscheidungen waren so teuer wie keine Krisenaktion zuvor, sie waren so riskant wie kaum eine zuvor und sie waren natürlich auch voller Fehler, über die bis heute gestritten wird und durchaus auch weiter gestritten werden muss.

Warum das bei Covid-19 immer noch nicht passiert, liegt aus meiner Sicht an einem ganz anderen Effekt, als Fratzscher es beschreibt: 2008 gab es eine mächtige Lobby aus der Finanzindustrie und auch aus den international vernetzten Konzernen, die der Politik sehr schnell und definitiv zurecht den erforderlichen Druck machte, die Sache mit den etablierten politischen Entscheidungsprozessen und Entscheidungswegen mal hübsch bleiben zu lassen. Wer erinnert sich nicht an die vielen Krisensitzungen an Freitagen und Entscheidungsverkündungen am Sonntag Abend mit dem Spitzenereignis einer Fernsehansprache von Kanzlerin nebst Finanzminister und dem inhaltlich, rechtlich sowie finanziell komplett „leeren“ Versprechen, unser Geld sei sicher. Das war wohl die größte und wichtigste Notlüge eines Staatschefs der Bundesrepublik.

Wochenenden waren damals Hauptarbeitszeit, heute sind sie Epidemiepause beim Meldewesen. Weder mangelnde Risikobereitschaft, noch mangelnde Durchsetzung von ausgesprochen konsequenten Änderungen aller etablierten Prozesse war von 2008 bis nach 2010 zu erkennen. Es könnte also auch jetzt, bei einer gewiss nicht kleineren Herausforderung anders laufen. Namentlich der maximale Aufbau von Produktionskapazitäten ohne Rücksicht auf Verlustrisiken wäre rein finanziell eine Aufgabe, die sich bei den Summen seit 2008 wohl irgendwo hinter dem Komma verbergen könnte und die mögliche Dividende einer vielleicht sogar über dem Eigenbedarf liegenden Produktion könnte sogar gigantisch sein!

Es sieht wohl anders als Fratzscher schreibt nach einer fehlenden Lobby außerhalb des parteipolitischen und eher auf Stimmungen und Befindlichkeiten reagierenden Systems aus. Die fehlt bei Covid-19 leider immer noch, die Covid-19-Bazooka ist nicht erkennbar, weil niemand sie fordert.

Das wird nun aufgrund des öffentlichen Drucks in den Industrieländern bei den nationalen(!) Impfkapazitäten vermutlich im Laufe des Jahres aufgeholt. Plötzlich und damit gut acht Monate zu spät wird der Ruf laut, wer, wo vielleicht doch noch etwas mehr produzieren kann und wie man den Aufbau weiterer Kapazitäten beschleunigen mag.

Das dürfte sich aber am jeweiligen Bedarf der treibenden Länder orientieren und ob die EU ihre gemeinsame Linie halten kann, muss sich erst noch erweisen. Alle Staatschefs dürften bereits nationale „Zusatzlösungen“ sondieren, durchaus ein Beleg, dass die EU-Strategie insgesamt eben doch gescheitert ist – und zwar jenseits dieser Kaufverträge. Meine Vermutung ist, dass Spahn wohl weiß, was er sagt, wenn er vom ersten Halbjahr spricht – für Deutschland. Meine weitere Vermutung ist, dass wir erst mit den steigenden Mengen das volle Desaster der erforderlichen regionalen Infrastruktur erleben, für die – ein weiterer Fehler – mal wieder die Länder bis zu deren lokalen Organisationen verantwortlich sind. Dieses Thema wurde offensichtlich auch perfekt nach „unten“ weiter delegiert und zugleich „von unten“ denkbar arrogant gefordert. Es wird wie die Test- und Eindämmungsstrategie vor Ort noch so manche Überraschung bringen. Auch hier ist keine pro-aktive Politik erkennbar. Wir laufen auf allen Ebenen weiter hinterher, es ist ein chronisch falsches re-aktives statt endlich konsequent pro-aktives Verhalten erkennbar.

Global betrachtet wird man in den westlichen Industrieländern frühestens dann eine globale Versorgung prüfen, wenn die eigenen Probleme „durchgewälzt“ wurden. Die ersten Überlegungen dazu dürfen wir ab dem zweiten Halbjahr 2021 erwarten, wenn man sich parallel in unseren Gesellschaften mit den Menschen herumzuschlagen hat, die sich gar nicht impfen lassen wollen. Auch dieses Thema haben wir noch vor uns, es schwelt bereits bei den ersten Impfungen im Gesundheitssektor selbst.

Was die globale Entwicklung betrifft, so ist meine Erwartung, dass uns die Länder Asiens 2021 erneut vormachen werden, wie man mit dieser Krise umgeht. Ich bin überzeugt, dass beispielsweise China seine Kapazitätsplanungen strategischer vorgenommen hat – und das bedeutet möglicherweise über den bekanntlich nicht geringen Eigenbedarf hinaus.

In einem Punkt stimme ich Fratzscher zu: Die Ursache liegt in der Gesellschaft. Mit mangelnder Risikobereitschaft hat das hoffentlich nichts zu tun, denn dieses Hinterherlaufen ist das größte Risiko überhaupt. Da wir ein politisches System gezüchtet haben, dass seinerseits nur noch auf unsere Befindlichkeiten reagiert, muss die fehlende Covid-19 Lobby dieses Mal aus der Gesellschaft kommen – oder auch nicht …

 

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