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Müssen wir nach zwölf Monaten Pandemie über die Ziele und vielleicht auch über unser Personal reden?

Durch eine sehr lebhafte Debatte auf meinem Facebook-Profil angeregt, eine kurze Ergänzung meines gestrigen Kommentars zur EU-Impfstoffbeschaffung.

Heute Morgen gibt der Bundesgesundheitsminister Spahn bekannt, dass er eine Änderung der Impfstrategie erwägt. Es wird der Vorschlag von Epidemiologen geprüft, zuerst die gesamte Menge für Einmaldosen zu verwenden, um dadurch doppelt so vielen Menschen einen vermutet bis zu 60%igen Schutz zu geben. Diese Überlegung wird weltweit angestellt. Ebenso wird von Experten bezweifelt, ob die gewählten Prioritäten der Personengruppen richtig sind. Diese Diskussion ist bei Spahn noch nicht angekommen, aber sie ist durchaus ernst zu nehmen.

Als Mathematiker kann ich das sehr gut nachvollziehen, denn bekanntlich baut sich jede Welle über die jüngeren und mobileren Kohorten auf, während sie bei den älteren Kohorten endet. Es ist zwar aus klinischen Gründen nachvollziehbar, die gesundheitlich stärker gefährdeten zu bevorzugen, aber aus Sicht einer möglichst raschen Eindämmung der Pandemie bei geringer Verfügbarkeit von Impfstoffen, ist es vermutlich kontraproduktiv, weitere Wellen am Ende der häufigsten Infektionsketten zu unterbinden. Ob diese Überlegungen, möglicherweise durch die Ausbreitung der bereits entdeckten London-Mutation befördert, bald zur nächsten Anpassung der Impfstrategie führen?

Nun, so weit sind wir lange nicht, denn der oben zitierte Bericht aus dem Spiegel dokumentiert auch sehr gut die „unter“ Spahn im föderalen Deutschland bereits tobende Bürokratie. Nun wird im Land natürlich über die Verteilungsquoten gerungen und vor Ort mehren sich die Berichte von überlasteten Telefonnummern sowie überfordertem Personal, sofern es um die ganz konkreten lokalen Optionen geht. Zudem wird nach einmal „zugesagten“ Prioritäten natürlich ohnehin jede Neuausrichtung der Impfstrategie zu einem Streit ohne Ende führen.

Man kann sich nur fragen: Was denken Spahn&Co sich dabei? Vor allem: Wann denken Spahn&Co genau was? Das sieht nämlich alles nach einer wirklich perfekt (un)durchdachten operativen Lösung inklusive der erforderlichen Kommunikation bis zum einzelnen Bürger aus!

Mein gestriger Kommentar findet zudem Nahrung in dem Absatz des Spiegel-Beitrags, der über eine Unterstützung des Kapazitätsausbaus bei Biontech durch den Bund berichtet. Dabei handelt es sich um ein Werk, das Biontech auf eigenes Risiko im Herbst letzten Jahres, also viele Monate nach den Verhandlungen mit der EU kaufte und bei dem der Bund jetzt (!!) Hilfen fließen lassen möchte, um den Ausbau zu beschleunigen.

Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass die EU es eben nicht erreicht hat, den technisch/operativ maximal möglichen Kapazitätsausbau voranzutreiben. Offensichtlich waren die Hersteller gezwungen, dies – zumindest teilweise – auf eigenes Risiko zu tun und dabei natürlich maßvoll vorzugehen.

Das darf so keine Woche weiter gehen. Offensichtlich müssen wir nach zwölf Monaten Pandemie über nichts geringeres als die Ziele sprechen. Genauer über DAS Ziel und dieses kann nur lauten: Stopp der Pandemie durch Vakzine, gobal und so schnell wie es technisch möglich ist, um die Gefahr von Mutationen und einem jahrzehntelangen Hase/Igel-Rennen mit Impfstoffen zu verhindern. Von Monat zu Monat nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass wir diese Pandemie aufgrund der Unfähigkeit zu vieler Länder, eine Eindämmung hinzubekommen, nicht bereits in der ersten Generation des Virus in den Griff bekommen. Wie bei Lockdown-Maßnahmen erkennbar und leider immer noch nicht gelernt, gilt auch für die globale Strategie: Schnell, konsequent, entschlossen handeln, auf ein Ziel fokussiert, Stopp der Pandemie weltweit. Alles andere muss hinten anstehen, denn sonst leidet alles andere umso mehr.

Es gibt keinen zarten Weg, es gibt keine Annehmlichkeiten, alle Versuche, den klaren Weg zu vermeiden oder zu verzögern, werden bestraft, führen zu unnötigen Härten. Alle Diskussionen über alternative Strategien, lebenswertere Optionen, erlaubte versus nicht erlaubte Infektionen sind einfach nur teuer und desaströs.

Wir müssen uns dem endlich stellen und mit unserem Denken nicht mehr der Entwicklung hinterher laufen. Für die EU bedeutet dies neben dem bereits geforderten EU-weiten Lockdown zur massiven Verringerung der Zahlen auch eine Produktionsoffensive mit dem Ziel der Maximierung bei allen Herstellern und eine EU-weite Impfstrategie mit dem Ziel der Eindämmung der Pandemie. Sofern die EU operativ in der Lage ist, Überschüsse zu produzieren, muss auch dies unbedingtes Ziel sein. Es ist für den immer noch größeren Wirtschaftsraum der Welt absolut indiskutabel, seine technisch/operativen Ressourcen bei dieser Pandemie unter das Diktat einer preislich/mengenoptimierten Eigenversorgung zu stellen. Verluste für den Aufbau von Überkapazitäten sind kaum denkbar und wenn, sind sie zu akzeptieren. Es geht auch nicht nach marktwirtschaftlichen Mechanismen, es kann nicht die tatsächliche Nachfrage sein, die das Angebot hinterher zieht, es muss ganz alleine um die technisch macharen Kapazitäten gehen!

Wenn es um unser Geld geht, sind wir doch auch entschlossen. Wo bleibt denn die „whatever it takes“-Strategie, die Draghi-Bazooka gegen Covid-19? Wieso diese halbgaren und inzwischen fast schon im Wochenrhythmus überschriebenen Maßnahmen? Bei den Lockdowns haben wir uns daran gewöhnt, das Test- und Meldewesen nehmen wir schon nicht mehr ernst, geht das Flickwerk jetzt bei der mit mindestens acht Monaten Vorlauf planbaren Impfstoff-Infrastruktur weiter? Dürfen wir uns hier ebenfalls auf föderale Lösungswege freuen?

Ich habe zunehmend den Verdacht, dass es wohl leider tatsächlich am Personal liegt. Was dachten die EU-Regierungen sich, als sie den Einkauf der Kommission überließen? Wer hat an der Stelle die Frage nach den dafür Verantwortlichen und deren Expertise gestellt? Was dachte sich ein Spahn, als er der dafür zuständigen und mit allen möglichen medizinischen Fachrichtungen versehenen Impfkommission den Auftrag gab, einen Vorschlag zu erarbeiten, der sich offensichtlich über Monate entwickelte und bereits zwei Wochen nach seiner Verkündung als Flickwerk herausstellt? Wie erklärt es sich, dass ein Hersteller aus Deutschland auf eigenes Risiko eine singuläre Kapazität mit nachvollziehbar maßvollem wirtschaftlichen Risiko aufbaut und nun vier Monate später über eine Beschleunigung mit Staatshilfe diskutiert wird? Hätten es auch sieben Fabriken sein können? Und wie sieht das in der übrigen EU aus? Wird das jetzt doch dezentral gemacht, weil es zentral zu behäbig war?

Es ist nicht akzeptabel und eine Frage, der sich die EU-Regierungen zu stellen haben, warum diese weltweite Krise mit den üblichen Mitteln und Zuständigkeiten „bearbeitet“ wird. Von der EU bis zu unserem föderalen Apparat ist nirgendwo nach Expertise, sondern nach zuvor festgelegter Zuständigkeit weiter gemacht worden.

Zum nun wirklich kleinen Einmaleins des Krisenmanagements gehören zwei essentielle Dinge: Erstens muss die Kommunikation zentral und glasklar organisiert werden, um so ein öffentliches Debatten-Desaster zumindest nicht zu fördern. Zweitens muss man dringend alle Zuständigkeiten und Entscheidungswege radikal neu aufstellen und mit der erforderlichen Expertise sowie der notwendigen Infrastruktur ausstatten. Dabei gilt es, möglichst kleine Kreise zu bilden, zentrale Task-Forces aufzustellen, Entscheidungswege zu verkürzen, maximale Präzision und Expertise bei jedem Detail. Typischerweise bedingt das, etablierte Strukturen bei Beginn einer Krise sehr bewusst und sehr vollständig auszusetzen.

Anders ausgedrückt: Wenn ein Erdbeben eine Stadt zerstört, holt man dafür ausgebildete Rettungskräfte mit dafür geeignetem Material und lässt nicht Bürokraten mit Suppenlöffeln im Schutt wühlen!

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