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Haben vielleicht doch Krämerseelen für uns verhandelt?

Als ich vor zwei Wochen die ersten Berichte zur Impfstoffversorgung in der EU kommentierte, hatte ich die Hoffnung, die ersten Meldungen würden sich nicht bestätigen.

Seitdem nun weltweit die wohl größte Impfaktion der Geschichte startet und täglich die Daten über die Zahl der Geimpften pro 100.000 Einwohnern verfügbar sind (siehe Chart am Schluss), geht die unvermeidliche Diskussion über dieses „Rennen“ los. Es wird uns noch eine ganze Weile beschäftigen. Wenig überraschend sind die beiden dominierenden Reaktionen: Die Sache wird wie die Bundesliga bewertet und wer zu weit hinten liegt, hat alles falsch gemacht.

Wie blöde!

Vermutlich haben alle sehr viel richtig und auch nicht wenig falsch gemacht. Das versteht man jedoch erst, wenn man erkennt, wie sekundär diese nun täglich veröffentlichte „Bundesligatabelle“ ist.

Aber zunächst mal zu deren Bewertung, die ebenfalls kaum überraschend in den Springer-Medien besonders laut ist. Deren „publizistisches“ Spitzenorgan, die WELT, lässt die Neurologin Frauke Zipp, Mitglied der Leopoldina, über Regierungsversagen poltern. Dass dies entgegen der Darstellung keine Wertung der Leopoldina, sondern die eines ihrer Mitglieder ist, gehört zu den Feinheiten der Springer-Berichterstattung, die nicht unerwähnt bleiben sollte.

Ob Frauke Zipp sich in dieser Tonalität und Bewertung tatsächlich geäußert hat, sollte man zunächst in Frage stellen. Die Kritik in der Sache ist dünn, sie basiert im Wesentlichen auf zwei Argumenten: Erstens habe die EU bei den jetzt zuerst lieferfähigen Herstellern, namentlich Biontech, zu wenig geordert, weshalb in der aktuellen Tabelle Israel ganz vorne liegt. Dieser Vorwurf ist zunächst mal berechtigt, das bestätigen Aussagen aus dem Unternehmen. Statt dessen habe die EU auf mehrere Hersteller gesetzt und dabei den Schwerpunkt auf solche gelegt, die noch nicht lieferfähig sind. Nun, dieser zweite Teil des Vorwurfs ist möglicherweise verfrüht, denn genau diese noch folgenden Lieferungen dürften die „Tabelle“ recht bald verändern. Die Risikoverteilung auf mehrere Hersteller anzuprangern, weil die vorübergehend schief gegangen ist, als „Versagen“ zu bewerten, ist kaum angemessen. Ob die WELT sich noch an diesen Beitrag erinnert, wenn die Lieferungen dieser weiteren Hersteller erfolgen?

Mehr Substanz ist darin nicht zu finden, daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Opposition ebenfalls zu Wort kommt. Die Lindner-FDP und die LINKE haben sich natürlich ebenfalls geäußert und das wird nun seitens der FAZ als „dumm“ bezeichnet. Schön, dass die Ex-Kollegen das mal so nennen, dann muss ich es nicht tun und mich wieder dem Vorwurf der unsachlichen Polemik aussetzen. Die fast schon hilflosen „Forderungen“ von Lindner & Co werden hier aus meiner Sicht durchaus korrekt bewertet, denn natürlich brauchen die Hersteller keine Nachhilfe dieser Art von Politplapperei. Leider ist der FAZ-Kommentar ansonsten eher leicht neben der Realität, denn er mündet allzu sehr in dem Hinweis auf die Leistungsfähigkeit „des Marktes“.

Mit „dem Markt“ hat die ganze Sache wenig zu tun und dafür sollten wir alle sehr dankbar sein. Entgegen der dummen Reflexe von Verschwörungstheoretikern ist die Entwicklung und erst Recht die Herstellung von Impfstoffen kein wirklich gutes Geschäft – bisher jedenfalls.

Viele Pharma-Konzerne sind aus dem Bereich komplett ausgestiegen. Das Risiko der Entwicklung ist wie bei allen Wirkstoffen sehr hoch, eine stets sehr lange und teure Vorabinvestition, die bis zur Zulassung vollständig scheitern kann. Bei Impfstoffen kommt aber hinzu, dass ein schnellerer Wettbewerber das Problem möglicherweise abschließend erledigt, so dass selbst eine letztlich erfolgreiche Substanz wertlos ist. Noch schwieriger ist die Planung von Produktionskapazitäten, denn es ist kaum absehbar, wie viel Wirkstoff nachgefragt wird. Der größte wirtschaftliche Nachteil eines Impfstoffs besteht darin, dass er je Patient genau ein Mal verabreicht wird. Überhaupt ist Heilung schlecht für´s Geschäft, Therapeutika gegen Dauerleiden oder immer wieder auftretende Krankheiten sind leichter kalkulierbar, auch und insbesondere bei den Kapazitäten. Über die Zeit werden die schon gebraucht.

Nein, „der Markt“ hätte diese Impfstoffe in so kurzer Zeit niemals bereitgestellt. Das war nur möglich, weil überall auf der Welt die Staaten und Stiftungen eingegriffen hatten, um mit direkten Beteiligungen, Förderprogrammen und Sonderkrediten die „marktüblichen“ Risiken der Hersteller weitgehend zu minimierten. Das ist auch für den frühzeitigen Aufbau von Kapazitäten passiert, aber vielleicht nicht ausreichend. Dazu später mehr.

Ein sehr gelungener Kommentar, der in dieser Richtung geht, findet sich in der SZ, die im Kern die Idee einer zentralen Beschaffung über die EU verteidigt. Die Hinweise auf die politische Bedeutung dieser auch seitens der deutschen Regierung unterstützten Maßnahme sind zunächst vollkommen richtig. Ein Einkaufswettbewerb auch noch unter den europäischen Staaten wäre vollkommen falsch gewesen, nachdem die Idee einer möglichst umfassenden Kooperation bereits an Trump und Johnson gescheitert ist. Was die Süddeutsche leider aber kaum bewertet, ist die Frage, ob diese richtigerweise zentrale EU-Koordination operativ gut umgesetzt wurde.

Daran darf man Zweifel haben, der Spiegel lässt dazu verschiedene Stimmen zu Wort kommen, wobei hier Frauke Zipp mal wieder titelgebend genutzt wird, damit es viele Klicks auf den eigentlich ausgewogeneren Beitrag gibt. Tenor auch diese Beitrags und eines sehr scharfen Kommentars ist jedoch, die EU habe auf die falschen Hersteller gesetzt und Lieferkapazitäten der jetzt schnellsten damit ungenutzt gelassen. Unterstützt wird dies durch die Aussagen von Biontech und Moderna, die viel relevanter sind, als das ganze Palaver von Zipp und insbesondere den stereotypen Affekten aus FDP&Co.

Ein „Versagen“ ist hier aber nirgends begründet und die Nachrichten seitens der anderen Hersteller lassen sogar vermuten, dass wir uns in Deutschland eher sorgen sollten, ob dem föderalen Eindämmungschaos nun das Impfchaos folgt. Es ist noch zu früh für eine Bewertung, aber es könnte tatsächlich dazu kommen, dass zumindest regional die Applikation der letztlich verfügbaren Mengen zum Flaschenhals wird.

Aus meiner Sicht sind diese Kommentare aber ohnehin alle sehr pauschal gefasst und treffen die entscheidende Ebene nicht, das ist kleinkariert und das Problem nicht mal erfassend. Die Kritik an der Einkaufsstrategie der EU ist soweit richtig. Hier wurde erkennbar eine Art Optimierung von Preis und Menge verfolgt. Auch Einflussfaktoren aus den Ländern spielten wohl eine Rolle, vom Sparwillen bei Ostereuropäern bis zur verheerenden Sanofi-Bevorzugung durch Macron wird einiges berichtet. Bei der grundsätzlich vollkommen richtigen Streuung über möglichst viele Hersteller hat die EU dabei letztlich so etwas wie eine gewisse „Überbestellung“ zum optimalen Preis vorgenommen und das darf man durchaus als falsch bezeichnen.

Selbstverständlich wäre primär maximale Menge zu einem sekundär besten Preis sowohl gesundheitlich als auch gesamtökonomisch die richtige Vorgehensweise gewesen und zwar bestenfalls sogar explizit mit dem Ziel, allen Herstellern auch an dieser Stelle eine wirtschaftliche Basis für die technologisch/operativ maximal mögliche Kapazität zu garantieren. Vermutlich wäre es trotzdem nicht zu einer Übermenge gekommen, das werden wir niemals erfahren. Aber die EU hätte eine solche willkommen heißen sollen, denn global betrachtet kann es in 2021 gar nicht genug geben.

Das ist nämlich die tatsächlich relevante Perspektive, die mir bei diesen „Impfwettrennen“-Diskussionen weitgehend verloren geht. Menschen mit Weitblick, wie Bill Gates haben das bereits im Frühjahr 2020 erkannt und angemahnt. Sie forderten eine weltweite Koordination aller Staaten, namentlich nicht nur bei der Entwicklung, sondern auch bei der vorzeitigen und ggf. Geld vernichtenden Schaffung von Produktionskapazitäten für Wirkstoffe, deren Entwicklung möglicherweise scheitert. Wie ernst Gates selbst das nahm, zeigt ein Interview aus April 2020, in dem er bekannt gab, selbst sieben Fabriken zu finanzieren und zu hoffen, dass zwei davon tatsächlich auch in Betrieb gehen.

Das sind die Dimensionen, in denen die Menschheit denken und handeln muss, um diese Pandemie in den Griff zu bekommen. Es macht fassungslos, sowohl diese Einkaufspolitik als auch deren Kommentierung mit unverändert nationaler Kleindenke wahrnehmen zu müssen. Denn offensichtlich wird immer noch nicht in der erforderlichen Dimension gedacht oder gar gehandelt. Wie wichtig das wäre, hat Gates in einem Gastbeitrag der FAZ sowie in einigen Interviews beim Handelsblatt und n-tv bereits im September 2020 zum Ausdruck gebracht: Es ist eine Pandemie. Die lässt sich national nicht lösen. Müssen wir das tatsächlich immer noch erklären? Müssen wir das angesichts von Mutationen in Südafrika und in London, die täglich in immer mehr Laboren auf der ganzen Welt nachgewiesen werden, wirklich immer noch lernen?

Wenn Leopoldina-Mitglieder sich dazu äußern, würde ich mir sehr den Blick auf die wahre Dimension wünschen, denn wenn die Industrieländer nicht den gesamten Globus im Blick haben, wird schlimmstenfalls ihre eigene Impfstrategie durch diese unterlaufende Mutationen scheitern. Dann haben wir ein jahrelanges Rennen der jeweiligen Impfstoffe und Mutationen vor uns, bis wir diese Pandemie wirksam stoppen. Dazu hatte ich vor einigen Tagen bereits einen Kommentar verfasst: Diese Diskussion ist ebenfalls keineswegs auf der Ebene angekommen, auf die sie gehört.

Mit Blick auf das, was da in der EU passiert ist und laufend weiter erkennbar ist, kann ich nur sagen: Es war richtig, das zentral über die EU zu regeln, aber es war fahrlässig, das der EU-Administration und den üblichen „Entscheidungswegen“ zu überlassen, die sich zwischen EU und nationalen Regierungen etabliert haben.

Es wäre und es IST dringend erforderlich, eine Task-Force auf EU-Ebene zu etablieren, die sich aus Profis der Unternehmen rekrutiert und die das Ziel haben muss, innerhalb des – in dem Fall keineswegs geringen – Einflussbereichs der EU eine Maximierung der Produktionsmenge aufzubauen. Ein anderes Ziel kann es nicht geben, das Projekt darf kosten, was es kostet. Transparenz bei den Endpreisen mit angemessenen Gewinnmargen der teilnehmenden Unternehmen ist davon unbenommen.

Das übergeordnete und seitens der Politik zu verantwortende Ziel muss sein, die Versorgung der EU und die mögliche Rolle der EU für die des gesamten Planeten mit den anderen größeren Wirtschaftsräumen, insbesondere denen Asiens und Nordamerikas zu koordinieren.

Mit Trump war das nicht möglich – aber mit dem Krämerdenken der EU ist es das auch nicht. Wenn der Planet Glück hat, leistet der strategisch sehr kluge Staatskapitalismus Chinas besseres. Gut wäre daran wenig!

 

 

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