derspecht

CoroNews 12.04.2020

Wenn man Türen eintreten möchte, braucht man gröberes Werkzeug. Daher wird es heute wieder etwas polemischer und die geschliffene Wortwahl vernachlässigend. Wer mich dafür rügt, dem möchte ich damit sagen: Es ist nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich. Im Gegenzug nenne ich keine Namen und Quellen – mit Ausnahme öffentlicher Personen.

Zunächst für alle, die sich mit der Medien-Industrie nie beschäftigt haben, ein kleiner Blick in den Maschinenraum: Es gibt so eine Art „Zulieferindustrie“. Nachrichtenagenturen, Twitter, PR-Agenturen, Pressestellen, Lobbyisten- und Politiker-Netzwerke, last but not least „Freunde“. Aktive Recherche findet daher in vielen Redaktionen kaum noch statt, jedenfalls initial nicht. Man wird ja beliefert. Je nach Ausstattung einer Redaktion kann man rund um die Lieferung etwas Arbeit investieren – muss aber nicht sein. Geht auch ohne. Manches wird „exklusiv“ zugeliefert, man hat also ein wenig Zeit. Wenn man es nicht macht, droht die „exklusive“ Lieferung woanders zu landen, die Chance zur „journalistischen Differenzierung“ ist dahin. So viel Zeit hat man also nicht. Das meiste wird erkennbar an alle zugeliefert – dann muss man höllisch schnell mit der Veröffentlichung sein, „journalistische Differenzierung“ und so. Einiges basiert auf längeren „Deals“, ich liefere dir immer mal wieder einen Knaller, dafür knallst du aber auch mal für mich.

So schafft es eine, ich nenne es mal „Story“, in eine oder mehrere Medien, eine Art Primärepidemie. Dann folgt: Abschreiben. Nun geht es schnell und schnell durcheinander. Denn Abschreiben dürfen wir uns wie in der Schule vorstellen: Alles gut, aber nicht erwischen lassen! Also besser umschreiben, der Sache einen anderen „Spin“ geben („journalistische Differenzierung“) und besser keine Quellen nennen – wäre vergleichbar. Sprachlich einfach, kennen wir alle, „wie berichtet wird …“, „aus xyz ist zu hören …“ und so weiter. Alternative ist schnelle Recherche ähnlicher Aussagen aus anderen Quellen – Agenturfeeds, Google, das eigene Verlags-Archiv. Wenn da nichts passendes schlummert, schnell jemanden anrufen, spontanes Interview, einem „Experten“ ein knackiges Zitat abringen. Recherchiert oder überprüft wird dabei kaum, hat der erste Kollege bereits gemacht.

Im Alltag eines geschulten Rezipienten ist das sehr unterhaltsam. Man sieht die eine oder andere wirklich kreative Drehung von Stücken, man schmunzelt, wie lange es dauert, bis der letzte Nachläufer das Ding auch noch in die eigene Dose packt. Für „normale“ Öffentlichkeit auch alles gut, bitte nicht mit „Lügenpresse“-Verschwörungsmist verwechseln. Zudem jedes Verständnis für die Ex-Kollegen, Kostendruck, Lieferdruck, Klickdruck – und das in einer Welt, deren Komplexität eher in Quartalen als in Dekaden zunimmt. Eine Filterfunktion ist ebenso da, es ist nicht so, dass es keine Verbesserung bringt, wenn ein Journalist ein Thema aufbereitet. Wodarg, Bhakdi – die kommen selten in den Rummel und wenn verschwinden sie auch wieder. Absurder Mist geht nicht durch die Filter, deshalb ist es immer noch signifikant anders und besser als der Professor in YouTube mit dem offenen Brief an die Bundeskanzlerin.

Bei „normaler“ Öffentlichkeit führt das zu einem ordentlich vorgefilterten Chor an Vielfalt, aus dem jeder seine Musik zusammenstellen kann. Aber nicht bei Covid-19. Hier ist vieles anders. Es geht ans Eingemachte, es ist verdammt schnell, es trifft auf zu viele, die kein Vorwissen haben, keine Erfahrung, die es nicht einordnen können, die nur den großen Chor hören, denen es einfach zu laut wird, die weg hören möchten, aber merken, dass es nicht gut ist– weil es ans Eingemachte geht. Es darf in den Medien nicht so weiter palavert werden, es dürfen nicht die üblichen Mechanismen weiter drehen, dieses bedienen von Vielfalt und bedienen lassen von Plattformen, das schnelle Durchreichen, es muss aufhören.

Es ist an der Zeit, dass Chefredaktionen etwas ändern: Abschalten, anders machen, redaktionelle Abläufe ändern, Expertise an einen runden Tisch, es sind nicht mehr die Ressortleiter, die filtern. Es müssen die Fachleute aus der zweiten Reihe nach vorne, Palastrevolution in der Redaktionsordnung nicht befürchten, sondern auslösen! Jeden Tag nachdenken, prüfen, zusammen fassen, weniger ist mehr, lieber ein Stück am Tag und nicht 50. Covid-19 ist schnell, aber einen Realtimebericht braucht es nicht, auch keinen Ticker. Was soll der Mist? Ich weiß, klickt super. Das darf jetzt mal keine Rolle spielen. Hört endlich auf, jede Studie weiter zu drehen oder einen Pfurz des Kollegen nebenan aufzugreifen, um auch dazu was zu bringen. In dieser Zeit darf der eine oder andere Kollege auch mal seinen exklusiven Pfurz behalten.

Ich wiederhole, was ich vor ein paar Tagen dazu sagte: Es ist die Zeit der Autoren, nicht der Medien. Lasst die in der Sache guten Autoren in Ruhe arbeiten und schaltet die anderen auf deren Themen. Covid-19 ist zudem Chefsache, der CR gehört an den runden Tisch und muss halt selbst lernen, wie dieses Virus funktioniert. Wegdelegieren geht heute nicht mehr, Epidemiologie ist leider unser aller Thema geworden – man kann sich dem auch durchaus nähern, ich liefere hier kein so misslungenes Einzelbeispiel, vor zwei Monaten dachte ich bei dem Wort noch an Bier.

Wie unendlich zäh der Erkenntnisgewinn läuft, sieht man an vielen Beispielen. Was bei Covid-19 in unserer Informationsmaschine passiert, hat mit „Patient Null“ zu tun, dem in der Epidemiologie ersten Träger der Erkrankung. Das kann ein Professor sein, der viel wahres über statistische Grundrechenarten und Krankheitsverläufe erzählt. Dem vielleicht nur ein kleiner Fehler unterläuft, beispielsweise weil er übersieht, dass seine Methode zu lange braucht, um eine Entscheidungsgrundlage zu liefern. Oder ein anderer, der über Durchschnittsbildung einen Generalvortrag hält, leider aber übersieht, dass es sich hier nicht um normalverteilte Daten handelt – seine Methoden dafür also ungeeignet sind.

Derzeit macht ein Professor aus Zürich die Runde, der eine Stufe höher gekommen ist und Korridor-Analysen nutzt. Besagter Professor nutzt das beispielsweise, um zu bewerten, wie viele Bratpfannen man verkaufen kann, wenn man den Marketing-Etat erhöht. Das funktioniert gut, kann man so machen. Die Methode ist explizit geeignet, um mathematische Modelle für gegenläufige exponentielle Prozessen wie eine Epidemie zu rechnen, es gibt dazu diverse Rechentools im Netz, Pandemierechner. Voraussetzung ist aber: Man muss die Wachstumsraten kennen und deren Kausalitäten untereinander. Jetzt nutzt der gute Professor das aber genau umgekehrt: Er bastelt die Pandemieverläufe in so ein Modell und leitet daraus die Kausalität der Wachstumsraten ab. Das ist vorsichtig formuliert „neu“ bei der Verwendung dieser Mathematik. Ergebnis: Die Epidemie ist bereits vor Verhängung des Lockdowns zurück gegangen, der war überflüssig. Ich kann nur berichten, dass seine Studie eher so etwas wie Fremdschämen auslöst. Hatte und habe auch heute wieder das Vergnügen mit begeisterten Jüngern dieser Idee.

Weitere „Patienten Null“ sind Studien aus Südkorea über die Erforschung von Testverfahren und Covid-19-Verläufen, aus Japan über die „Diamond Princess“ sowie jetzt beginnend aus den USA über die „USS Theodore Roosevelt“, den Flugzeugträger. Zunächst muss man wissen, dass es sich hier um Forschungsreihen handelt und dass es gar keinen Sinn macht, nur über Einzelergebnisse zu berichten. Passiert aber leider, jede noch so kleine Nachricht aus diesen Studienreihen erzeugt derzeit einen „Patienten Null“. Das ist insbesondere deshalb sehr bedauerlich, weil diese Forschung enorm wichtig und sehr gut ist, dagegen ist Heinsberg ehrlich gesagt ein „Paper“, wie man so sagt. Dass unsere Medien sich so sehr auf nationale Studien stürzen, hat leider sehr viel mit dem o.g. Zulieferbetrieb zu tun.

Wichtig ist zunächst die Einordnung dessen, was in Asien passiert, denn es wird uns relevante Ergebnisse und keine „Paper“ liefern. Ich bitte zu beachten, dass ich hier nicht mehr über Mathematik und Daten rede, sondern nur ohne jede Bewertung zusammenfassen kann, was diese Studien aussagen. Ob das stimmt oder nicht, was man daraus schließen kann – keine Ahnung. Ich fasse das auch nur an, weil ich diesen Informationen bis heute in so vielfältiger Form begegne, dass es leider nicht anders geht.

In Südkorea wird so viel getestet, wie in keinem anderen Land. Das erfolgt dort zur Bekämpfung der Epidemie, aber auch zur Erforschung. Insbesondere möchte man beim Verlauf, bei der Diagnostik, bei Antikörpertests etc. weiter kommen. Dabei werden seit Januar gelegentlich Menschen mit einem positiven Covid-19 Test entdeckt, die die Krankheit bereits durchlaufen haben – 89 von 80.000. Es werden auch Verläufe entdeckt, bei denen der Test immer mal wieder von positiv auf negativ wechselt. Ob das Re-Infektionen, Testfehler oder sehr moderat, aber lange dauernde Erkrankungsverläufe sind, ist unklar. Es wäre auch möglich, dass diese Personen einen raschen ersten Verlauf hatten und dabei zu wenige Antikörper gebildet haben. Das könnte die Frage klären, welche Menge an Antikörpern auf eine tatsächliche Immunität hinweist. Ebenso beobachtet man bereits seit Jahresbeginn kritisch die Mutationen von Covid-19 und kommt bisher zu dem Ergebnis, dass Covid-19 im erwarteten Rahmen von Corona-Viren mutiert und der Krankheitsverlauf sich dabei nicht ändert.

Auf der „Diamond Princess“ ist durch einen chinesischen Passagier Covid-19 eingeschleppt worden, dort brach die Epidemie also auf einem Schiff aus, das die Japaner unter Quarantäne stellten. Niemand durfte das Schiff verlassen, für mehrere Wochen. Die Passagiere durften ihre Kabinen nicht verlassen, sie wurden in kleinen Gruppen zur täglichen Bewegung an Deck gelassen. Was sehr erstaunt: Insgesamt infizierten sich nur 20% der an Bord befindlichen Personen, 1% davon ist verstorben – wobei es hier eine besonders „alte“ Zusammensetzung der Gäste war. Daraus ergeben sich hoch interessante Fragen: Stimmen die Tests, haben sich also wirklich nur 20% infiziert? Selbst in einer Kabine zusammenlebende haben sich oft nicht infiziert? Dem geht man mit neu entwickelten Antikörpertests nach bzw. möchte diese damit validieren. Zugleich wird das Schiff geradezu forensisch auf die Ausbreitung des Virus untersucht. Experten vermuten, dass die Isolierungsmaßnahmen kaum wirksam waren. Sollte die Verbreitung im gesamten Schiff nachweisbar sein, wäre die Zahl von 20% sehr gering und sie würde darauf hinweisen, dass es aus irgendwelchen Gründen doch eine bestehende Immunität gibt oder dass die Tests nicht gut genug sind. Ähnlich ist es mit dem US-Flugzeugträger, dessen Kapitän beurlaubt wurde, weil er den Covid-19 Ausbruch nicht auf Befehl ignoriert hatte. Dort sind nur 10% der Besatzung infiziert und es läuft nun dieselbe Untersuchung wie in Japan.

Die genannten Quellen wurden und werden von Medien immer wieder mal aufgegriffen. Es wird immer noch von Statistikfehlern berichtet, fehlerhafte Tests, falsche Zahlen, über Todeskausalitäten räsoniert (heute noch!), von rasend schneller Mutation, von Re-Infektionen, fehlender Immunität, von Oberflächen, auf denen das Virus noch nach Monaten nachweisbar ist, ja sogar von „überwiegend“ infizierten, quasi durchseuchten Schiffen und so weiter und so weiter.

So wird aus einem Patienten Null etwas, das der des britischen nicht mächtige Amerikaner gerne „a piece of shit“ nennt. Die oben beschriebene „Vermehrungsmethode“ macht daraus einen „pile of shit“ und was passiert bei Covid-19 in der Öffentlichkeit: Da viele derzeit alle Covid-19-News aktiv aufsaugen, kommen diese „pieces“ in so zahlreicher und nicht mehr auf eine einzige Quelle reduzierbare Form bei uns allen an, so dass wir irgendwann denken: Schon wieder so eine Nachricht, da muss doch was dran sein. So entsteht dann etwas, das der gepflegte Texaner „bullshit“ nennt.

Daran ist gar nichts lustig, denn ich begegne immer noch in den vielen Diskussionen, die ich hier begleite, Menschen, die mir tagesaktuelle Beiträge mit den genannten Botschaften zeigen: Rechenfehler, alles nicht wahr, Statistiken falsch, Lockdown überflüssig, flacht auch so ab, Angst vor Mutationen oder Re-Infektionen, ewige Überlebenskraft von Covid-19 selbst auf Türklinken, rasend schnelle Ausbreitung in einem Schiff. Highlight heute war ein Beitrag, in dem tatsächlich als Überschrift stand, dass es bald auch jedem Krankenhaus so ergehe, auf der „Theodore Roosevelt“ sei „binnen Tagen“ die Besatzung „mehrheitlich“ infiziert worden – dabei stand sogar die 10% im Text??

Ich folge oft dieser Irrlichterrei und komme dann immer wieder auf die allererste, stets gleiche Ursünde, die einfach nicht die Welt verlassen möchte. Das bekommen offensichtlich auch namhaftere Redaktionen immer noch nicht in den Griff: Heute beispielsweise Beiträge zur schrecklichen Opferzahl in New York, Augenzeugen, die von Gabelstablern zum Leichentransport berichten, Hinweise, dass man die Opferzahl niemals korrekt ermitteln wird – verlinkt mit einem Beitrag von vor zwei Wochen, in dem es auch um die ungenaue Opferzahl ging, weil ja nur Grippe und da auch so viele und die meisten waren vorher schon tot. Es ist unfassbar, es passiert immer noch, jeden Tag!

Das nächste „masterpiece“ ist übrigens seit heute unterwegs: Herr Laschet und die „Experten“. Eine Runde von „Experten“ hat sich auf Initiative der NRW-Landesregierung zum „Hochfahren“ der Wirtschaft geäußert. Das „piece“ ist Teil der Kampagne Laschets zur Positionierung vor dem Gipfel kommende Woche, es wird ziemlich sicher in den kommenden Tagen herumlaufen und schlimmstenfalls den bereits existierenden „bullshit“ in manchen Hirnen der wirtschaftsliberal denkenden erhärten. Ich habe das „Paper“ aus NRW gelesen und meine persönliche Zusammenfassung lautet: Wir wissen zwar gar nichts, aber sollten wir wissen, was wir tun könnten, sollten wir darüber nachdenken, vielleicht etwas zu tun. Dieses Papier ist so voller Konjunktive und mit dermaßen vorsichtig formulierten Vorbedingungen bestückt, dass man es als Professor mal wieder ohne großes Risiko unterzeichnen kann. Schämen sollte man sich trotzdem. Mehr ist dazu aus meiner Sicht definitiv nicht zu sagen. Bin gespannt, wie meine Ex-Kollegen das sehen – freuen kann ich mich darauf nicht.

Damit wie immer zu den Zahlen, wobei es nichts neues gibt: Bei uns dürfte in den kommenden beiden Wochen der Peak durchlaufen. Auch heute lässt sich die Auslastung der Intensivbetten bei 60-70% stabilisieren. Regional erkennt man, dass es in Baden Württemberg und Bayern deutlich dynamischer ist, wen wundert es. NRW scheint sich langsam eher etwas zu entspannen.

Auf der Weltkarte ist insbesondere in Mittelamerika derzeit der heftigste Anstieg zu verzeichnen, teilweise sehr schlechte Entwicklungen – und das in einem heißen Klima. Covid-19 zeigt bisher keine Anzeichen, im Sommer klimabedingt zurückzugehen. In der Türkei wurde vollkommen chaotisch eine Ausgangssperre für die Ostertage verhängt, leider nur ein paar Tage. Experten wollten dort mehrere Wochen und zwar schon vor zwei Wochen. Aus der Oxford-Statistik ist das Land verschwunden, weil die keine Daten mehr liefern.

In den USA keinerlei Trendwechsel erkennbar. Trump spricht weiter von zwei harten Wochen – was für ein Träumer. Da es immer noch nicht zu einem Trendwechsel bei den Neuinfektionen gekommen ist und selbst so fürchterliche Entwicklungen wie in New York keinen Peak erkennen lassen, sprechen wir von Monaten und nicht mehr Wochen. Erneuter Beleg, dass zu späte und zu unentschlossene Reaktionen sehr teuer werden. Wenn Trump in zwei Wochen lockert, kann er die Zahl von 250.000 Opfern, die er bereits angekündigt hat, vergessen.

Wir sind hier in Deutschland vergleichsweise gut aufgehoben. Der Medien-Chor sollte uns nicht verleiten, die Gründe aus den Augen zu verlieren, er sollte uns aber auch nicht in Panik versetzen.

 

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