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CoroNews 19.12.2020

Die heutige Analyse beginnt mit einer Leseempfehlung: Nicht weniger als 300 Wissenschaftler fordern eine neue Corona-Strategie für Europa. Die Empfehlungen gehen vor allem darauf ein, dass die Idee, das Infektionsgeschehen auf einem gewissen Niveau kontrollieren zu wollen, letztlich in einem gesundheitlich und ökonomisch teuren on/off-Kurs enden muss. Zu den Unterzeichnern gehören renommierte Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen, auch aus der Ökonomie.

Für Leser dieser Seite ist das nicht neu. Ich erwähne es aber vor allem, weil hier erstmals die Idee einer europäischen Lösung gefordert wird. Auch das ist hier häufiger thematisiert worden, seitens eines wissenschaftlichen Papers ist das aber tatsächlich neu.

Natürlich würde eine europäische die Frage nach Grenzschließungen endlich beantworten, denn die Wissenschaftler weisen zurecht darauf hin, dass man die Epidemie ohnehin am besten durch lokale Maßnahmen eindämmt und sofern sich europaweit alle daran hielten, wären Landesgrenzen irrelevant.

Man mag nun über die Motivation für dieses Paper rätseln, denn so richtig ich es inhaltlich finde, so weit entfernt von der Wirklichkeit erscheint es mir. Die meisten Gesellschaften Europas haben mehr als einen on/off-Kurs, der Spiegel der Kompromissorientierung einer „jedem das seine“ Politik ist, nicht hinbekommen und es sieht leider nirgendwo nach einem strategischen Wechsel aus.

Der wird zwar in allen Ländern nahezu chronisch gefordert, bedeutet aber auch nur das Ringen um den on/off-Kurs, da sich je nach aktueller Lage an der Epidemiefront mal die einen, mal die anderen durchsetzen.

Was national nicht mal gelingt, dürfte auf der Ebene Europas erst recht nicht gelingen. Das ist den Wissenschaftlern sicher nicht unbekannt. Es ist daher zu vermuten, dass es eher eine Art Dokumentationspflicht ist, der man hier nachkommt und vielleicht auch ein Signal an die Politik, die Wissenschaft nicht mehr in halbgare Diskussionen zu verstricken. Was natürlich den Teil der YouTube- und PR-„Wissenschaftler“ nicht abhalten wird, mit schlauen Ratschlägen dem SocialMedia- und dem Fernsehvolk zu erklären, warum gerade eigentlich gar nicht gestorben werden müsste, wenn man nur auf sie hörte.

Ich halte dieses Vorgehen der Wissenschaftler für richtig. Es ist eine notwendige Klarstellung über das, was ich vor einigen Tagen das Offensichtliche genannt hatte: Darüber kann man sprechen, alles unterhalb solchen Niveaus ist nur Talkshowinhalt für Leute, die sich gerne reden hören, aber keinen Beitrag haben.

Mir persönlich kommt das zu spät, aber das wird die Leser hier kaum überraschen. Dennoch sind die Quellen und Analysen sehr lesenswert, denn die Begründungen kann man als wissenschaftliche Summary der hier vertretenen Meinung betrachten.

Der wissenschaftliche Beitrag ist in „The Lancet“ erschienen, einen journalistischen Überblick gibt es im Spiegel.

Damit zur Einordnung der aktuellen Epidemiezahlen in Deutschland: Wir sehen in den Infektionszahlen seit einigen Tagen ein verlassen des Seitwärtstrends und den Beginn eines Wachstums mit einer Verdopplungszeit von 20 bis 30 Tagen. Wie bereits erläutert, sehe ich diese Kurve skeptisch. Ob es die Seitwärtsbewegung gegeben hat, wird zunehmend fraglich, da sie sich in den klinischen Daten immer noch nicht zeigt. Da es vermeintlich für einige Wochen so verlief, müsste das aber der Fall sein. Ich denke daher, dass mein Verdacht einer eskalierten Dunkelziffer Ende Oktober sich bestätigen könnte.

Ein Indikator für eine steigende Dunkelziffer ist die Positivquote der Getesteten. Dazu muss man folgendes sehen: Die Teststrategie war niemals darauf ausgelegt, einen repräsentativen Stand der Epidemie zu liefern. Sie diente primär der Eindämmung tatsächlicher Fälle und des damit verbundenen Umfelds. Das ist also eher eine Art „Suchstrategie“, so dass die getesteten Personen keiner Kriterien bzw. Ähnlichkeiten unterliegen. So lange man damit erfolgreich die tatsächlichen Infektionen erfasst, stimmen natürlich die Gesamtzahlen trotzdem.

Wenn sich nun aber die Veränderung der Positivquote anders verhält als die der Infektionszahlen, so ist das rein rechnerisch ein Störsignal. Denn grundsätzlich müsste beispielsweise bei 10% mehr Infizierten auch die Positivquote um 10% steigen. Ein gewisser „Gleichklang“ der Daten ist also rechnerisch sogar zwingend.

Da die Testungen aber wie gesagt schon immer eher „opportunistisch“ gemacht wurden, sind gewisse Abweichungen dieses Gleichklangs grundsätzlich normal. Leider ist das aber aus der Balance geraten und zwar erstmals Ende Oktober, als dann schließlich die Teststrategie geändert werden musste: Seitdem werden primär Personen mit Symptomen getestet.

Daher sind ohnehin die Daten seit Anfang November mit denen vorher nicht mehr vergleichbar. Wir sehen aber leider, dass die Balance von Positivquote und Infektionsdaten über den gesamten November nicht mehr zustande kam. Während die Infektionen vermeintlich seitwärts liefen, ist die Positivquote weiter stark gestiegen, bis heute!

Es gab lediglich ein kurzes Muster mit einer Analogie zu den Infektionen, aber das waren nur wenige Tage und so präzise lässt sich damit nicht arbeiten. Leider deutet dieses Bild insgesamt darauf hin, dass es den Seitwärtstrend nicht gegeben hat und ferner ist zu befürchten, dass die Gesundheitsämter der Entwicklung unverändert hinterher laufen.

Die tatsächliche Entwicklung der Epidemie lässt sich bei solchen Testdaten leider erst anhand der klinischen Daten hochrechnen – nachträglich mit einer Latenz von mehreren Wochen. Diese traurige Kurve zeigt einen drastischen Anstieg, der vermutlich auf das soweit im Oktober auch noch in den Infektionsdaten festgestellt Wachstum zurück zu führen ist. Danach hat es eine Abflachung, aber eben keinen Seitwärtstrend gegeben. Leider deutet sich noch sehr unklar und für eine Bewertung zu früh nun aber auch hier wieder ein Anstieg an.

Der kann nicht auf den jüngsten Anstieg der Infektionsdaten aus der vermeintlichen Seitwärtsbewegung zurück zu führen sein. Vielleicht glättet sich dieser Ausreißer wieder, denn natürlich sind die Sterbefälle auch sehr von individuellen Verläufen abhängig, gewisse Ausreißer gibt es dabei immer.

Trotzdem bleibt festzustellen, dass die klinischen Daten leider zunehmend bestätigen, dass meine Einschätzung richtig war: Wir sind unter dem Lockdown light in ein langsameres Wachstum eingetreten.

Die etwas früher reagierenden Belegungsdaten der Intensivstationen bestätigen dieses Bild leider ebenfalls. Es gibt leider keine analytisch verwertbaren Daten über die Neuzugänge schwerer Verläufe in den Krankenhäusern. Das folgende Chart zeigt nur die Belegung. Wenn also Patienten die Intensivstation verlassen, beispielsweise, weil sie versterben, so mindert das die Belegung und je nach Ablauf kann das die Neu-Aufnahmen, die zur Bewertung der Neuinfektionen wichtig wären, natürlich verdecken.

Daher sehen wir hier nur den Saldo von Aufnahme und Abgängen, also eine Kurve, die ebenfalls mit Latenzen und inneren Schwankungen das wahre Geschehen spiegelt. Aber auch diese zeigt keine Seitwärtsbewegung und sie deutet ebenfalls eine Beschleunigung in den letzten Wochen an.

Damit komme ich zu einem großen Risiko der Testumstellung: Jüngere und Mobilere Menschen sind die wesentlichen Treiber der Epidemie. Dass diese jetzt nicht mehr pro-aktiv getestet werden und auch keine Umfeld-Überwachung von Fällen mehr möglich ist, birgt die Gefahr desselben Effektes, den wir im Sommer hatten: Dann wandert das Virus in sehr viele enge Sozialstrukturen, bei denen staatliche Maßnahmen zur Reduktion von Kontakten nicht mehr greifen können. Entsprechend lange dauert es, bis das Virus in diesen Strukturen durchgelaufen oder abgestorben ist.

Die kleinen Signale eines Wiederanstiegs der aufgeführten Kurven könnten genau das andeuten. Es ist viel zu früh, das zu bewerten, aber sollte das passiert sein, werden wir trotz des schärferen Lockdowns noch deutlich länger als vier Wochen mit mindestens dem heutigen Niveau rechnen müssen.

Welches Niveau das überhaupt ist, wissen wir ohnehin nicht. Anhand der Daten ist leider aber klar, dass wir in den letzten Wochen weiter steigende Zahlen hatten. Selbst wenn der jetzt verschärfte Lockdown also besser wirkt, haben wir noch eine ganze Weile mit weiter steigenden Zahlen bei den Krankenhäusern zu rechnen. Insbesondere in den bereits großräumiger ausgelasteten Gebieten wird es daher zu Situationen in den Krankenhäusern kommen, die wir eigentlich als „nicht verhandelbar“ bezeichnet hatten.

Wünschenswert wäre eine rasche Verbesserung der Testsituation, damit wir die Lage besser einschätzen können. Sie bleibt leider nur der Blick auf Modellrechnungen, die ich jedoch ausdrücklich mit dem Hinweis versehe, dass die für eine aktuelle Bewertung grundsätzlich nicht geeignet sind.

Wie oft erwähnt sehe ich das YYG-Modell für Deutschland als das zutreffendste. Es ist leider erst im Stadium Ende September, hier sehen wir also erst in gut einem Monat, was Ende Oktober/Anfang November wohl wirklich passiert ist.

Das ICL-Modell arbeitet vor allem sehr stark mit Bewegungsdaten. Es deutet zum Lockdown light so etwas wie eine hektische, aber sehr flache Aufwärtsbewegung an. So eine Charakteristik kann ich mir kaum vorstellen. Das IHME-Modell ist leider realistischer, das arbeitet primär mit den Sterbefallzahlen und es ist insofern nicht überraschend, dass hier ein Abbild des Verlaufs aus dem o.g. Chart, jedoch mit einer Hochrechnung auf die vermutlich realistischen Zahlen vorliegt. Das Modell arbeitet aus meiner Sicht mit zu geringen Latenzen, weshalb ich die Hoffnung noch nicht aufgebe, dass wir eine Abflachung der Sterbezahlen bald zu sehen bekommen.

Als Fazit muss ich leider sagen: Eine Seitwärtsbewegung bei den klinischen Daten erwarte ich nicht mehr. Die werden weiter steigen, hoffentlich aber bald doch als Folge des Lockdown light zumindest etwas langsamer. Das könnte, sofern der nun in Kraft getretene Lockdown besser wirkt, Mitte Januar zum Peak der Welle führen. Aufgrund der bereits hohen Auslastung der Krankenhäuser wird das zur Folge haben, dass nicht jeder Patient mehr eine Behandlung bekommen kann. In Einzelfällen wird davon bereits jetzt berichtet – es dürfte wohl nicht dabei bleiben.

Zunehmend muss ich auf das zusätzliche Risiko hinweisen, dass wir wie im Sommer eine unentdeckte Infektionsausbreitung bei Jüngeren und Mobileren bereits im Feld haben. Die wird sich – ich hatte das „Ketchup-Effekt“ genannt – zunächst nicht in den klinischen Daten zeigen. Das Virus wird von diesen Menschen in ihre engsten Strukturen übertragen und „braucht“ dann einige Inkubationszeiten, bis die schweren Verläufe dann plötzlich sprunghaft anziehen.

Wenn das bereits passiert ist, können wir nicht mehr damit rechnen, dass wir bereits Mitte Januar den Peak sehen. Dann wird es mindestens zwei bis vier Wochen länger dauern, bis wir Entspannung bei den Krankenhäusern sehen.

Das ist nota bene bereits passiert. Alles, was wir jetzt an den Feiertagen falsch machen, kommt hinzu. Man kann nur an alle verantwortungsbewussten Familien appellieren, die Sache sehr ernst zu nehmen.

Covid-19 ist ein unsichtbarer Feind. Weihnachten ist ein wichtiges Fest für viele Familien, für Kinder, für Großeltern ganz besonders. Aber Weihnachten 2020 ist nicht mehr zu retten – die Großeltern sehr wohl!

Keine Familie wird sich Anfang 2021 damit beschäftigen wollen, ob die schwerkranken Mitglieder sich gar an Weihnachten infiziert hatten und wer wohl der Virusträger war.

Oder?

 

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