Was der bereits von seiner eigenen Universität öffentlich ermahnte Ökonomie-Professor Stefan Homburg verfasst, ist nicht mehr einfach nur falsch, es ist geradezu pathologisch.
Seine neusten Ergüsse gelten den Studien der Covid-19 Impfstoffe. Im beigefügten Beispiel zitiert er aus einer der zahlreichen Feldstudien, hier Pfizer/Biontech. Dabei werden eine Kontroll- und eine Prüfgruppe gebildet, die jeweils identisch zusammengesetzt sind. Die erste Gruppe erhält den Wirkstoff, die zweite ein Placebo, kein Proband weiß, welcher Gruppe er angehört, um das Verhalten nicht zu beeinflussen.
In der nicht geimpften Kontrollgruppe infizierten sich anschließend 86 von 20.000 Personen mit Covid-19, in der geimpften Gruppe waren es 8 von 20.000, also 90,7% weniger. So macht man das bei solchen Studien.
Nicht aber Homburg: Er rechnet – soweit korrekt – aus, dass sich in der Kontrollgruppe 0,43% infizierten, in der geimpften 0,04% und schwadroniert dann über die absolute Differenz von 0,39% (siehe Abbildung 1). Was sei das für ein Stoff, der 0,39% Verbesserung bedeute? Das ist reine Demagogie der übelsten Sorte!
Abbildung 1: Tweet von Stefan Homburg zum Impfstoff
Ja, was hätte er denn gerne? Dass man die Testgruppen anschließend bewusst mit dem Virus in Kontakt bringt, damit sich dann 20.000 der Kontrollgruppe und 2.000 der Prüfgruppe infizieren? Muss man dem Herrn erklären, wozu Prozentrechnung überhaupt entwickelt wurde?
Selbstverständlich ist die Berechnung von 86:4 Infizierten ohne jeden Zweifel unstrittig und korrekt. Homburg könnte allenfalls monieren, die Testgruppe von insgesamt n=40.000 Personen oder die Fallzahl von 86:4 Infizierten sei zu klein, um eine repräsentative Wirkung auszuweisen. Aber die Berechnung anzuzweifeln, ist wie gesagt schon nicht mehr falsch, sondern pathologisch.
Zur Fallmenge aber äußert es sich gar nicht. Das wäre auch schwierig, denn er müsste in der Tat die Studien, deren Design und die Argumentation insgesamt prüfen. Solche Wirkstoffe werden schließlich von Labornachweisen über mehrere Feldstudien und schließlich eine ausführliche Prüfung aller Daten durch Experten bei den Zulassungsbehörden begutachtet. Zudem wäre eine Aussage, 40.000 seien zu wenig, nicht so plakativ, wie diese 0,39%. Wenn man die Kommentare unter diesem Tweet liest, fallen leider viele auf diesen Taschenspielertrick rein!
Exponentialrechnung ist auch nicht seine Stärke
Ähnlichen Unfug wie seine Prozentrechnerei leistet er sich unverändert bei der Behauptung, die Verbreitung von Covid-19 verlaufe nicht exponentiell. Das hält sich leider auch sehr hartnäckig, wenngleich der mathematisch hochbegabte Streeck sich dazu seit einigen Wochen nicht mehr äußert. Für einen wie Streeck darf man das als klares Dementi werten.
Der Ökonom Homburg hatte sich dazu auf Twitter sogar mit dem Virologen Drosten angelegt, bis letzterer ihn ausgerechnet auf den Zinseszinseffekt als exponentiellen Prozess hinwies. Selbst das brachte Homburg nicht zum Schweigen.
Statt dessen „fasziniert“ er halbwegs mathematisch gebildete immer mit seiner Sicht, exponentielles Wachstum sei irgendwie so etwas wie „steil“ und alles andere ist es in seiner kaum noch nachvollziehbaren Sicht irgendwie nicht. Er hat hingegen sein Herz für die nach einem britischen Mathematiker benannte Gompertz-Funktion entdeckt, die neben der logistischen Funktion gerne zur Modellierung biologischer/epidemiologischer Prozesse genutzt werden.
Mit einer – schon jenseits von Fakenews anzusiedelnden – Vergleichsrechnung zwischen einer seines Erachtens „echten“ Exponentialkurve (gaaaanz steil) und einer Gompertz-Anwendung (gaaaanz flach) hat er am 20. Oktober seinen letzten „Beweis“ für die nicht-exponentielle Ausbreitung anhand der Daten Frankreichs „geliefert“ (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Tweet zur angeblich nicht exponentiellen Entwicklung in Frankreich
Nun sollte man zunächst zur Kenntnis nehmen, dass Wachstumsprozesse jeglicher Art, vom Zinseszins bis zu biologischen Vermehrungsprozessen qua Definition immer exponentiell verlaufen und mathematisch gar nicht anders darstellbar sind. Alleine deshalb ist seine Ausführung für einen Mathematiker ein wenig „fremd“.
Es ist richtig, dass viele Laien mit exponentiellen Prozessen hauptsächlich reine Wachstumsprozesse mit einer konstanten Vervielfältigungsrate verstehen – das zu Covid-19 oft bemühte Beispiel ist das mit den Seerosen oder dem Schachbrett, die jeweils eine Verdopplung darstellen. Mathematisch ist der Begriff der Exponentialfunktion aber keineswegs auf diese simple Grundform begrenzt. Der Grund: In der Natur sind solche Prozesse eine Seltenheit. Bereits die Seerosen passen nicht, denn hier wird nur der Prozess beschrieben, bis der See voll ist. Natur endet an der Stelle aber nicht.
Tatsächlich haben wir bei natürlichen Vermehrungsprozessen meist auch gegenläufige Effekte – und die sind in der Regel Ihrerseits exponentiell. So wächst beispielsweise eine Bakterienkultur in einer begrenzten Nährlösung mit hohen Vermehrungsraten exponentiell an, zugleich vernichtet sie aber mit derselben Rate ihre Nahrung, weshalb es zunächst zu einer Verlangsamung der Wachstumsrate, dann zu einem Erliegen und letztlich zu einem negativen Wachstum, einer Sterberate kommt. Der Gesamtprozess läuft also gegen eine Sättigung und kippt dann in eine Schrumpfung. Aber: Diese Phasen sind alle exponentiell, die Schrumpfung verläuft meist übrigens ebenso „schnell“ wie das „rasante“ Wachstum zu Beginn.
Die Gompertz-Funktion und die logistische Funktion sind verschiedene Ansätze, solche gegenläufigen exponentiellen Prozesse darzustellen. Sie werden auch für Epidemien angewandt, da hier mit dem Wachstum der Epidemie zugleich auch Immunitäten wachsen, weshalb es irgendwann zu ähnlichen Effekten kommt, wie bei dem o.g. Beispiel mit den Bakterien: Die Ansteckungsrate geht zurück, weil es zunehmend immune Menschen gibt, die das Virus nicht mehr weiter geben können. Irgendwann kippt der Stand so weit, dass nicht mehr jeder Infizierte überhaupt einen weiteren, nicht immunen mehr trifft – die Schrumpfung setzt ein.
Mit exponentiell oder nicht exponentiell hat das aber rein gar nichts zu tun. Tatsächlich sind Gompertz- und logistische Funktion mathematisch vollständig spezielle Exponentialfunktionen, die mit einer inneren Logik den wechselnden Verlauf der Wachstumsrate darstellen. Für Interessierte: Die Gompertz-Funktion hat die Grundform y(x)=a*e^(-be^(c*t)). Nicht exponentiell? Sind wir in der „Wissenschaft“ jetzt wieder auf der Ebene einer Scheibe angekommen??
Ich lasse Herrn Homburg nun mal auf seiner Scheibe stehen und erläutere zu exponentiellen Sättigungsprozessen einige Dinge, die für das Verständnis von Covid-19 (und ein wenig Mathematik) tatsächlich hilfreich sein können.
Zunächst mal zur Sättigung: Ob wir es hier mit der recht stark gedämpften Gompertz- oder der etwas später in die Sättigung gehenden logistischen Form zu tun haben, ist bisher unbekannt und auch unwichtig. Dass es eine Sättigung auch dieser Epidemie „irgendwo“ gibt, ist unstrittig. Irgendwelche Darstellungen dauerhaft ungebremsten exponentiellen Wachstums, die dann „ganz schnell“ wie in diesem Homburg-Betrug zweistellige Millionenzahlen erreichen, sind unseriös. Es passt zu diesem Herrn, dass er eine vollkommen unseröse ungebremste Exponentialkurve besonders weit rechnet, damit die Skalierung seiner Fälschung diesen zweistelligen Millionenbereich erklimmt, wodurch seine Gompertz-Gleichung wie eine flache Gerade daher kommt – optische Fälschung made by Homburg inklusive.
Was wir bisher über Covid-19 wissen, ist leider nur, dass wir den Sättigungsbereich nicht kennen – und auch nicht kennen lernen sollten. In Hotspots wie Bergamo sowie in einigen Städten Brasiliens wurden dazu Feldstudien gemacht, die bis zu 40% Infizierte in der Bevölkerung feststellten. Dort ist die erste Welle also binnen weniger Wochen auf nahezu die Hälfte der Bevölkerung gelaufen. Da es keine tagesaktuellen Messungen gab, weiß man nicht, ob das mit einer ungebremsten Rate oder bereits mit einem leichten Abflachen passierte. Das ist aber rein akademisch, denn diese Hotspots waren binnen kürzester Zeit Katastrophengebiete, weshalb man daraus nur lernen kann: Auf eine „natürliche“ Sättigung oder anders ausgedrückt die viel diskutierte Herdenimmunität kann niemand setzen.
Tatsächlich gab es in beiden Fällen eine andere Art der Verlangsamung: Durch die Reaktionen der Gesellschaft sowie des Staates. In Italien kam der Lockdown, in Brasilien haben zumindest die lokalen Behörden reagiert. Auch das gehört nämlich zum exponentiellen Verlauf eines solchen epidemiologischen Prozesses: Ab einer gewissen Zahl an Tod und Elend im lokalen Krankenhaus reagiert die Bevölkerung. Sie reduziert ihre Kontakte und das Wachstum geht zurück.
So auch in Frankreich und hier sieht man an Abbildung 3, wie verlogen die Homburg-Darstellung ist. Denn durch seine optische Fälschung unterschlägt er, dass die Epidemie bereits in der Phase nach dem 20. Oktober in einem viel steileren Wachstum war. Tatsächlich hat das dann zu dem Zeitpunkt, an dem er die Gompertz-Sättigung „berechnet“ hat, noch mal richtig zugelegt und ist weitaus steiler geworden, bis es zum Lockdown kam. Tatsächlich widerlegt diese Frankreich-Kurve die Anwendbarkeit der Gompertz-Funktion – zumindest mit einem so frühen Sättigungsbereich.
Abbildung 3: Tatsächliche Entwicklung in Frankreich
Das Verständnis von exponentiellen Prozessen ist wichtig
Wie wichtig das Verständnis von exponentiellen Prozessen für uns ist, sieht man anhand einer der wichtigsten Entwicklungen für unseren Planeten: Dem Bevölkerungswachstum von Homo Sapiens. In Abbildung 4 sieht man diesen Prozess seit 3.000 Jahren. Man erkennt den Charakter solcher Prozesse: Ebenso wichtig wie deren spätere „explosionsartige“ Steigerung ist deren flacher Verlauf vorher. Exponentielle Prozesse zeichnen sich durch BEIDE Eigenschaften aus und es ist daher vollkommen falsch, damit nur dieses „rasante“ Steigen zu verbinden. Bei Homburg hört hoffentlich niemand mehr eine Vorlesung!
Abbildung 4: Exponentielle Entwicklung der Erdbevölkerung
Warum beide Eigenschaften so wichtig sind, sieht man an unserem Covid-19 Sommer. Ich hatte heftig gewarnt, bereits eine Inzidenz von 10 als kontrollierbaren Grenzwert zu begreifen. So einen Prozess kontrolliert man nicht, das ist unmöglich. Nur ZeroCovid ist eine valide Strategie. Wer exponentielles Wachstum begriffen hat, wird jede Kontrollierbarkeit oberhalb von Null bestreiten und als das dann im Sommer so „flach“ wieder angestiegen ist, war mir klar, was kommen würde. Als dann auch noch „Wissenschaftler“ von einer linearen Entwicklung sprachen, konnte ich es kaum glauben.
Man sieht an dieser Bevölkerungsentwicklung wunderbar, wie lange exponentielle Prozesse ein vermeintlich flaches Dasein haben können. Mathematisch zeichnen sie sich aber dadurch aus, dass sie alleine über ihre Dauer jeden anderen Prozess überragen und zwar „irgendwann“ sehr sehr schnell. Ebenso sehen wir, dass die wechselnden Wachstumsraten, die in dem Chart unten abgebildet sind, trotz ihrer heftigen Schwankungen im Gesamtprozess allenfalls als kleine unbedeutende Wellen sichtbar werden. So lange diese Raten letztlich positiv bleiben, haben wir genau dieses Gesamtbild – und so etwas sehen wir leider auch gerade bei unserem Lockdown light.
Wie schwierig und teilweise auch verzerrend die Einschätzung solcher Prozesse sein kann, sieht man schließlich in Abbildung 5: Das ist die Entwicklung der Erdbevölkerung seit 1950. Als Laie könnte man das vielleicht sogar als Gerade sehen – das Streeck´sche Lineal würde das sofort so sagen.
Tja, hier wird ein Rückgang der Wachstumsrate auf Nahe Null unterstellt und alles sieht komplett entspannt aus. In Abbildung 4 sieht man aber, dass diese Rate sogar mal für viele Jahrzehnte negativ war. An dem Gesamtprozess hat das wenig verändert.
Exponentielle Prozesse sind wirkmächtig. Man spielt nicht mit ihnen. Auch dann nicht, wenn sie gerade mal flach oder sogar abwärts verlaufen.