word-image

Übersterblichkeit – eine nicht endende Diskussion mit vielen Schweden-Hymnen

Der von mir kürzlich bewertete Heise-Artikel („Übersterblichkeit – eine einfach zu lösende Frage und ihre vielen Antworten“) des Soziologen Gill macht weiter die Runde. Dabei drehen Hobby-Statistiker die Zahlen beliebig in die Irre, um insbesondere mal wieder den Schweden eine hervorragende Strategie zu attestieren – obwohl die vor Ort mehrfach neu justiert wurde und als gescheitert betrachtet wird.

Mal werden wachsende Anteile der älteren Bevölkerung herangezogen oder absolute Sterbezahlen zwischen Ländern verglichen. Man muss nur irgendwelche Korrelationen oder angebliche Auffälligkeit aus Zahlen produzieren und behaupten, das sei kausal für die jeweils gewünschte Aussage. Gut von Gill gelernt, so macht man das.

Einige Grundregeln verhindern den Irrtum oder den Reinfall auf den absichtlichen statistischen Betrug: Wenn man Sterbeursachen untersuchen möchte, muss man zwingend den periodischen Sterbeverlauf über ein ganzes Jahr im Vergleich zu Vorjahren untersuchen. Denn kaum ein Ereignis, sei es ein Erdbeben, ein Terroranschlag, ja sogar ein Krieg erzeugt über ein ganzes Jahr gleichmäßig überhöhte Sterbezahlen. Auch eine Epidemie macht das nicht, insbesondere dann, wenn sie auf die Wetterbedingungen reagiert oder mit Lockdowns eingedämmt wird. Die Details des kausalen Geschehens gehen also bei Jahresvergleichen gerne unter. Bei Covid-19 ohnehin, denn man beweist mit der angeblichen Harmlosigkeit der Epidemie auf Jahresbasis möglicherweise tatsächlich nur, dass die Gegenmaßnahmen das schlimmste verhindert haben. Das ist der erste Fehler oder Trick – je nachdem, wie man das sehen will.

Der zweite gerne gesehene Fehler/Trick besteht in dem direkten Vergleich von Gesamtsterbezahlen zwischen zwei Ländern. Da kommen dann beispielsweise die Schweden ganz gut weg, wobei man dazu interessanterweise wiederum die Perioden gut abgrenzen muss. Da geht das plötzlich – Gill nutzt in seinem Pamphlet die Abgrenzung im Dezember, genauer in dessen erster Hälfte, wo in Schweden pro 100.000 Einwohner eher weniger Menschen als in Deutschland verstorben sind. Übrigens würde dieser Trick bei den per Ende Dezember vorliegenden Daten nicht mehr passen.

Natürlich ist so ein Vergleich aber grundsätzlich falsch bzw. er klärt genau gar nichts auf, sondern kann allenfalls Fragen nach den Ursachen aufwerfen, aber selbstverständlich keine Antworten geben. Die Sterblichkeit in verschiedenen Ländern ist aus sehr vielen Gründen sogar typischerweise unterschiedlich. Alterspyramide, Lebensverhältnisse, Ernährung, Klima, Gesundheitsversorgung, Lebensweise – alles Gründe für unterschiedliche Sterblichkeit. Solche Vergleiche führen also zu interessanten, aber sehr komplizierten Fragen. Antworten finden sich so keine.

Was man hingegen zwischen Ländern vergleichen kann, sind Übersterblichkeiten. Wenn also in einem Land prozentual deutlich mehr Menschen gegenüber den Vorjahren in demselben Land sterben, haben wir einen relativen Wert, der mit demselben relativen Wert aus anderen Ländern vergleichbar ist. Über die Ursache sagt auch das zunächst nichts aus, aber man kann daraus ableiten, dass es tatsächlich eine Ursache geben muss, die in einem Land stärker oder schwächer ausgefallen ist. Sieht man zugleich als einzige Ursache im jeweiligen Geschehen dieselbe, nämlich eine Pandemie, weil es weder Kriege, Erdbeben, Terroranschläge oder sonstige gesundheitlich gefährliche Großereignisse gegeben hat, kommt man zu einer Bewertung.

Wie im oben genannten Beitrag erwähnt, hat sich in der Wissenschaft dazu der periodisch ermittelte P-Score durchgesetzt, der die prozentuale Abweichung einer Sterbezahl gegenüber dem Mittelwert der fünf letzten Jahre ausdrückt. In besonders irrlichternden Kommentaren zu meinem letzten Beitrag wurde ich empört darauf hingewiesen, man müsse solche Effekte in relativen und nicht in absoluten Werten ausdrücken. Nun ja, einfach noch mal lesen. Zudem wurde ich darauf hingewiesen, der P-Score liefere keine Ursache. Ja, auch einfach noch mal lesen, denn der P-Score definiert in der Tat selbstverständlich keine Ursache, er definiert das Maß an Übersterblichkeit. Diese ist periodisch immer in geringen Ausschlägen von meist +/-5% bis selten über +/-10% vorhanden. Aber der P-Score oszilliert um den Vorjahresdurchschnitt, wenn keine besonderen Ereignisse vorliegen, so dass in der Jahresbilanz geringe Sterbezahlschwankungen verbleiben.

Dass die Sterblichkeit – wie von Gill behauptet – alleine deshalb steigt, weil die Alterung der Gesellschaft inzwischen die nach wie vor, jedoch langsamer steigende Lebenserwartung überkompensiert, ist eine reine These, die sehr strittig ist. In langfristigen Untersuchungen zeigt sich nämlich bisher kein stabiler Trend zu einer erhöhten Sterblichkeit. Vielmehr überwiegen hier immer noch saisonale Effekte wie die schwere Grippewelle 17/18 oder Hitzewellen im Sommer. So etwas wie einen natürlichen Anstieg der Sterblichkeit wird es nach Konsens der Wissenschaft zwar vermutlich geben, er ist aber noch zu schwach, um unter den Sondereinflüssen sichtbar zu werden. Gill behauptet implizit, ohne dies jedoch klar auszudrücken oder gar zu beweisen, dieser natürliche Effekt sei 2020 quasi aus dem Stand statistisch signifikant „ausgebrochen“.

Wenn wir aber sehen, dass der P-Score in Ländern mit hohen Covid-19 Infektionszahlen saisonal parallel auffällig ausbricht, um dann außerhalb der Covid-19 Infektionen wieder ganz normal um die Vorjahreswerte zu pendeln, muss man sich fragen, ob jemand die statistisch sehr klare Korrelation absichtlich übersieht. Auch diese Korrelation ist zunächst mal keine Kausalität, aber Gill müsste schon erklären, warum seine altersgerechte Übersterblichkeit die Ursache sei und warum rein zufällig parallel die Infektionszahlen eines neuen Virus auch hochschnellen.

Wer jetzt denkt, das hänge zusammen, weil an dem Virus ja nur die Älteren sterben, sollte mehrfach vorsichtig sein. Erstens ist das eine ethisch widerliche Überlegung, denn sie sagt nichts anderes als die Tatsache, dass diese Altersgruppe ja nur deshalb so besonders unter Covid-19 leidet, weil sie nicht bereits früher gestorben ist. Zweitens stimmt diese Bewertung nicht mal, denn die relative Sterblichkeit ist viel weniger vom Alter abhängig, als gemeinhin behauptet wird. Die Daten aus den USA hatte ich dazu ausgewertet („An Covid-19 sterben keineswegs nur die Alten“), aus Europa liegen die noch nicht vor. Die Übersterblichkeit in den USA, die ja ein relatives Maß ist, zeigt allenfalls bei den ganz jungen Menschen unter 20 ein deutlich anderes Maß als bei denen über 80. Wir sehen hier vielmehr, dass das zusätzliche Sterberisiko wohl gar nicht so unterschiedlich über die Gesellschaft verteilt ist, wie oft behauptet wird. Das liegt nur an der Tatsache, dass wir hier absolute Zahlen betrachten und zu undifferenziert beachten, dass bei krankheitsbedingten Sterbefällen die Älteren immer stärker betroffen sind. Bei LongCovid ist es übrigens nach ersten Daten anders, weil das bei Jüngeren häufiger auftritt.

Damit sehr kurz mal zu sauberen Ländervergleichen, da sie offensichtlich weiter beliebt sind, um irgendwo die besonders überlegene Strategie zu suchen oder die gerade mal genehme eigene Argumentation zu begründen.

Will man absolute Sterbezahlen vergleichen, kann man natürlich nur die Covid-19-Opfer und die umgerechnet auf die Bevölkerungszahl heranziehen. Der Vergleich von Gesamtsterbezahlen ist wie oben beschrieben Unfug, weil dort alle möglichen Unterschiede der jeweiligen Länder einfließen. Bei den Covid-19 Opfern macht es zudem Sinn, die kumulierten Daten zu verwenden, denn die Pandemiewellen haben die Länder zeitlich unterschiedlich getroffen und sie haben zudem auch alle ihre Erfahrungswerte bei der Bekämpfung gesammelt. So war Spanien bei der ersten Welle besonders stark betroffen, bei der zweiten sieht es bisher besser aus. In Deutschland ist es umgekehrt. Der folgende Vergleich zeigt also, wie die Länden bisher abschneiden und das ist vollkommen eindeutig: Bisher läuft es in Deutschland – in diesem Vergleich – am wenigsten schlecht. Schweden sowie die Schweiz haben ungefähr die doppelte Opferzahl. Zu beachten ist aber, dass der Vorsprung Deutschlands zu dem endlos gehypten Schweden-Modell lange Zeit bei Faktor 6 lag und das Beispiel der Schweiz zeigt, wie schnell das vorbei sein kann. Die jüngsten Trends zeigen, dass in diesem traurigen „Ranking“ die beiden Länder Gefahr laufen, Spanien den Rang abzulaufen. Österreich liegt dazwischen und das ist auch hier vor allem der zweiten Welle geschuldet.

Es ist insofern wie 1918 – wer in der ersten Welle glimpflich davonkam, fiel bei der zweiten nicht selten in eine Überheblichkeit, die bestraft wurde.

 

Das Chart oben hat mit Übersterblichkeit nichts zu tun, es vergleicht nur die Wirkungsweise des jeweiligen Pandemie-Managements. Wie das auf die Übersterblichkeit in den jeweiligen Ländern wirkt, kann hingegen mit dem P-Score über das Gesamtjahr bewertet werden. Das folgende Chart, in das ich Norwegen zum Vergleich einer Oszillation um die Vorjahreswerte mit aufgenommen habe, bestätigt jedoch die oben aufgeführten Werte und insofern natürlich auch Covid-19 einmal mehr als Kausalität.

Die erste Welle ist in Schweden und auch bereits in der Schweiz mit Übersterblichkeiten von ca. 45% erkennbar. In der zweiten Welle sind es in der Spitze ca. 60% in der Schweiz sowie in Österreich – was exakt die oben genannten absoluten Verläufe bestätigt. In Schweden sind die erste und die zweite Welle bisher ungefähr ähnlich – die zweite hat aber weder in Schweden, noch in Deutschland bisher ihren Peak gesehen. In Österreich ist erkennbar vor allem die zweite Welle eskaliert. Deutschland zeigt im Frühjahr mäßige und seit Dezember erkennbare Übersterblichkeit, die aber frühestens mit den Daten ab Mitte Januar zu bewerten ist. Der Peak ist hier – wie in Schweden – nicht erreicht, hoffentlich jedoch in der Schweiz und in Österreich.

 

Man kann das also drehen und wenden wie man will. Wenn das korrekt gegenüber gestellt wird, sieht man sowohl bei absoluten Covid-19 Sterbezahlen als auch bei der jeweils mit den Vorjahresdaten innerhalb eines Landes ermittelten P-Scores unzweifelhaft Covid-19 als Ursache und man erkennt zudem, dass im Ländervergleich die angeblichen Covid-19 Musterländer bei der zweiten Welle sehr rasch zu den angeblichen Versagern heranrücken können.

Wer insofern Vorzeigemodelle sucht, sollte lieber Norwegen, Finnland, das Baltikum oder die vielen Länder aus Asien/Ozeanien heranziehen. Alles andere belegt eher die traurige Tatsache, dass viele Gesellschaften 2020/2021 nicht klüger sind als die vor mehr als 100 Jahren.

 

Beitrag teilen:

Ähnliche Beiträge