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Europa braucht eine Sanierung der parteipolitischen Strukturen

Der gestern in Berlin bereits als regelmäßiger Mechanismus etablierte „Corona-Bund/Länder-Gipfel“ führt heute zu denkbar unterschiedlichen und zugleich doch in gewisser Weise deckungsgleichen Kommentaren.

Der Spiegel sieht im Ergebnis eine Kapitulation vor der Pandemie, die FAZ bewertet die Sache als zu zaghaften Öffnungsplan, die Welt bewertet es hingegen überraschend positiv als Lockerungsweg und der Tagesspiegel liegt nahe am Spiegel, indem er vor allem auf die rein politisch motivierten neuen „Grenzwerte“ abhebt. In den Teilaussagen sind diese Kommentare alle begründet und insofern eint sie eine bedauerliche Gemeinsamkeit, die man als Hilf- und Orientierungslosigkeit bezeichnen kann. Genau so ist wohl auch dieser „Gipfel“ abgelaufen, denn es dominierte vor allem der – hilflose – Streit.

Vorbereitet wurde der Termin wie immer in unserem öffentlich/politisch/medialen System durch diverse Interviews, Stellungnahmen und durchgestochene sowie offiziell verbreitete Papiere. So funktioniert das in einer „modernen“ Mediendemokratie: Der Spannungsbogen wird vorab aufgebaut, indem jeder seine Köder in den Teich wirft, um bereits vor den anstehenden Entscheidungen den Wind in der gewünschten Richtung auszuloten oder diesen bestenfalls zu entfachen. Dass dies zu einer Vertiefung der Hilflosigkeit führen musste, war ohnehin klar. Denn allenthalben wurde vor allem festgestellt, dass die Menschen an Coronamüdigkeit leiden und den pauschalen Lockdown nicht mögen. Wie erstaunlich!

Erkennbar findet das alles in einer Art Anlaufphase des Wahlkampfes statt. Die Wunschallianz Laschet/Lindner positioniert sich vor allem durch Öffnungsforderungen in Verbindung mit Regierungskritik. Lindner trägt dabei die Rolle, immer (noch) etwas weiter zu verbalisieren, als der politisch für mehr Breite zuständige Partner Laschet. So arbeitet sich der FDP-Chef wie immer mit der Hoffnung auf billige Ernte an der Kanzlerin ab, kritisiert an dieser gerade das eher nicht zu kritisierende und übersieht die eigene Verantwortung.

Dabei wäre eine wirklich Oppositionspolitik betreibende Opposition so dringend erforderlich. Ebenfalls im Vorfeld des „Gipfels“ wurde ein Papierchen aus dem Bundesgesundheitsministerium an die Presse verteilt, das sich mit den Schnelltests als möglichen „Gamechanger“ bis zum – mit Verspätung erwarteten – Vollzug der Impfstrategie auseinandersetzt.

Dieses erneute Dokument von Hilflosigkeit hatte ich vor einigen Tagen auf meinem Facebook-Profil diskutiert. Demnach sollten die Möglichkeiten zu „Bürgertests“ vorerst bis Ende Juni angeboten werden, für Anfang Juni ist eine Evaluation geplant. Der konkrete Starttermin im März ist noch offen. Damit in kurzer Zeit ausreichend Testkapazitäten entstehen, soll der Kreis der damit zu beauftragenden Stellen um Dienstleister erweitert werden, die etwa schon an Flughäfen, Bahnhöfen und Autobahnen in kurzer Frist Testzentren aufgebaut haben. Dazu soll eine neue Arbeitsgruppe geschaffen werden. Ferner soll eine weitere Arbeitsgruppe von Kanzleramt, Finanzministerium und Gesundheitsministerium berufen werden, um die Finanzierung zu beraten. Angestrebt werde demnach eine Übernahme der Kosten durch den Bund, die auf Basis von geschätzten 2% bis 2,5% der Bevölkerung, die das regelmäßig wahrnehmen, auf bis zu 800 Mio pro Monat beziffert wird. Die – noch zu berufende – Arbeitsgruppe solle aber auch eine „angemessene Selbstbeteiligung“ der Bürger prüfen. Ferner steht genauer darin, wie man Anfang Juni die Erfahrungen auswerten solle und dass das in dem Papier vorgeschlagene Programm daher vorerst auf Ende Juni zu befristet sei.

Das ist mit Datum März 2021 ein reiner Vorschlag, Status „Idee“ und bei allen Arbeitsgruppen sowie externen Mitwirkenden, die erst noch zu bestimmen sind, können wir froh sein, wenn dieses „Programm“ überhaupt bis Juni wirklich bewertbar beginnt. Zur Verfügbarkeit von entsprechenden Produktionskapazitäten der Tests steht in der Vorlage gar nichts. Nimmt man Stellungnahmen der großen Drogerieketten, die ab 9. März von Angeboten „in ersten kleineren Mengen“ ausgehen, ist analog zu den Impfstoffen auch hier bereits klar: Außer Entwicklung und Zulassung ist wenig an Vorbereitung passiert. Es würde nicht wundern, wenn viele Unternehmer dem Gesundheitsminister zuvor kommen. Die produzierbaren Mengen dürften bereits durch Einkäufer von Unternehmen, die das entweder im Handel oder für die eigenen Hygienekonzepte einsetzen wollen, stark nachgefragt sein. Ob Jens Spahn wohl daran gedacht hat, für seine Ideen auch mal ein paar Einkäufer rechtzeitig los zu schicken?

Um genau solche Versäumnisse, die seitens einer lösungsorientierten Opposition so dringend anzuprangern wären, ging es gestern beim Gipfel tatsächlich primär. Liest man die Stellungnahmen und die „atmosphärischen“ Berichte zwischen den Zeilen, wurde zunächst heftig über die gegenseitigen Pannen gestritten: Der Bund liefert zu wenig Impfstoff und scheint nun bei den Schnelltests ebenfalls einen pandemischen Tiefschlaf eingelegt zu haben, die Länder kriegen ihrerseits die Vermimpfungen nicht ans Laufen, wofür sie (auch) die bürokratischen und langsamen Vorgaben der Impfkommission verantwortlich machen. Über Testungen und qualifizierte Quarantäne seitens der Gesundheitsämter, im letzten Jahr die Speerspitze der föderalen Pandemiebekämpfung, redet kaum jemand. Wäre auch schwer zu vermitteln, denn zuletzt wagte man die Prognose, ab Inzidenz 35 könne man diesen Speer ohne Spitze wiederbeleben – aber B117 hat bekanntlich einen anderen Plan.

Dieser Bund/Länder-Gipfel-Streit dürfte also ebenso berechtigt, wie inhaltlich gut begründet, wie ergebnislos verlaufen sein. Bekannt ist lediglich, dass die Kanzlerin seitens der Schnelltests den Termin März vom Tisch genommen hat – nun ist von April die Rede. Mal schauen, ob die Entwicklung sich weiter meinem Kommentar von vorgestern nähert. Sollte Spahn nach seiner Mitverantwortung bei der Impfkampagne nun gar auch noch bei den Schnelltests geschlafen haben, wird es hoffentlich eng für ihn.

So hieß es aber leider kollektiv: Hosen runter. Das Ergebnis ist entsprechend formuliert worden, so dass – siehe Kommentare aus der Presse – letztlich jeder etwas finden kann. Der gestern kommunizierte Plan kann von der verantwortungsvollen Verlängerung des Lockdown bis zu einem wohlüberlegten Öffnungsplan beliebig interpretiert werden. So erfolgt es auch in der Presse, je nach Meinung mal positiv, mal negativ.

Leider ist der Plan aber nichts von all dem, die Kommentare in der Presse bewegen sich erneut auf der falschen Ebene. Das zeichnet leider die Pandemiepolitik und die diese begleitenden Medien in ganz Europa aus. Die Suche nach wachsweichen Kompromissen und die Erstarrung in politisch/medialen (nicht-) Entscheidungsprozessen führt zur schlechtesten Lösung überhaupt: Operativ passiert viel zu wenig, in der Folge sind nur pauschale Schließungen ab einer gewissen Not möglich und sobald man sich dazu – meist verspätet – durchgerungen hat, wälzt sich das, was wir zu allem Überfluss auch noch demokratische Debatte nennen, in Richtung der nächsten – operativ unvorbereiteten – Öffnung. In diesem Sinne hatte ich die Debatte vor einigen Tagen bereits als unwürdig kritisiert.

In dieser, auch noch durch einige Wahljahre in Europa geprägten Pandemie geht der Optimismus aus, dass mehr als ein viel zu teurer On/Off-Kurs hinzubekommen ist. Wir können wohl nur hoffen, dass wir mit diesen halb richtigen Lockdowns genug Zeit gewinnen, um mit halbwegs erträglichen Schäden die halbwegs irgendwann operativ funktionierenden Strukturen hinzubekommen, die die Sache dann doch mal beenden. Wenn das Wetter uns zudem hilft, könnte es im Herbst sogar klappen – einige Hersteller der internationalen Pharmaindustrie werden unseren Administrationen schon unter die Arme greifen. Noch ist Europa solvent. Mein Kommentar von Ende Februar („Europa ist operativ/organisatorisch bankrott“) bestätigt sich mit diesem Gipfel der Hilflosigkeit leider einmal mehr.

Der Sanierungsbedarf ist wohl erheblich. Europa hat nach den Zerstörungen durch zwei Weltkriege endlich zu einer Einigung gefunden, die wir hoffentlich durch dieses Desaster nicht verlieren, sondern weiter entwickeln. Das wäre dann die einer Krise immer innewohnende Chance, die aber nicht „hier“ ruft, die es schon zu erkennen gilt. Es war vermutlich eine nun teuer zu bezahlende Bequemlichkeit, diese Einigung ohne die ganz große Eigenverantwortung auf dem Planeten für viele Jahrzehnte mit sehr viel Zeit bei besten äußeren Bedingungen aufbauen zu können. In der globalen Politik unter der Schirmherrschaft des großen Bruders und durch einen florierenden Weltmarkt Wohlstand erreichend, konnten die Europäer sich insbesondere seit dem Fall des großen Feindes im Osten eine bequeme Debattenpolitik von parteipolitisch gezüchteten Figuren mit allenfalls durchschnittlichen Führungskompetenzen erlauben.

Unsere Gesellschaften sind natürlich längst Teil dieses Theaters geworden, das zwar alle Jahre wieder vermeintlich grundlegende Wahlentscheidungen über vermeintlich grundlegende Personalangebote vorsieht, sich aber nun vor allem durch zwei Dinge nackt zeigt: Erstens ist das Personal nicht da und zweitens ist die Lösungskompetenz des Gesamtsystems nicht (mehr) existent, denn unter diesen operativ unterqualifizierten Regierungen sind die Administrationen leider verrottet – ich wiederhole dieses Attribut ungern, aber zutreffender weise.

Da Europa 2021 vor der Aufgabe steht, eine andernorts bereits gut im Griff befindliche Pandemie zu überwinden und daher erst ab 2022 mit den weitaus schwierigeren und langfristigeren Pandemiefolgen beginnen wird, ist eine schnelle Lösung wünschenswert. Die kann nur durch eine Erneuerung der Parteien erfolgen, denn die vielen tieferen strukturellen Themen wie eine längst überfällige Föderalismusreform in Deutschland, die schon lange nicht mehr funktionierenden Sozialstaatssysteme Südeuropas oder der massive Rückstand in der Digitalisierung – um nur drei Beispiele zu nennen – fallen uns bei dieser Pandemie nun zunächst mal komplett auf die Füße.

Das, was man gerne als „organische“ Lösung bezeichnet, dürfte also zu langsam sein und auf zu wenig Substanz treffen. Die personelle Erneuerung bestehender oder die Schaffung gänzlich neuer Parteien erscheint als wirksamste Option, die Sache quasi vom Kern und vom Kopf her möglichst effizient anzugehen.

Wir sollten das als Gesellschaft so offen und klar wie möglich fordern sowie entsprechende Angebote goutieren. Tun wir dies nicht, wird es auf anderen Wegen trotzdem passieren. Der Bankrott der bestehenden Strukturen ist vorhanden, die ehrliche Insolvenz lässt sich mit Bequemlichkeit und unkritischer Haltung der Gesellschaften sicher auch weiter verschleppen, aber irgendwann obsiegen die äußeren Zwänge jeder Insolvenzverschleppung. Ist der Schaden dann groß genug, drohen die Zeiten der Rattenfänger, die unsere Unzufriedenheit mit irgendwelchen Feindbildern zu verbinden wissen, um uns mit Renationalisierungsstrategien endgültig ins Abseits zu führen.

 

 

 

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