Diese bereits gestern Abend veröffentlichte kurze Stellungnahme des Expertenrats ist unmissverständlicher Klartext mit einem einstimmigen Votum aller 19 Mitglieder. Wenn man den Absatz zur Belastung des Gesundheitssystems liest, ist das schon kein Szenario mehr, sondern eine Prognose. Die Mär vom harmlosen Virus muss sofort enden. Wer das noch verbreitet, ohrfeigt bereits jetzt die Leidtragenden in den Krankenhäusern – und vermutlich auch nicht wenige, die dort nicht mehr ankommen werden. Es gibt keine Reserven mehr für dieses Fallwachstum. Die Impfungen werden trotzdem dämpfend wirken, jeder Booster besser als jede Doppelimpfung. Wir wissen nur nicht, wie stark und ebenso wissen wir nicht, wie viele der Ungeimpften schwere Verläufe erwartet.
Ohne die Impfungen wäre das ein Szenario wie in Indien. Wobei selbst das viele immer noch für eine Lüge halten. Wir werden auch diese Welle meistern, aber je länger diese Krise dauert, desto hässlicher werden die Reaktionen. Auch das steht in dem Dokument vollkommen zurecht.
Es geht dabei gar nicht um die Frage, wie Menschen ihre Position beispielsweise zu den Impfungen finden, es geht um die gegenseitige Übergriffigkeit in die Positionen der jeweils anderen. Das wird immer aggressiver und mit zunehmend absurden „Argumenten“ vorgetragen. Wer die Impfung ohne gesundheitliche Indikation verweigert, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, sich selbst auf Kosten der Allgemeinheit und andere durch Übertragung zu gefährden. Mehr aber auch nicht. Wer sich mit Impfung so verhält, als sei er immun, muss sich genauso den Vorwurf gefallen lassen, insbesondere andere zu gefährden. Impfung oder nicht Impfung ist immer ein Aspekt unter vielen und immer noch eine legitime persönliche Entscheidung, die man kritisieren darf, ja muss, aber die zugleich auch zu respektieren ist. So wie die Kritik zu respektieren ist. Anderes kann nur die Politik regeln – die ist nun gefragt.
Zunehmend trifft die kommende Debatte über eine Impfpflicht auf eine nicht mehr emotionalisierte, sondern nahezu vergiftete Atmosphäre bei viel zu vielen. Die Sicht auf Corona, bei der die Impfungen nur den derzeitigen Siedepunkt darstellen, spaltet inzwischen ganze Sozialstrukturen. Freunde, Kollegen, Familien, ja Paare entzweien sich aufgrund dieses Themas. Das ist eine entsetzliche Entwicklung in einer Krise, aber leider ist die Architektur dieser Krise dafür wie geschaffen: Zu viele haben gesundheitlich zu wenig zu befürchten, zu wenige haben maximales zu befürchten und die vollständig eskalierte öffentliche Debatte liefert ein Buffet an Selbstbedienungsmöglichkeiten für jede Befindlichkeit, die sich bestätigen möchte.
Der Treiber dieser Dynamik ist natürlich die für viele existenzielle Bedrohung durch diese Krise, sei es gesundheitlich, sei es wirtschaftlich oder sogar beides. Sei es unmittelbar persönlich oder durch die Betroffenheit naher Angehöriger. Es dürfte nur wenige geben, die frei von Sorgen sind, die wir in dieser Breite lange Zeit nicht kannten. Aber das alleine reicht nicht als Erklärung für diese Übergriffigkeit. Wer Corona grundsätzlich leugnet, die Impfstoffe mit Lügen diffamiert und entsprechend sei es pseudo-sachlich oder hoch aggressiv auftritt, bewegt sich nicht mehr im Raum der Meinungsfreiheit. Das ist ein Austoben von Befindlichkeiten, die teilweise vermutlich bereits pathologische Ursachen haben. Umgekehrt kann und muss man über die Maßnahmen noch Streit führen können, die Sicht vertreten dürfen, andere Wege zu gehen. Nicht jeder Zweifel oder jede Kritik an den Maßnahmen bedeutet, Corona zu leugnen.
Wir sollten als Gesellschaft in der Lage sein, Falschbehauptungen von Meinungsäußerungen zu unterscheiden, ersteren die Tür zu weisen und letztere auszuhalten. Leider müssen wir aber erkennen, dass es längst Trittbrettfahrer gibt, die in der Krise ihre persönliche Agenda betreiben. Das reicht von simpler Profilierung über wirtschaftliche Interessen bis zur Politik. Was durch solche Protagonisten an Gift in die Debatte gekippt wird, können wir täglich lesen – und es wird leider von immer mehr nahezu gierig aufgesaugt. Das ist der Teil, der sehr bedenklich stimmt. Denn die „Argumente“, mit denen verbale, aber zunehmend gewaltbereite Gefechte geführt werden, stammen oft aus sehr wenigen Quellen.
Das könnte ein kritisches Signal für die politische Stabilität sein, denn diese Dynamik scheint sehr leicht triggerbar zu sein. Dass Pandemien in der Spitze das Potenzial ernsthafter Staatskrisen haben, hatte ich im letzten Mai erstmals thematisiert. Diese auf einen bereits erschöpften Zustand nun treffende Omicron-Welle wird viele Staaten diesem Szenario näher bringen.
Wie wir dem begegnen können, wird immer schwieriger. Die Impfdebatte ist das erkennbare Vehikel, um die nächsten Gefechte auszutragen. Das ist unausweichlich geworden, denn längst ist politische Agenda am Werk und sie hat leider sehr viele Werkzeuge gefunden, die sich abgespalten haben und keiner Debatte mehr zugänglich sind. Dem kann man leider nur noch durch Widerstand begegnen und es ist absehbar, dass es ohne staatliche (Gegen)Gewalt kaum gehen wird. Zugleich sollten wir uns nach Kräften bemühen, dem im persönlichen Umfeld und in der Begegnung miteinander zu entgehen, so weit es möglich ist. Die Balance zwischen jetzt notwendigem Widerstand und gebotenem Respekt vor anderen Meinungen ist herausfordernd, wir alle sind dabei herausgefordert.
Wenn die Szenarien oder Prognosen der Überlastung im Gesundheitswesen eintreten, wenn auch nur teilweise Bilder wie in den ersten Krisengebieten auch bei uns entstehen und zugleich die Impfpflicht auf die Tagesordnung kommt, wird die Spannung einen neuen Höhepunkt erreichen.
Ungeachtet der rein gesundheitlichen Fragen sollten wir alle diese Dimension erkennen.