In Kriegszeiten sind Frontberichte und Propaganda von allen Seiten mit Abstand zu bewerten. Gerne eskalieren Perspektiven, die doch eher Gerüchte, denn Erkenntnisse sind. So dominiert in der russischen Kriegsführung derzeit die kalte Ratio, die aus Tschetschenien und Syrien leider allzu bekannt ist.
Die Stromversorgung der Ukraine basiert zu 50% auf Kernkraft. Wer diese kontrolliert, kann das Land jederzeit an- und ausschalten. Das ist der Grund für die russischen Angriffe und der basiert auf einer eiskalten Strategie, die nichts anderes als die Abfolge gleich mehrerer Kriegsverbrechen ist: Zuerst werden die Städte abgeriegelt, dann werden Wasser und Energie abgestellt und eine Fluchtwelle erzeugt. Die lässt man zu, um dann alle verbliebenen als militärisches Ziel zu deklarieren, was die Zerstörung mit allen Mitteln bis zur Aufgabe rechtfertigen soll.
Zugleich ist erkennbar, dass neben der Einkreisung der Großstädte die Abriegelung der See-Zugänge betrieben wird. Das bedeutet die Kappung von jeglicher Großversorgung mit allem, vom Militärgerät bis zu Lebensmitteln.
Jenseits der vielen Berichte über die Verzögerungen der russischen Aktionen gibt es leider keinen Hinweis, dass diese Strategie nicht letztlich gelingen wird. Es ist eine Frage der Zeit und der Bereitschaft, rücksichtslos alle Mittel einzusetzen.
Bisher ist aber weder erkennbar, dass hier irrational gehandelt wird und leider fehlen auch nicht die Mittel, das eiskalt zum Abschluss zu bringen. Dass es in Russland selbst ein Erwachen gibt, ist unverkennbar, aber zugleich unmöglich zu bewerten. Die Sanktionen insbesondere gegen die Zentralbank zeigen Wirkung bis zur Geldversorgung der Bürger. Trotz jahrelanger Zensur- und Propaganda, die das System Putin aus der KGB-Schule entnommen hat, ist der Zugang zu anderen Informationsquellen nicht komplett abgeschnitten.
Die Bevölkerung spürt also, dass es sich nicht nur um eine begrenzte Militäroperation handelt, sondern um einen großen Konflikt. Zugleich ist aber nicht einzuschätzen, ob die Propaganda das zu regeln weiß. Immer mehr Kanäle werden gestoppt, Zensur und polizeistaatliche Maßnahmen werden verschärft, alte Narrative vom feindlichen Westen aufgebaut, nationalistische Durchhalteparolen mit starken Gesten sollen die Bevölkerung hinter das Regime versammeln. Wohin das führt und ob es überhaupt das System Putin erschüttern könnte, ist nicht zu bewerten. Es kann daher keine – zumindest kurzfristige – Strategie sein, Putin von innen zu stoppen.
Zugleich bleibt bei aller Euphorie über den erfreulichen Schulterschluss bei der Gegenreaktion abzuwarten, wie sich das über die Zeit entwickelt. Die Sanktionen und die Entschlossenheit auch der militärischen Verstärkung seitens der Nato mag Putin überrascht haben. Wir sollten daraus übrigens kritisch lernen, dass diese Einigkeit wohl zu spät kam, um als Abschreckung zu wirken. Nun gilt es zunächst, das auch durchzuhalten. Die Sanktionen wirken derzeit in Russland unmittelbar auf Währung und Geldversorgung. Sie wirken langfristig mit erheblichen wirtschaftlichen Schäden, die ein Land, das bis heute Probleme in der Versorgung der eigenen Bevölkerung hat, weit zurückwerfen wird. Sind das aber Folgen, die Putins System kurzfristig beeindrucken können? Seine Agenda scheint primär machtpolitischer Art, auch an der Stelle ist keine Irrationalität erkennbar.
Die Sanktionen haben aber alle eine Gegenbuchung zur Folge, deren Abrechnung bei uns erst beginnt. Es wurden Vermögenswerte von vielen hundert Milliarden eingefroren, Transaktionen von mehreren Milliarden täglich sind gestoppt. Der SWIFT-Ausschluss musste gegenüber ersten Planungen deutlich reduziert werden, damit die Energieversorgung in Europa nicht gefährdet wird. Öl und Gas aus Russland wird weiter bezogen und dafür sind auch die Zahlungswege offen gehalten worden. Unternehmen und große Fonds melden bereits Milliardenverluste aufgrund von Abschreibungen. Bankaktien gehen in die Knie, im Interbankenmarkt knirscht es, weil niemand weiß, wer wackelt. Der Gesamtschaden dürfte die Subprime-Krise deutlich übersteigen. Gold und sichere Staatsanleihen steigen trotz Negativzinsen. Das Geld flüchtet in Sicherheit, weil Unsicherheit sich breit macht.
Das alles ist anders als in Russland bei uns in der breiten Bevölkerung jenseits von Energiepreisen noch gar nicht angekommen. Auch wir zahlen unseren Preis für die Sanktionen. Das ist richtig so, aber warten wir mal ab, was passiert, wenn die Höhe des Preises breiter bekannt wird. Ich hoffe sehr, dass wir dann immer noch dieselbe Entschlossenheit zeigen, aber sicher ist das nicht. Auch dieses Tauziehen mit Putin fängt gerade erst an – und das weiß er natürlich.
Kurzfristig spielt die Zeit leider für Putin. Die Chance, dass ihm die Ressourcen und die Unterstützung ausgehen, bevor seine brutale Kriegsführung in der Ukraine deren Erschöpfung erzwingt, ist gering. Militärisch ist dagegen wenig auszurichten. Dass ein direktes Eingreifen der Nato ernsthaft diskutiert und von einigen in der Opposition sitzenden Politikern sogar aufgegriffen wird, ist keine Option, weder militärtaktisch, noch strategisch. Die Nato und deren Regierungen haben das klar gemacht und wir sollten an der Stelle begrüßen, dass die Ratio auch bei uns erkennbar diktiert.
Das wahrscheinlichste Szenario ist eine längere Krise, die sich aus den asymmetrischen Voraussetzungen ergibt. Da der Westen die Entschlossenheit Putins, seine sogar lange angekündigten Vorstellungen durchzusetzen, unterschätzt hat, sind kurzfristig seine Erfolgsaussichten immer noch hoch genug, das mit aller Brutalität fortzusetzen. Zugleich hat er damit in und für Europa das Gefühl einer existenziellen Bedrohung ausgelöst, dessen Wirkung er vielleicht unterschätzte. Das betrifft nicht nur die Osteuropäer inklusive der Ukrainer, sondern uns alle.
Das wird die Bereitschaft auslösen, jeden Preis zu zahlen, den diese Konfrontation fordert. Mittelfristig hat Russland nicht die Ressourcen, dieses Spiel zu gewinnen. Kurzfristig ist leider maßgeblich, ob Putin, der das mit Sicherheit weiß, eine Agenda hat, die davon berührt wird. Wir wissen es nicht, aber wir sollten es auch nicht einfach ausschließen.
Was wir sehen, ist erst der Anfang einer Eskalation, die auf einem Plan beruht, dessen Entschlossenheit leider unterschätzt wurde. Aber der Plan wird nicht gelingen, das dürfte auch seinem Urheber nun klarer werden. So lange wir das Feld der Ratio nicht verlassen, besteht die Hoffnung, dass sich die Spirale der Eskalation bald ihrem Höhepunkt nähert. Der wird aber schrecklich sein – er findet in der Ukraine statt. Ich hoffe sehr, dass alle Beteiligten einen rationalen Weg finden, die Asymmetrie der aktuellen Lage nicht bis zum bittersten Szenario auszufechten. Das könnte nämlich mittelfristig weniger bedeuten, als wir heute vermuten.