Das mit Spannung erwartete offizielle Papier Chinas zum Ukraine-Krieg ist heute Morgen veröffentlicht worden. Anlass für eine Textanalyse mit Versuch einer Interpretation.
Punkt 1: Hier wird die „Souveränität“ aller Länder gefordert. Es folgen weitere starke Worte wie „Fairness“, „Gerechtigkeit“, „Gleichberechtigung“, egal, ob arm oder reich usw. Typischerweise beginnen solche Papiere mit einer großen Wucht erstrebenswerter Ziele. Wir lesen aber hier bereits Einschränkungen, denn es ist die Rede davon, „Doppelstandards“ abzulehnen, gemeinsame „Normen“ durchzusetzen. Es wird insofern – natürlich zurecht – darauf hingewiesen, dass die Auslegung dieser Ziele keineswegs klar ist.
Punkt 2: Hier wird es nun im Kontrast zum ersten konkret: Es werden die inzwischen oft bemühten „berechtigten Sicherheitsinteressen“ eines Landes bejaht sowie im Weiteren die Fragen aufgeworfen, wie das zu Frieden und Sicherheit führen kann. Auffällig ist jedoch, dass der Text an der Stelle vor allem behandelt, wie das nicht geht: Die „Mentalität des Kalten Kriegs“ wird kritisiert, die Bildung von „Militärblöcken“ für Regionen wird negiert, namentlich sogar die „Ausweitung“ von Blöcken abgelehnt. Es geht aber weiter, denn explizit wird hier Europa erwähnt, das durch solche Militärblöcke und die „Mentalität des Kalten Kriegs“ nicht weiter komme und das gelte für Eurasien ebenfalls. Es wird sogar appelliert, diese Blockbildung zu verhindern. Soweit erfahren wir also sehr klar, was nicht funktioniert. Der Gegenentwurf steht in einem einzigen Satz: Es sei eine „Vision“ einer „gemeinsamen, kooperativen und nachhaltigen Sicherheit“ für einen „langfristigen und stabilen Frieden“ anzustreben. Mehr erfahren wir dazu nicht.
Punkt 3: Hier sind wir wieder auf der Meta-Ebene. Gefordert wird – wer will das nicht (?) – die Beendigung der Feindseligkeiten. Krieg ist für niemanden von Vorteil lesen wir, die Warnung vor Kontrollverlust in jedem Krieg wird platziert, alle Parteien sollten Russland und die Ukraine dabei unterstützen, den „direkten“ Dialog wieder aufzunehmen, um zu einem „umfassenden“ Waffenstillstand zu kommen. Wie das konkret aussehen könnte, wer dabei welche Rolle tragen könnte, wird nicht thematisiert. Es bleibt dabei, dass „alle“ dieses Ziel verfolgen sollten und dass es „direkt“ zwischen den Parteien zu diesem Ziel zu kommen habe.
Punkt 4: Im Gegensatz zur Textlänge an der Stelle schnell zusammengefasst: Eine Fortsetzung von Punkt 3, inhaltlich fraglich, ob das ein separater Punkt ist, das sieht eher nach einer Heraushebung des Primats der Verhandlung aus. Hier wird ebenso ohne jeden konkreteren Versuch, wie das passieren könnte, die Präferenz von Verhandlungen, zudem überraschend länglich, ausgeführt. Der Absatz schließt mit der Ankündigung, China werde dabei „weiter“(!) eine „konstruktive“ Rolle spielen.
Punkt 5: Ebenfalls sehr lang formuliert wird hier die „Beilegung der humanitären Krise“ verlangt, das jedoch konkreter, nämlich durch Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Konfliktgebieten. Das dürfe jedoch nicht „politisiert“ werden, habe durch „neutrale“ und „unparteiliche“ Prinzipien zu erfolgen, namentlich die UN sei hier zu unterstützen.
Punkt 6: Erneut eigentlich kein wirklich eigenständiger, hier geht es um den Schutz von Zivilisten und Kriegsgefangenen, konkret um die Einhaltung des Völkerrechts, die Unterlassung von Angriffen auf Zivilisten, den Schutz von Frauen und Kindern, die Grundrechte von Kriegsgefangenen und deren Austausch, an dem China konkret mitwirken möchte ohne auch nur konkret anzudeuten, wie das erfolgen soll. Dieser Absatz ist kürzer formuliert als der zuvor und von der Reihenfolge etwas widersprüchlich, denn die Evakuierungen sind schließlich nur deshalb Thema, weil es diese Verstöße gegen das Völkerrecht gibt. Ebenfalls auffällig ist, dass an dieser Stelle keinerlei Unterschied zwischen den Parteien gemacht wird, sprachlich werden hier konsequent alle Punkte beiden Konfliktparteien zugeordnet.
Punkt 7: Etwas überraschend wird hier ganz konkret die Sicherheit von Kernkraftwerken thematisiert, eigentlich auch ein Thema des zuvor behandelten Völkerrechts. Bewaffnete Angriffe auf solche Anlagen seien zu unterlassen, China kündigt an, die IAEA zu unterstützen und adressiert auch bei diesem Punkt beide Konfliktparteien.
Punkt 8: Der ist mit dem interessanten Ziel der „Verringerung strategischer Risiken“ bezeichnet, thematisiert aber die Ächtung von Massenvernichtungswaffen. Primär gilt das Atomwaffen, aber auch chemische und biologische werden erwähnt. Damit sei nicht zu drohen und diese seien nicht einzusetzen.
Punkt 9: Erneut ein sehr konkreter, die Schwarzmeer-Getreide-Initiative müsse in „ausgewogener“ Weise „vollständig“ und „wirksam“ umgesetzt werden. Eine Rollenzuweisung gibt es auch hier nicht, das wird wieder von allen Parteien verlangt und die UN solle die führende Rolle einnehmen, China unterstütze dies mit bereits vorgeschlagenen Konzepten.
Punkt 10: Hier wird es nun ganz konkret, denn die Aufhebung der Sanktionen wird gefordert. Diese werden „einseitig“ und „missbräuchlich“ genannt, sie könnten das „Problem“ nicht lösen und seien durch die UN nicht autorisiert. Das lehnt China grundsätzlich ab. Interessanterweise wird hier ein Schwenk zur Lage von Entwicklungsländern gemacht, die nicht an einer Entwicklung ihrer Wirtschaft und einer Verbesserung der Lage ihrer Bevölkerung zu hindern seien. Eine Begründung für diesen Zusammenhang findet sich nicht.
Punkt 11: Das ist erneut kein eigener und trotzdem ein textlich sehr langer, denn hier wird die Aufrechterhaltung der Lieferketten verlangt, was aber Folge der Sanktionen ist. Der Punkt wird auffällig ausgedehnt und generalisiert, weil – wieder mit der Adressierung „alle Parteien“ – die Weltwirtschaft nicht als „politische Waffe“ zu missbrauchen sei.
Punkt 12: Etwas unklarer Zusammenhang an der Stelle und insgesamt etwas verloren wirkend, wird abschließend verlangt, den Wiederaufbau nach Konflikten zu fördern. Erneut eine Aufgabe der „internationalen Gemeinschaft“ und China erklärt sich bereit, dabei „konstruktiv“ zu unterstützen.
Soweit zur Zusammenfassung von Aufbau und Inhalt. Eine mögliche Interpretation beginnt mit der Feststellung, dass dieses offizielle Dokument natürlich die bilateralen diplomatischen Kanäle und tatsächlichen Aktivitäten Chinas nicht abbilden soll oder kann. Es ist vielmehr als offizielle Klammer zu verstehen, die an die ganze Welt adressiert ist. Man kann nur versuchen, hier einige Botschaften und Interessen herauszulesen – und leider muss man auch sehr klar würdigen, was in dem Papier NICHT steht, dort aber bei ernsthaften Absichten der postulierten Ziele zu erwarten wäre.
Stilistisch ist das teilweise der typische Aufbau mit wohlfeilen Meta-Zielen ohne größere Substanz. Solche Passagen kann man inzwischen eher als emotionalisierendes Füllmaterial bezeichnen, welches die konkreteren Ziele solcher Dokumente nur vorbereitet. So werden die unstrittig wertvollen Ziele in Punkt 1 auf den Tisch gelegt und dann eigentlich auch gleich wieder herunter genommen, weil es eben nicht nur unklar ist, wie diese zu erreichen sind, sondern bereits ein gemeinsames Verständnis dazu fehle.
Der darauf gleich folgende zweite Punkt ist daher sicher nicht zufällig ein geostrategisches Kernziel von China selbst: Hier werden Militärbündnisse generell und insbesondere, ohne sie zu nennen, die Nato angegriffen. Das ist nichts anderes als das Ziel Chinas, die Kooperation zwischen den USA und Europa zu schwächen und genau hier ist ein gemeinsames Interesse mit Russland erkennbar, was leider sogar dazu führt, dieses keineswegs friedensfördernde Wort der „berechtigten Sicherheitsinteressen“ sogar wortidentisch zu russischen Darstellungen zu nutzen.
Die Widersprüchlichkeit des Dokuments ist hier entlarvend, denn einerseits werden Normen wie das Völkerrecht, die Integrität von Staaten etc. fast schon überstrapaziert, andererseits aber „Sicherheitsinteressen“ dagegen gestellt, ohne den Versuch zu unternehmen, diese zu definieren. Das ist logisch reiner Unfug, denn exakt diese „Sicherheitsinteressen“ sind durch u.A. völkerrechtliche Regeln klar gestellt und wenn man sich für deren Durchsetzung einsetzt, muss man nicht einen scheinbar erforderlichen Aspekt von irgendwelchen „Sicherheitsinteressen“ dazu nehmen, sondern darf sich viel konkreter äußern, wie man diese Normen denn zukünftig durchsetzen möchte.
[Nebenbemerkung, nur damit das nicht wieder durcheinander kommt: Die Frage, ob ein starkes Militärbündnis grundsätzlich und zudem diese Nato mit einer asymmetrischen Bedeutung zwischen den USA und den Europäern für was auch immer sinnvoll oder erstrebenswert ist, habe ich damit nicht thematisiert. Es ist ein interessantes Thema, spielt hier aber keine Rolle, es geht darum, die Interessen Chinas an der Stelle zu erkennen.]
Die folgenden Punkte bewegen sich dann wieder auf der Ebene von Füllmaterial. Es lässt sich jedoch die Sicht herauslesen, dass China äußere Einflussfaktoren für maßgeblich hält, um die Kriegsparteien zu Verhandlungen zu bewegen. Ob das als Angebot zu verstehen ist, dabei koordiniert mitzuwirken oder weiter eigene Wege zu gehen, bleibt vermutlich absichtlich offen, denn mehr als die Ankündigung, eine „konstruktive Rolle“ zu spielen, kommt nicht. Auch das ist leider auffällig, denn wenn man die vielen Appelle zuvor und danach, insbesondere bezüglich der Rechtsnormen sieht, wäre ein sehr konkretes Angebot Chinas, wie man an deren Durchsetzung mitzuwirken gedenkt, eigentlich logisch. Es bleibt aber stets bei nebulösen Bewertungen der eigenen Unterstützung oder der Abwälzung der Verantwortung auf die UN sowie andere Institutionen.
Daraus muss man leider schließen, dass China wie bisher auf der offenen Bühne eher eine neutrale, sehr besorgte, vor allem aber alles andere als konkret festgelegte, ja operativ sogar bewusst offene Rolle spielen möchte, um dann bilateral die eigenen Interessen umso effektiver verfolgen zu können. Das ist keine Überraschung für chinesische Politik, es ist auch strategisch klug, sich so zu verhalten, aber es zeigt leider auch kein wirklich sehr großes Interesse, diesen Krieg zu beenden. Immerhin lassen die weiteren Punkte den Schluss zu, dass man mit der Art der Kriegsführung immer unglücklicher wird. Der Terrorkrieg gegen die Zivilbevölkerung wird zwar nicht an die russische Adresse gehängt, aber man darf das schon als Signal nach Moskau lesen, dass so etwas schlecht fürs Image ist und Peking in seiner strategisch klugen „Überparteilichkeit“ doch zunehmend „stört“.
Das wird noch klarer beim bereits rhetorischen Spiel mit Massenvernichtungswaffen und erst Recht bei deren Einsatz. Es ist an der Stelle ein sehr klares Signal, dass selbst die Drohung mit solchen Waffen explizit genannt wird. Interessant ist der Begriff der „strategischen Risiken“, aus dem man schließen kann, dass eine solche Eskalation aus der Sicht Chinas die Balance grundlegend verändern würde und vermutlich China zwingen würde, doch klarer einzugreifen. Umgekehrt darf man daraus leider ableiten, dass sie es ohne eine solche Eskalation so schnell auch nicht tun werden.
Die Punkte zur Nahrungsmittelversorgung sowie den Lieferketten sind erkennbar ein Signal an die vielen Länder, die nicht zuletzt durch China zu einer neutraleren Position bewegt werden konnten und die diesen Konflikt nicht als den ihren sehen, von ihm aber Nachteile erfahren. Hier spielt China erneut die Rolle des Anwalts für „unbeteiligte“ Dritte, die keine eigenen Interessen in diesem Konflikt haben, aber Nachteile erfahren oder vielleicht auch Vorteile erhoffen. Das wird verstärkt durch ein glasklares Signal an die USA, die Sanktionen nicht zu nutzen, um den Wirtschaftskrieg gegen China zu erweitern.
Insgesamt kann man daraus leider schließen, dass China kein wirklich erkennbares Interesse hat, zur Beendigung des Kriegs beizutragen. Der dürfte leider den eigenen Interessen sogar dienlich sein und Nachrichten über zunehmende Unterstützung Russlands in vielen Bereichen sind dazu passend. Zugleich aber wird, das ist der kleine positive Lichtschimmer, doch recht klar signalisiert, dass der Terrorkrieg gegen Zivilisten oder gar eine atomare Eskalation für Peking rote Linien sind. Zusammenfassend steht da an die USA die Mahnung, die Sache nicht gegen die unmittelbaren Interessen Chinas auszudehnen und an Russland, es gefälligst etwas „sauberer“ und keineswegs noch „schmutziger“ fortzusetzen. Für den Rest der Welt ist die Nachricht enthalten, dass man auf China zählen kann und sei es für den Wiederaufbau, sofern die anderen auf dem Planeten es mal wieder nicht besser konnten.
Was die Chinesen nun tatsächlich tun werden, ist kurzfristig absehbar. Soweit möglich werden sie Russland unter dem Radar unterstützen, weil sie an einer Fortsetzung des Kriegs wohl leider mehr Interesse als an seiner Beendigung haben. Zugleich werden sie das nicht offen tun und sie haben auch klare Linien an die russische Seite formuliert.
Für Europa leider keine gute Nachricht. Ob die USA ein großes Interesse haben, den Krieg zu beenden oder ihn ebenfalls kontrolliert fortzusetzen, um Russlands Ressourcen zu schwächen, wird bekanntlich aus guten Gründen diskutiert. Wenn hier nun die zweitmächtigste Nation des Planeten, die sich mit der derzeit mächtigsten im direkten Konflikt befindet, auch keine Interessen hat, das zu beenden, kann dieser Krieg leider noch sehr lange dauern. Immerhin gibt es keinerlei Interesse an einer unkontrollierten Eskalation, die dürfte auch in Russland nicht existieren.
Wie auch immer das weiter geht, in Europa wird Krieg geführt, in der Ukraine wird dafür gestorben, entschieden wird woanders.