Zur wichtigen Strompreisdebatte, die ich kurz vor Weihnachten mit den hohen WKA-Erträgen und dem dadurch ausgelösten Preiseinbruch ein wenig stimulierte, gehört auch die Merit-Order und damit die EU-weite gesetzliche Festlegung zur Bildung der Börsenstrompreise. Zur Einordnung bitte wie gestern erläutert beachten, dass die Börsenstrompreise lange Zeit für unsere Endpreise, insbesondere im privaten Haushaltsstrom, nur eine sehr geringe Rolle spielten. Aber seit Mitte 2021 sind sie der dominierende Faktor geworden, daher ist es richtig, sich mit Merit-Order sehr kritisch auseinanderzusetzen.
Weil also mit der Eskalation der Gaspreise unsere Strompreise so teuer geworden sind, wird in der Öffentlichkeit und auf deren Druck auch in der Politik nun diese Merit-Order heiß diskutiert. Ein Prinzip, das vorher vermutlich so gut wie niemand kannte.
Der Begriff wird seitdem sogar in Talkshows erklärt. Es ist ein Fachbegriff aus der VWL, der sich in deutschen Lehrbüchern auch „Markträumungspreis“ nennt und zunächst nichts mit dem Strommarkt zu tun hat. Es ist wie vieles in der VWL kein „Naturgesetz“, sondern ein deskriptives Modell, welches das Verhalten in Märkten beschreiben kann – oder auch nicht, typisch für die ganze VWL 😉
Demnach kann es vorkommen, dass in i) transparenten Märkten mit ii) einem Einheitsprodukt der teuerste Anbieter, der die letzte Nachfrage bedienen kann, den Preis setzt, eben jenen „Markträumungspreis“. Beim Lanz hat das sogar mal der FDP-Politiker Lambsdorff unter Zitierung des sehr schätzenswerten Ökonomen Lion Hirth mit dem Modell von zwei Kartoffelbauern erklärt, von denen einer billig, einer teuer und beide zusammen zu wenig für alle Käufer produzieren. Dann werden die Kartoffeln zu einem Einheitspreis verkauft, den der teurere Anbieter bestimmt. Oder auch nicht 😉
Denn: Kann sein, kann auch nicht sein. Preisbildung in Märkten ist komplex, es gab viele Nobelpreise für die Forschung dazu, weitere werden folgen. So wäre es auch denkbar, dass der Bauer mit den günstigeren Kartoffeln einen geringeren Preis verlangt, um Kunden zu binden, weil er weiß, dass es auch wieder billigere Produzenten gibt. Er wird zudem selbst versuchen, seine Ernte auszuweiten, denn seine Marge ist großartig. Der teurer produzierende wird das ebenfalls erwarten, daher vielleicht aus denselben Gründen sogar unter seinen Kosten anbieten, um im Markt zu bleiben und fleißig an seinen Produktionskosten arbeiten.
Um es abzukürzen: Es ist keineswegs Stand der VWL, dass die teuersten Anbieter in unseren Märkten die Preise setzen. Vielmehr gilt für gut organisierte Märkte, dass die günstiger produzierenden die Preise bestimmen und die teuer produzierenden aus dem Markt ausscheiden. Merit-Order ist also nicht statisch zu betrachten und es ist auch nur ein – besonders simples – Modell von sehr vielen zur Beschreibung, wie die Akteure an Märkten zu ihren Preisen kommen. Ich empfehle insofern Volkswirten wie Hobbyökonomen, das und sich selbst damit nicht zu wichtig zu nehmen.
Damit von den VWL-Grundlagen zum Strommarkt. Während wir in der VWL von einem deskriptiven Modell sprechen, das einen freiwillig zustande gekommenen Preis besonders trivial, um das nochmals zu betonen, beschreibt, wurde das für den Strommarkt so explizit gesetzlich vorgeschrieben – und zwar, das kann man nicht oft genug erwähnen, in der gesamten EU. Das ist also keine deutsche Besonderheit oder die Erfindung irgendeiner Partei.
Dabei ist die Idee dieser Regulierung auf der gewollten Seite durchaus gut, das fehlt bei der heutigen Kritik dieses Designs. So wird durch Merit-Order zunächst sichergestellt, dass alle lieferfähigen Anbieter mit zudem sehr günstigen Preisen in die Auktionen gehen. Sie alle tun dies mit der Aussicht auf bessere Preise und werden so günstig wie möglich anbieten, um „dabei zu sein“. Forschung belegt, dass tatsächlich zu Grenzkosten angeboten wird, bei vielen Erzeugern, den Erneuerbaren insbesondere also mit Null. Dieser, ich nenne ihn mal „Sog-Effekt“ – ein weit klügerer Ökonom namens Vickrey hat das genauer formuliert und dafür den Nobelpreis erhalten – funktioniert sehr gut und er hat gerade beim Strom den gewollten „Nebeneffekt“, dass wir jederzeit genug Angebot im Markt haben. Das ist bekanntlich technisch zwingend notwendig.
Hier sind also niedrigste Angebotspreise in den Auktionen und Versorgungssicherheit kombiniert. Es war dabei klar, dass es viele Anbieter geben wird, die, wie unser oben genannten Bauer mit den günstigen Produktionskosten, höhere Margen haben als andere. Auch das war aber gewollt, weil, so die Erwartung, dadurch die Produzenten von günstigem Strom Anreize erhalten, ihre Produktion auszubauen. Die Erwartung war also, dass diese letztlich die teureren aus dem Markt drängen – was die Theorie der VWL grundsätzlich auch erwartet.
Hier aber hätten die VWLer besser mal mehr mit den Ingenieuren gesprochen, denn das wird nicht passieren. Ferner wäre das eine oder andere Gespräch mit Kapitalmarkttheoretikern oder Spieltheoretikern sinnvoll gewesen, denn insbesondere sehr enge Börsen funktionieren weit komplexer als basale VWL.
Tatsächlich haben wir die technische Situation, dass wir hier nicht von Kartoffeln im Sinne eines Einheitsprodukts reden, sondern von zu einem konkreten Zeitpunkt lieferfähigem Strom. Da ist Erneuerbarer Strom anders als Kernkraftstrom, der anders ist als Kohlestrom und das alles ist nochmals anders als insbesondere Gasstrom. Der fundamentale Unterschied des Stromsektors zu allen anderen Märkten ist, dass die Ware nicht speicherbar ist und die Lieferfähigkeit der Produzenten vom Zeitpunkt abhängt. So haben wir also von der Nachfrage gar nicht abhängige Überschüsse je nach Wind und Wetter oder bei Atomstrom je nach Tageszeit/Saison, wir haben bei viel Kernenergie oder Braunkohlestrom Angebotsmengen, die gar nicht auf die Nachfrage reagieren, wir haben bei Steinkohle Angebote, die mäßig auf die Nachfrage eingehen kann und wir haben insbesondere bei Gas Anbieter, die beinahe täglich für einige Stunden ein Monopol bilden.
Außerdem haben wir in dem Markt einen hohen Anteil an Nachfrage, der weder auf den Kaufzeitpunkt, noch auf den Preis reagieren kann. Wenn irgendein Aggregat in unseren Kühlschränken erkennt, dass es in denselben zu warm wird, fragt das Strom nach, ohne auf den Zeitpunkt oder den Preis zu achten. Der muss ferner exakt dann auch produziert werden, die Anbieter haben also auch nur sehr begrenzte Flexibilitäten, darauf zu reagieren. Außer Gaskraftwerken, das sei ebenfalls wiederholt.
Das mit basaler VWL zu erklären und gar daraus eine sehr umfassende bürokratische Regulierung von vielen Hundert Seiten zu basteln sowie ausgerechnet durch einen Börsenmechanismus mit komplexen Auktionen umzusetzen, halte ich intellektuell für eines der „interessantesten“ Projekte, an dessen Studium ich mich wirklich täglich erfreue – für eine gute Idee halte ich es nicht 😉
Das erste Bild zeigt rein schematisch, wie das gedacht ist und es wird bis heute von vielen als Beschreibung des tatsächlichen Preisgeschehens genutzt. Je nach Herzenswunsch kann man dann die Erneuerbaren oder die Kernenergie beliebig breit machen und behaupten, dass die billig seien und irgendwann auch die Preise setzten. Das ist wie die ganze VWL dahinter bunte Theorie.
Das zweite Bild zeigt, was das tatsächlich macht. Wir sehen, dass sogar die gewichteten Durchschnittspreise täglich um Faktor 3 und mehr innerhalb weniger Stunden schwanken. Nota bene: Der gewichtete Durchschnitt! Tatsächlich sind die Tagesschwankungen weit höher, wir sehen Preisausschläge in den Spitzenwerten von Faktoren >100 innerhalb von Minuten. Dieser gewichtete Durchschnitt ist das maximale statistische Glättungsverfahren, das man nehmen kann und selbst das kommt zu solchen Schwankungen. Diese Preise haben weder mit den Grenzkosten, noch mit den wahren Erzeugungskosten der entsprechenden Lieferanten irgendetwas zu tun. Die sind komplett durch die Regulierung und die spieltheoretisch zu erklärenden Akteure bestimmt.
Mit „Angebot“ und „Nachfrage“, Erzeugungskosten und Zahlungsbereitschaft, also den gängigen Mustern für Preisbildung in anderen Märkten hat das folgendes gemeinsam: Nichts! Gar nichts!. Wer an der Stelle also mit weiteren basalen Erklärmustern der VWL daher kommt, von „Angebotsverknappung“, „Preisanreizen“ oder Ähnlichem spricht, hat sich mit diesem sehr speziellen Marktgeschehen schlicht nicht mal oberflächlich befasst. Es ist bedauerlich, wie viele auch mit höheren akademischen Graden und nicht selten wichtigen Mandaten ausgestattete Ökonomen das beinahe täglich in hoffnungslos anämischen, allenfalls auf Niveau von Erstsemester-VWL befindlichen Artikeln oder Interviews trotzdem tun. Das ist ein trauriges Kapitel heutiger wissenschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit – in wissenschaftlichen Kanälen tun diese Akteure das nämlich nicht! – und wie das von Journalisten genutzt wird, gleich das nächste, noch traurigere Kapitel.
Erzeugt wird diese tägliche, nein minütliche Preisspirale durch ein Geflecht von Börsenvehikeln, die im dritten Bild abgebildet sind und nur einen kleinen Teil dessen abbilden, was da jeden Tag passiert. Hier sind einerseits Tausende Versorger und Stromhändler aktiv, aufgrund des Verbunds wohl Hunderttausende in ganz Europa, zugleich aber haben wir phasenweise nicht mal ein Dutzend Betreiber insbesondere von Gaskraftwerken, die alleine lieferfähig sind. Dieses System taumelt zwischen jeweils für sich komplett unterschiedlich dysfunktionalen Zuständen, in denen Tausende Akteure einfach nur irgendwie ihren Strom los werden müssen, während zugleich irgendeine Nachfrage darauf gar nicht reagieren kann und solchen, in denen eine Handvoll eben diese Hand aufhält – worauf wiederum Tausende ihr komplettes Geschäftsmodell aufbauen. Wir haben also Phasen, bei denen jeder Erzeuger sich fragen muss, ob sein Geschäftsmodell noch funktionieren kann und dann solche dieser Monopole sehr weniger Gaskraftwerke, bei denen wir in den Spitzen komplett absurde Preise regelmäßig jenseits von 1 EUR und teilweise bis zu 10 EUR pro KWh sehen. Korrekt gelesen: In Worten EINS bzw. ZEHN pro KWh! Da werden die Taschen also wieder voll – aber welche, wie oft und was sind die Anreize?
Überwiegend keine sinnstiftenden. Dieses „Ding“ war lange Zeit ein Thema für Insider, die Preise schwanken schon immer und unabhängig von Erneuerbaren in ganz Europa wirr um den jeweils höchsten fossilen Kraftstoffpreis, insbesondere Handel und Finanzakteure machten Marge. Lange Zeit dominierten eher saisonale Effekt und die Tageszeit, seit Ausbau der Erneuerbaren wird das Wetter ebenfalls zu einer Determinante. Seitdem verkaufen die besten Wetterfrösche ihre teuersten Daten an Finanzinvestoren. Was für ein Unfug!
Für die Verbraucher bisher kaum ein Thema, reiner Insidermarkt, denn Steuern und Abgaben dominierten, teilweise nur ein Fünftel des Preises wurden so gebildet. Die Industrie kauft zu Durchschnittspreisen ein, genug Händler, die Marge mit den Schwankungen machen, damit gut verdienen, verkaufen zu diesen Durchschnittspreisen und liefern damit eine Dienstleistung, die bei einem angemessenen Marktdesign gar nicht existieren würde. Aber es gibt sie und die Industriestrompreise lagen lange im Bereich von 4-6 Cent pro KWh, teilweise konnte man sogar mal geringer einkaufen. Der Industriestandort wurde also wettbewerbskonform versorgt, die Haushalte schon immer zu teuer, aber die Kaufkraft war da und im Energiemix privater Haushalte der Stromsektor klein.
So bleiben kann davon nichts, wer Elektrifizierung will, muss das ändern. Tatsächliche Erzeugungskosten müssen die Endpreise für alle dominieren. Wettbewerb muss dabei die Suche nach den geringsten Erzeugungspreisen erzwingen. Schlichte Verbote von Giftstoffen und Emissionen müssen dazu kommen. Komplett triviale und in anderen Märkten ohne große öffentliche Diskurse geübte Praxis. Die Staaten haben Hunderte Stoffe für Produkte in unserem Alltag, von Babynahrung über Kühlschränke bis zur Kleidung schlicht verboten. Ansonsten für Wettbewerb und frei Preisbildung zwischen Angebot und Nachfrage gesorgt. Aber hier passiert davon nichts, hier wird bis tief in die Öffentlichkeit irgendeine Ideologie vertreten, sei es ein Markt ohne Verbote – widersprüchlicher Quatsch! – oder die Lenkung einer Wirtschaft bis zu Preis- und Technikdiktaten, die übrigens von falsch deklarierter „Technologieoffenheit“ bis zur jeweiligen Förderpolitik von allen Parteien ausgeübt wird.
Fachkreise mahnen das schon lange an, passiert ist nichts, der Druck auf die Politik war zu gering. Dann aber kam Putin (Bild 4), dann streute Gazprom an der führenden Gasbörse in Amsterdam Nachrichten über leere Speicher, die stimmten, Gerüchte über mögliche Störungen an den Pipelines, die später tatsächlich kamen und der Gaspreis eskalierte. Das war neun Monate VOR dem Ukraine-Krieg und die europäische Energiepreiskrise begann. Daher muss man Preisvergleiche zum Vorkrisenniveau mit dem ersten Halbjahre 2021 vornehmen und eben nicht mit 2022 – ein methodischer Fehler, der sich leider durch unsere Medien zieht und vermutlich nicht mehr ändern wird. Es ist nämlich nicht der Krieg, sondern dessen Vorbereitung, die uns bis heute im Griff hat, dessen Spitzen wir überwunden haben, aber nicht den Anfang.
Merit-Order vom basalen deskriptiven VWL-Modell zur gesetzlich festgelegten Preissetzung zu erheben, ist ohnehin keine gute Idee gewesen. Wie bei allen Ideen geht es nicht nur um die gewollte Wirkung, sondern um die tatsächliche Gesamtwirkung. Die war lange vor allem kaum relevant, aber bereits voller Fehlanreize. Auf die Eskalation ausgerechnet des Gaspreises und damit des Preises für etwas, das ich „Phasenmonopol“ taufen würde, war das Modell überhaupt nicht ausgelegt. Es ist auch untauglich, um eine Transformation ins Ziel zu bringen, denn dauerhaft kann ein Preismechanismus, der zu Grenzkosten arbeiten soll, für niemanden funktionieren. Das geht ohnehin nur solange diese täglichen Fantasiepreise die ebenso täglichen Totalverluste wieder auffüllen. Was soll das?
Einfach wird es nicht, das zu ändern. Da nichts geringeres als die Versorgungssicherheit an diesen Börsenmechanismus „delegiert“ wurde, kann man das nicht einfach abstellen. Das wird aber ohnehin lange nichts, denn momentan sind wir noch auf einer ganz anderen Ebene: Das will niemand! Im Markt gibt es zu viele, von Produzenten über Händler bis zu Versorger, die daran ihren „Spaß“ gefunden und sich bestens eingerichtet haben. In der Politik ist das nicht anders, die hat das „Ding“ als Finanzierungsquelle für Energiepolitik entdeckt.
Daher hat die EU die seit März 2022 laufende Debatte über eine sogenannte „Reform“ des Strommarkts bereits im Oktober ohne größere öffentliche Aufmerksamkeit beendet. Ergebnis: Keine Reform, obwohl man die Einigung natürlich so nennt. Merit-Order bleibt, die Preise bleiben, die Staaten werden die zur politischen Umverteilung einsetzen. Dazu demnächst mehr, denn wie so oft gibt es viel öffentliches Geschrei über Preise, parteipolitisches Geplänkel und was tatsächlich bereits Anfang Oktober in Brüssel entschieden wurde, kriegt kaum einer mit.
Das Spiel geht so weiter – mehr dazu demnächst.