Die Lethargie, mit der das neue und zudem kaum weit genug reichende „Infektionsschutzgesetz“ debattiert wird, ermuntert zu einem „kleinen“ Weckruf: Wir wissen zwar alle, dass die Daten über Ostern natürlich nur scheinbar rückläufig waren, aber die Konsequenzen scheinen doch den meisten unklar!
Das Infektionsschutzgesetz wird lediglich eine so genannte „Notbremse“ bundesweit definieren und nur einige wenige Maßnahmen daraus ableiten. Die Durchführung liegt weiter dort, wo bisher nichts passiert. Auch die Testung und damit die Feststellung der Datengrundlage für die Auslösung dieser sogenannten „Notbremse“ liegt unverändert dort. Das Gesetz ändert lediglich ein wenig an der Feststellung der Lage, die nicht mehr gänzlich jeder so sehen und interpretieren kann, wie es ihm gefällt.
Schaut man nun aber auf die Testdaten, so erkennt man, dass in der Woche nach Ostern die Testmenge abermals gesunken und die Positivquote erneut gestiegen ist. Der Sprung der Quote war immerhin nicht so hoch, wie in der Woche vor Ostern, aber die Tendenz ist dieselbe und die besagt: Wir haben weiter steigende Zahlen und begegnen dem mit weniger Tests.
Ob es an manchen Orten gar Absicht sein mag, die Zahlen zu niedrig auszuweisen? Es ist jedenfalls unverkennbar, dass genau das passiert ist: Eine Untertestung bzw. eine Ausweitung der Dunkelziffer. Das hat leider nicht nur temporär einen Einfluss, denn die im Gesetz und in den meisten Statistiken führenden 7-Tage-Werte werden durch solche Untertestungen rechnerisch natürlich noch eine ganze Weile ebenfalls nach unten gedrückt.
So hatte ich bereits in den letzten CoroNews „angekündigt“, dass wir nach Ostern Sprünge in den Tagesdaten, aber auch eine „Erholung“ der 7-Tage Werte sehen werden. Mit dem heutigen Tag springt nun aber sogar die 7-Tage-Kurve rasch nach oben und das ist mit den Testdaten sowie der Positivquote kein gutes Signal.
Im folgenden Chart versuche ich nun, die Daten der letzten Wochen etwas genauer zu untersuchen. Dazu vorab ein kurzer Exkurs, da mir zuletzt in Debatten einige Komiker unterstellten, ich betreibe hier simple Kurvendiskussionen und weise doch selbst nach, dass es sich um einen linearen Prozess handle: Ich analysiere wie oft dokumentiert selbstverständlich rein numerisch die Daten selbst. Dazu verwende ich verschiedene statistische Standardmethoden, mathematische Modelle sowie Big-Data-Verfahren, die alle ein gemeinsames Ergebnis liefern: Eine Trendanalyse, um mittels stabiler Trendmuster die aktuelle Verdopplungszeit der Pandemie zu finden. In die Charts, die von der Website der Uni Oxford erzeugt werden, zeichne ich diese Trends mit der Hand ein.
Ich möchte an der Stelle aber klar machen, dass ich nicht mit dem Lineal analysiere und nur weil ich hier in logarithmische (!!) Darstellungen gerade Linien über Wachstumstrends mit Verdopplungszeiten per Hand einzeichne, sage ich keineswegs, es handle sich um einen linearen Prozess. Diese Daten sind stets nonlinear gewesen, wie ich in einem anderen Beitrag („Die Infektionszahlen sind weder linear, noch durch Testmengen zu hoch ausgewiesen!“) nachweisen konnte und nur weil man in einer der grafischen Auflösung eines Charts mit dem Lineal vom ersten Punkt der Kurve bis zum letzten eine Linie ziehen kann, werden die auch nicht zu einer proportional wachsenden Datenmenge erklärt.
Damit endet der Exkurs und zurück zur aktuellen Lage: Die Ergebnisse der verschiedenen Analyse-Verfahren sind oft sehr ähnlich, das führte in der Vergangenheit dann meist zu sehr klar festgelegten Prognosen von mir, die meist recht gut lagen. Oft habe ich jedoch von einer „diffusen“ Lage gesprochen. Das tue ich dann, wenn diese fachlich sehr unterschiedlichen Analysemethoden zu stark streuen. Das ist nun leider wieder der Fall, weshalb ich ein wenig spekulieren muss. Leider waren auch diese Spekulationen in der Vergangenheit oft recht nah an dem kommenden Geschehen und erneut hoffe ich, dass ich mich irre …
Denn: Das sieht nicht wirklich gut aus. Das folgende Chart zeigt so etwas wie die „Konsenstrends“ der verschiedenen Analysen in der (logarithmischen!!) Feinauflösung der letzten Wochen.
Demnach hatten wir mit der Durchdringung von B117 noch unter dem Lockdown – siehe auch „Bad news – oder eine Chance zum Umdenken?“ vom 13. Februar – einen Trendwechsel zum Wachstum. Die Elimination der zweiten Welle wurde an der Stelle gestoppt und man kann nun diskutieren, ob wir in der zweiten Welle stecken geblieben sind – das wäre sogar meine favorisierte und mit Blick auf die Lockdown-Zeiten auch zutreffende Bezeichnung – oder ob da die überwiegend so genannte dritte Welle begann.
Das war der Zeitpunkt, an dem die tatsächlich mit der Analyse dieser Pandemie befasste Wissenschaft nebst so ein paar Hobby-Analysten wie ich dringend ein Umdenken forderten, um B117 und einen Dauerlockdown zu vermeiden. Bekanntlich ist das nicht gehört worden, die Fans „saisonaler“ Entwicklungen oder sonstiger ignoranter Verharmlosungsthesen haben sich durchgesetzt. So sind wir den nicht mehr funktionierenden Lockdown bis heute nicht los geworden, haben aber trotzdem weiter steigende Zahlen und inzwischen leider auch eine fast vollständige Durchdringung von B117 erleben müssen.
Bis ca. Mitte März zeigen die Daten einen relativ flachen Trend von einer Verdopplungszeit, die kurzfristige Schwankungen heraus gerechnet jenseits von 100 Tagen liegt. Das ist aber gewiss ein theoretischer Wert, denn tatsächlich hat in dieser Phase parallel die anfänglich trügerisch flache Phase des exponentiellen Wachstums und die Durchdringung von B117 statt gefunden. Wir sehen in diesen Daten mit Sicherheit nur scheinbar eine stabile Wachstumsrate (nochmals: Auch diese flache Phase ist eine Exponentialkurve!!), sie dürfte tatsächlich hingegen bereits in sehr kleinen Schritten mit anfangs niedrigen absoluten Infektionszahlen gewachsen sein. Also eine parallel wachsende Exponentialkurve mit Trippelschritten bei der Wachstumsrate, doppelt trügerisch insofern.
Das ist in der Tat die Phase des exponentiellen Prozesses, in der die meisten Fehler passieren. Die absoluten Zahlen sind scheinbar gering und das sieht nach einem proportionalen, also linearen Wachstum aus. Die ganz großen Experten hatten das bereits im letzten Spätsommer so „gelesen“. Die größte Enttäuschung war Hendrik Streeck, der die ebenfalls falsche Prognose des von Schwurblern gerne mit seinem Nobelpreis – in gänzlich anderem Fachgebiet – gefeierten Michael Levitt mit den Worten „lineare Ausbreitung“ weiter reichte und dabei sogar übersah, dass Levitt selbst sehr wohl ein Exponentialmodell vorgelegt hatte, dessen Sättigungsbereich er jedoch – irrtümlich – bereits erreicht sah. Ich hatte das unter „Streeck und die Exponentialrechnung“ kurz aufgegriffen. Leider ist das in diesen Wochen des Jahres 2021 alles wieder genau so falsch gedeutet worden – einige wollen es sogar immer noch linear sehen.
Das ist nun aber wieder Vergangenheit, denn die oben aufgelösten Trends zeigen, dass wir mit B117 unter Fortsetzung eines nicht funktionierenden, aber sehr wohl tägliche Schäden produzierenden Lockdowns dann eine Phase von 20tägiger Verdopplung hatten – bis zum österlichen Meldeeinbruch. Diese Beschleunigung ist in den klinischen Daten ebenfalls sichtbar und meine verschiedenen Modelle zeigen für diese Phase sehr ähnlich Ergebnisse. Entsprechend hatte ich mit den 20-Tagen meine Prognosen vor Ostern gerechnet – und liege damit leider vollkommen richtig.
Aber auch das ist nun Vergangenheit, die viel wichtigere Frage ist natürlich, wie das Infektionsgeschehen über die Osterferien verlaufen ist und wie es nun seit einigen Tagen tatsächlich weiter gegangen ist sowie gehen wird.
Das wird nun leider diffus. Wir haben tatsächlich bereits vor Ostern eine kurze Abflachung des Trends gesehen – mal wieder ein Ferieneffekt. Es wird leider unübersehbar, welche Rolle die Schulen im Geschehen spielen, sie sind ein nicht mehr zu leugnender Parameter in der Pandemie. Nun mündete der Rückgang des Wachstums aber in das Meldeloch, von dem sich die Zahlen bis heute nicht erholt haben. Hier liefern meine Analysen sehr unterschiedliche Ergebnisse und in dem Chart ist so etwas wie der „Konsenswert“ eingetragen, der von einer Verdopplung alle 70 Tage ausgeht.
Damit nun zur Spekulation: Die eingangs erwähnte Lethargie wird dazu führen, dass wir für mindestens vier Wochen keinen Trendwechsel mehr sehen werden – jedenfalls keinen nach unten. Dafür reagiert diese Pandemie auf unsere trägen Reaktionen leider mit zu großer Latenz. Das bedeutet: Wir werden ein Wachstum um nochmals 50% dieser Daten definitiv sehen! Mit entsprechender Verzögerung auch in den Kliniken. Das bedeutet aber die Überschreitung von 7.000 Patienten und damit die Erreichung der bundesweiten Kapazitätsgrenze, wie das folgende Chart zeigt, das ich wie immer aus der FAZ übernehme, weil hier die für Covid-19 geeigneten Kapazitäten korrekt integriert sind.
Ich muss leider sagen, dass ich diesen Wert für spätestens Mitte Mai kommen sehe und ich möchte dazu sagen: Das ist eher optimistisch. Tatsächlich erwarte ich diese Zahlen sogar früher und wenn dann nicht endlich etwas in diesem Land passiert in der Folge sogar noch höhere Werte, denn der Meldeeinbruch ist zu stark gewesen und die oben genannten Testdaten sind immer noch nicht erholt genug. Insofern ist meine nicht unbegründete Vermutung, dass ich mich bei dieser diffusen Spekulation sogar erstmals irre – leider nach unten. Sofern der hier optimistisch ermittelte 70-tägige Trend sich nämlich tatsächlich entweder bereits dem früheren 20-tägigen genähert hat oder dies bald tut, haben wir das Desaster natürlich bereits Ende April.
Ich möchte hier aber zugleich kein Signal aussenden, für das es noch keine Daten gibt, zumal das bereits tragisch genug ist: Demnach werden wir die Belastung aus der zweiten Welle überschreiten, das hatte ich vor Ostern schon so gesehen, nun aber bundesweit die Kapazitätsgrenze erreichen und damit natürlich in höchst kritische Situationen kommen: Da das Geschehen regional sehr unterschiedlich ist, muss das zur Überschreitung der Kapazitäten auch in größeren Regionen kommen. Für einzelne Krankenhäuser ist der Zustand längst erreicht, wie die DIVI-Daten ausweisen. Bisher kann das wohl noch durch Einweisung der Patienten in umliegende Häuser kompensiert werden. Aber bei einer größeren Fläche funktioniert das weder logistisch, noch lassen die schwer Erkrankten weitere Strecken zu.
Was das heißt, ist klar: Die Gesundheitsversorgung wird regional nicht mehr Stand halten. Das ist nur noch eine Frage der Zeit!
Wir sind damit in eine Lage geraten, in der wir den Ritt auf der Rasierklinge, zu dem wir uns wegen des Dogmas der Kapazitäten des Gesundheitswesens vor einem Jahr aufgemacht haben, nun sogar so weit führen, dass wir unbedingt die Breite der Rasierklinge auch noch ausprobieren werden. Von irgendwelchem Spielraum, nun Experimente welcher Art auch immer zu unternehmen, kann keine Rede sein. Gerade mit B117 wäre auf der hohen Infektionsbasis jeder noch so kleine Fehler verheerend. Jeder, aber auch wirklich jeder Puffer ist bereits aufgebraucht, wenn nicht sogar überschritten.
Diese Analyse belegt nun leider erneut, dass die Strategie von Grenzwerten welcher Art auch immer zum Scheitern verurteilt ist. Es ist angesichts der Folgen, die eine Intensivbehandlung nach sich zieht – lange Qual mit dem Ergebnis Tod oder LongCovid – ohnehin unerträglich, wie diese Zahlen bewertet werden, wie in öffentlichen Kommentaren geradezu das Ziel geäußert wird, man müsse diese Kapazitäten „nutzen“. Als handle es sich um Anlagen zum Schuhe putzen, die mit Steuergeldern finanziert nun endlich mal ihren ROI zu bringen haben.
Es zeigt sich vielmehr, dass jeder wie auch immer gesetzte Grenzwert eine rein hypothetische Wunschvorstellung ist. Es spielt keinerlei Rolle, ob man solche Werte aus der Anzahl irgendwelcher Betten, aus der Wunschvorstellung irgendwelcher Leistungswerte der Gesundheitsämter oder mit dem Würfel ermittelt: Ein exponentieller Prozess lässt sich nicht begrenzen. Es ist eine digitale Entscheidung, ihn zu stoppen oder laufen zu lassen. Das ist leider auch mit Blick auf viele Gerichtsurteile kommunikativ komplett falsch gelaufen.
Die Gefahr dieses Prozesses ist nicht die absolute Zahl, sondern seine Geschwindigkeit. Daher hätte vom ersten Tag die Reproduktionsrate oder analog die von mir genutzte Darstellung der Verdopplungszeiten genutzt werden müssen, um Risiken zu definieren und Gegenmaßnahmen zu begründen. Das führt zu wesentlich früheren, kürzeren und funktionierenden Strategien, die wir in Ost-Asien und Ozeanien sehen oder die bei uns unter NoCovid von der Wissenschaft vorgelegt wurden, denn die Reproduktionsrate springt bereits in der exponentiellen Aufbauphase an, die immer noch so viele Deppen (sorry) als „flach“ und „harmlos“ und „warten wir mal ab“ ansehen. Das ist aber die Phase, in der unsere Maßnahmen noch ganz gut greifen, danach laufen wir nur noch hinterher.
So müssen wir leider erkennen, dass der Mai 2021 nicht dem Mai 2020 ähneln wird. Es ist unverzeihlich, dass wir in einer Situation ohne Erfahrungswerte und mit wenig Wissen im März 2020 deutlich besser reagiert haben als ein Jahr später. Wenn wir den Willen zu NoCovid nicht aufbauen, werden wir aus diesem Ritt auf der Rasierklinge erst über die Impfungen herauskommen – und das wird Spätsommer oder sogar Herbst. Saisonale Effekte werden auch bei B117 kommen und mildern, sie genügen aber nicht, um aus diesen Zahlen heraus zu kommen. Sofern wir weiter von Grenzwerten träumen, geht dieser On/Off-Kurs noch über Monate weiter.
Diese Erkenntnis ist sehr bitter, wenn man parallel dazu die öffentliche Debatte betrachtet, so wie gestern die Diskussion über die Testpflicht für Arbeitgeber („Die Debatte über die Testpflicht für Arbeitgeber zeigt die ganze Misere!“) oder der Aufschrei aufgrund eines deplatzierten „offenen Briefs“ von Aerosolforschern mit dem darauf folgenden medialen Geläut („Wenn Wissenschaftslobbyismus und Medienversagen zusammen kommen, bleibt das Wissen endgültig auf der Strecke“). Immerhin hat der Spiegel damit heute ein wenig aufgeräumt („Und sie wirken doch“). Gemeint sind die Ausgangssperren, das leider ultimative Mittel, Kontakte zu reduzieren, was die Aerosolforscher nun mal auf die Frage „innen“ versus „draußen“ reduzieren wollten.
Niemand kann sich Ausgangssperren wünschen. Niemand kann sich wünschen, dass wir in Deutschland doch noch die Wirtschaft wirklich runter fahren müssen. Niemand kann sich ständig öffnende und wieder schließende Schulen wünschen. Jeder will im Sommer die grundsätzlich mögliche Außengastronomie genießen. Wir alle wollen im Sommer gerne reisen, andere Gegenden besuchen, mal raus kommen.
Das alles wird immer enger und eingeschränkter, je länger wir dieser Entwicklung hinterher laufen. Ich fürchte sehr, dass die Intelligenz nicht plötzlich doch noch ganz schnell vom Himmel fällt, die Diskussionen über diese Aerosolforscher oder die Testpflicht für Arbeitgeber machen sehr pessimistisch.
Das Land hat nicht begriffen, wo es tatsächlich steht. Das wird kein entspannter Sommer!